Never can say goodbye

Stewart O'Nan nimmt "Abschied von Chautauqua"

Von Petra PortoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Petra Porto

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist niemals leicht, Abschied zu nehmen. Von einem geliebten Menschen, dessen Tod eine Lücke im eigenen Leben hinterlässt. Von einem Traum, der sich letztendlich als unerfüllbar erwiesen hat. Von der Vorstellung eines anderen Menschen, die das Leben so viel einfacher und berechenbarer erscheinen lässt. Von der Kindheit mit ihrem Gefühl der Unbesiegbarkeit und Unfehlbarkeit. Von der Jugend mit ihren Möglichkeiten.

Um diesen Abschied möglichst lange herauszögern, haben Menschen ganz verschiedene Taktiken entwickelt. Einige heben Erbstücke auf, nehmen sie in die Hand, drehen sie in den Fingern und versuchen sich zu erinnern, wie der nun Fehlende sie angefasst hat - sie suchen nach seinem Geruch in den Polstern, ein angestoßenes Glas liegt ihnen am Herzen, und es gelingt ihnen nicht einmal, die übriggebliebenen Bierflaschen aus dem Keller zu entsorgen. Einige setzen sich zur Wehr, sie verfolgen ihre Vision selbst dann, wenn sie wissen, dass sie sie nie verwirklichen können. Einige weigern sich zu sehen, was ihren Vorstellungen nicht entspricht, weil stumme Schuldzuweisungen das Leben strukturieren können. Andere versuchen, die Entwicklungen aufzuhalten, sie weigern sich, weiterzugehen und halten fest an dem, was gewesen ist. Wieder andere geben auf und lassen sich treiben.

"Abschied von Chautauqua" ist ein Roman über all diese Abschiede und die Arten, mit ihnen fertig zu werden. Es ist ein Roman über eine Familie: Mutter, Tante, Tochter, Sohn, Schwiegertochter und Enkelkinder. Über die Strukturen, die eine Gruppe aufrecht erhalten. Über einen Sommer, dessen Ende von allen herbeigesehnt und gleichzeitig gefürchtet wird. Und vielleicht auch über Chautauqua, seinen beunruhigenden Fortschritt und zugleich seine beruhigende Stagnation.

Chautauqua ist ein Ferienzentrum im Staat New York. Seit Jahren fährt die Familie Maxwell dorthin, um am See ihren Urlaub zu verbringen. Die im Roman beschriebene Ferienwoche ist wie jede andere in jedem anderen Jahr. Auf Regen folgt Sonne, auf Sonne erneut Regen. Es haben sich feste Rituale gebildet, jeder kennt seine Rolle - die Querulantin, die Nörglerin, der Weiche, die Vernünftige usw. - und jeder ist bereit, sie erneut zu spielen. Die Tage ziehen an dem Leser und der Familie vorbei. Man macht Ausflüge, man liest, man unterhält sich - eine fast bedrückende Gleichförmigkeit, die allerdings auch wohltuenden Schutz bedeutet: "Vermutlich kamen sie deshalb jedes Jahr her, wegen dieses Gefühls von Ewigkeit und von Zuflucht."

Stewart O'Nan gelingt es, eine fast unangenehme Nähe zu den Figuren herzustellen - der Leser teilt ihre Sorgen und Ängste, wohnt ihren intimsten Momenten bei und begleitet sie sogar auf die Toilette. Dennoch stellt sich merkwürdigerweise kaum jemals ein Gefühl des Aufdrängens ein. Vielmehr hat man den Eindruck, selbst Teil der Familie zu sein - vielleicht, weil die Familienstrukturen so typisch sind. Weil man eben jene Gespräche und Vorwürfe kennt. Weil man sich ebenso vernachlässigt vorkam, ebenso hasste, ebenso liebte. Weil man das Gefühl teilt, anderen Personen nicht nahe genug zu sein: "Es gab keine Zauberworte, die sie einander näher brachten, keine spontanen offenen Aussprachen. [...] Es kam ihr vor wie eine verpasste Gelegenheit, aber schon vor so langer Zeit und so dauerhaft verpasst, dass sich Lise fragte, warum es sie gerade jetzt störte."

Vielleicht liegt die Nähe zu den Charakteren aber auch darin begründet, dass die Perspektive beständig zwischen den Figuren hin- und herwechselt, sodass ein fast objektives Bild entsteht. Die Beschreibungen korrigieren sich dabei gegenseitig, jede Sichtweise wird gestützt, erklärt, bestätigt - um im gleichen Moment aufgehoben, ergänzt und umgedreht zu werden. Besonders zu Beginn des Buchs sind diese Korrekturen gelegentlich beinahe erschreckend. O'Nan vermag es, den Leser so an den Seelenvorgängen der Figuren teilnehmen zu lassen, dass man sich sofort identifiziert, so dass alle Handlungen nachvollziehbar und 'richtig' erscheinen. Die nächste Perspektive rückt Informationen allerdings in ein neues Licht, wodurch Identifikationen unterbrochen werden. Dies führt jedoch nicht dazu, dass der Leser sich von der Familie entfernt - im Gegenteil, je mehr Hinweise ihm gegeben werden, um so näher erscheinen die Figuren. Möglicherweise liegt das an der Art und Weise der Beschreibung: Es ist die große Stärke des Faulkner-Preis-Gewinners, dass O'Nan für jede seiner Figuren den richtigen Ton trifft. Jeder hat seine eigene, authentisch wirkende Stimme, es gibt keine flachen Charaktere. Niemals werden die Figuren 'verraten', niemals wird die eine auf Kosten einer anderen aufgewertet.

Ebenso wie in "Engel im Schnee" oder "Halloween" gelten den Teenagern dabei anscheinend O'Nans besondere Sympathien. Ihre Probleme sind nicht minder wichtig als die der Älteren, die Seelenqualen, die die Kinder durchleiden, weil sie glauben, die Eltern enttäuscht zu haben, wiegen nicht weniger schwer als die der Erwachsenen, die glauben, ihren Kindern nicht genügend Perspektiven eröffnet zu haben.

Und: O'Nan lässt sich Zeit. Zeit für Beschreibungen von scheinbaren Nichtigkeiten, Zeit für Gedankengänge, Zeit für kleine Gesten. Es geht ihm offensichtlich nicht um einen herkömmlichen Spannungsbogen: Der Roman besteht aus einer Aneinanderreihung von Beobachtungen und Begebenheiten, es existiert kein zusammenfassbarer Plot. Stattdessen verlässt O'Nan sich auf die Stärke seiner Figuren und darauf, dass ihre Konflikte, ihre Art des Familienarrangements und des Verarbeitens von Emotionen den Roman tragen.

Der Leser tritt in das Leben der Familie Maxwell, begleitet sie ein Stück ihres Lebens und verlässt sie dann wieder - auch ihm fällt der Abschied von Chautauqua dabei denkbar schwer.


Titelbild

Stewart O'Nan: Abschied von Chautauqua.
Übersetzt aus dem Englischen von Thomas Gunkel.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
700 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3498050346

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