Das Rätsel Freud

Bruchstücke zu einer Biografie: Die Affäre der Psychoanalyse mit dem Kokain

Von Martin StingelinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Stingelin

Zwischen 1884 und 1887 suchte Sigmund Freud sein Forscherglück im Kokain, das er seiner Verlobten Martha Bernays gegenüber enthusiastisch als therapeutisches "Zaubermittel" bezeichnete. Beinahe dreihundert - mittlerweile entdeckte, aber größtenteils noch immer unzugängliche - Braut(werbungs)briefe Freuds dokumentieren seine überraschenden Strategien im Umgang mit diesem Alkaloid: Wie später bei seiner "Selbstanalyse" stand die Selbstbeobachtung im Vordergrund.

Selbstbeobachtung und Selbstanalyse

Als Reaktion auf den Tod seines Vaters am 23. Oktober 1896, für den er, zu seiner eigenen Bestürzung, keine ