Der andere Psychoanalytiker

Deirdre Bairs biografische Studie über C. G. Jung

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Kirche ohne Ketzer, keine Partei ohne Dissidenten, keine Ideologie ohne Revisionismus, selbst keine wissenschaftliche Doktrin ohne Abtrünnige. Mit diesem offenbar unvermeidlichen Leiden scheint die Psychoanalyse seit ihren Anfängen besonders geschlagen. Sigmund Freud, der als Charakter wie als Wissenschafter eindrucksvolle, aber auch strenge, in Bezug auf die Reinheit seiner Lehre keinen Spaß verstehende Übervater der Psychoanalyse, musste nur allzu bald hinnehmen, dass die Renegaten besonders gerne unter seinen Jüngern gediehen. Die Bestätigung seiner ödipalen Hypothesen, indem die Söhne der psychoanalytischen Urhorde den symbolischen Vatermord gleich scharenweise begingen und sich im Clan der Brüder auch untereinander vehement befehdeten, hat ihn nur bedingt trösten können. Vielleicht hätte er in diesem Punkt einmal gerne etwas weniger Recht gehabt.

Der Bruch zwischen Freud und C. G. Jung, dem jetzt auch die Jung-Biografie von Deirdre Bair das nötige Gewicht gibt, war unter allen diesen Sezessionen die tiefste und heftigste. Jung war als Wissenschafter und Mitarbeiter einer hochangesehenen psychiatrischen Institution, des Zürcher "Burghölzli", schon vor seiner Beziehung zu Freud mit eigenen Assoziationsstudien hervorgetreten. Sie stellten die Lehre vom Unbewussten auf eine wissenschaftlich-empirische Grundlage, wonach der Wissenschaftspositivist Freud am meisten verlangte. Auch Jung beharrte trotz seiner Neigung zur Spekulation stets auf seinen empirischen Grundlagen. Als Schweizer versprach er, die Psychoanalyse vom "Wiener Schmäh" zu befreien und zu einer internationalen Bewegung zu machen. Noch wichtiger für den Juden Freud: Jung verhieß die Befreiung der Psychoanalyse von ihrer jüdischen Herkunft. Und da er auch noch eine durchsetzungsfähige, dominante Persönlichkeit war und zu repräsentieren verstand, avancierte Jung zum designierten Kronprinzen der Psychoanalyse. Während man Freud auf dem Weimarer Kongress der Psychoanalyse von 1911 noch auf ein Kistenpodest stellen musste, damit seine Größe sinnfällig wurde, hatte Jung schon von Natur, Statur und Herkunft dieses Format.

Doch mit der ihm zugedachten und anfangs auch gerne wahrgenommenen Nachfolgerrolle wurde es nichts. Jung äußerte zunehmende Bedenken gegen den sexuellen Monismus der Freud'schen Trieb- und Neurosenlehre, nach Freuds Einschätzung das "Schibboleth" der Psychoanalyse. Ein vom Temperament und von den weltanschaulichen Grundpositionen her anderes Wissenschaftsverständnis verschärfte trotz der gemeinsamen Berufung auf die Empirie die Fronten. Freuds Rationalismus, Materialismus und Positivismus standen Jungs Irrationalismus und Neoidealismus entgegen. Wo Jung gerne untertauchte, ja in einer risikoreichen, fast in die Psychose führenden Reise nach innen sich den Abgründen seines "Selbst" überließ, behielt Freud lieber den Kopf oben. Zwei Autokraten trafen aufeinander, wobei Jung Freud nicht einmal mehr die Lesart eines Vater-Sohn-Konflikts gönnen mochte. Man trennte sich mit Schärfe, auf Seiten Freuds mit Bitternis und tiefer Gekränktheit, ohne auch nur in der Deutung des Bruchs noch auf gemeinsamem Boden zu stehen.

Die Psychoanalyse hat sich von dieser fatalsten Sezession ihrer Geschichte nie erholt. Die Kontrahenten entwickelten sich immer mehr auseinander, zumal auf den Gebieten, wo Berührungspunkte gegeben gewesen wären: in der Mythen- und Religionsforschung. Dass Freud zur kritischen Korrektur durchaus im Stande war, wenn er sie nur selbst vornehmen konnte wie bei der Revision seiner pansexualistischen Trieblehre oder seines Modells des "seelischen Apparats", konnte den Bruch ebenso wenig verhindern wie die Tatsache, dass Jungs "komplexe Psychologie" von etlichen Momenten der Freud'schen Lehre vom Unbewussten gar nicht so weit entfernt war. Vollends desaströs wurde die Konstellation, als Jung in der Vor- und Frühgeschichte des "Dritten Reichs" mit seiner Unterscheidung eines "arischen" und eines "jüdischen Unbewussten" auf Seiten der Täter angekommen schien, während Freud ihnen mit knapper Not entkam. Mit bitterster Ironie hatte er den abtrünnigen arisch-christlichen Jung-Siegfried schon beizeiten des Antisemitismus verdächtigt.

In der Folge grassierte das "Lager"-Denken. "Hie Freud, hie Jung" scheint auch heute noch die Devise. Davon ist auch die auf das Gründlichste recherchierte Biografie von Deirdre Bair mit ihren 1.166 Seiten und über dreitausend Anmerkungen (vorsichtig geschätzt) nicht frei. Im Konflikt Freud-Jung ist sie durchweg auf Jungs Seite. An Freud lässt sie auch charakterologisch kaum ein gutes Haar. Warum er nicht nur gehasst, sondern auch geliebt und verehrt wurde, muss aus dieser Sicht ein Rätsel bleiben. Als Versöhnungsangebot zwischen den Lagern kann die Biografie nicht dienen. Trotzdem ist Bair, die mit Biografien zu so unterschiedlichen Gestalten wie Simone de Beauvoir und Samuel Beckett reüssiert hat, ein nicht nur minuziöses, sondern auch differenziertes, bei aller Detailversessenheit und einer unsäglichen, stilistisch wie dokumentarisch problematischen Neigung zu ausufernder indirekter Rede spannend zu lesendes Porträt ihres öfters unheldischen Helden gelungen. Bedauerlich nur, dass neben dem Leben die Werke zu kurz kommen. Auch die methodische und sachliche Bedeutung von Lebensepisoden - etwa die der zu freundlich geratenen Spielrein-Episode Jungs für die Theorie der Übertragung und Gegenübertragung - wird nicht immer erkannt.

Dafür wird Jung als Charakter plastisch vergegenwärtigt: dieser "Trumm" von einem kraftstotzenden Mann, dröhnend sein Lachen, in den meisten seiner Äusserungen undiplomatisch geradeheraus, wenn ihn nicht sein politisches Lavieren zur Anpassung verführte - die buchstäbliche Inkarnation seiner Lehre von der "Individuation" als unverwechselbarer Selbstwerdung und Integration der gemeinhin exkommunizierten, dezidiert "anderen", manchmal ekligen und bösen Anteile, ein Mann mit viel Licht und Schatten.

Sein gut entwickeltes Triebleben mit der "ménage à trois" zwischen ihm, seiner disziplinierten Frau Emma und der Geliebten Toni Wolff kommt nicht zu kurz. Das heikelste Kapitel, das psychopolitische, mit Jungs Appeasement an die NS-Psychoanalyse in seiner Rolle als Präsident der "Internationalen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie" und Herausgeber ihres "Zentralblattes" wird keineswegs unter den Teppich gekehrt. Allerdings reduziert Bair Jungs Verhalten meistens auf eine gewisse Naivität, Ungeschicklichkeit und Kontextblindheit, auch dort, wo substanzielle Affinitäten bestanden, auf die bereits im Frühjahr 1934 Gustav Ballys Kritik in der "Neuen Zürcher Zeitung" hingewiesen hat. Bally vermerkte den Rassismus in Jungs Unterscheidung einer jüdischen von einer germanischen Psychoanalyse. Und wer wie Jung Hitler als den von dem "Ergreifer"-Gott Wotan "Ergriffenen" sah, war wohl selbst etwas "ergriffen". Nicht wegzudiskutieren sind zwei unerhörte Dokumente: In einem Vorkriegsinterview wird Russland Hitler, um ihn abzulenken, zum Fraß vorgeworfen. Nach dem Krieg plädiert Jung mit Nachdruck dafür, dass das unter Hitler "in die Vernichtung zur führende deutsche Volk" unter keinen Umständen vereint bestehen bleiben dürfe.

Ein Lesevergnügen hingegen wird die Biografie da, wo sie mit Witz, Ironie und tieferer Bedeutung in einer Art von indirektem Selbstporträt die Druckgeschichte von Jungs "Erinnerungen, Träumen, Gedanken" erzählt. Da beschreibt Bair höchst instruktiv, wie das von Jungs Familie und zunächst auch von seiner letzten Sekretärin und Co-Autorin Aniela Jaffé favorisierte hagiografische und verbürgerlichte, gleichsam "tantifizierte" Missverständnis der Gattung "Biografie" zu einer Nicht-Autobiografie zu führen drohte, während sie mit Jung eine "nicht tantifizierte" Biografie erzählt - unter anderem die eines gefährdeten jungen Mannes, der die familiäre Erbschaft an Neurose, ja, Psychose beim Namen nennt und Gott in seinem blasphemischsten Traum durchaus keinen guten Mann sein lässt, sondern einen solchen, der buchstäblich von seinem himmlischen Thron auf seine Kirche "scheißt", statt nur, wie es die bereinigte Lesart wollte, ein "ungeheures Exkrement" auf das Basler Münster fallen zu lassen.


Titelbild

Deirdre Bair: C. G. Jung. Eine Biographie.
Knaus Verlag, München 2005.
1165 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3813502422

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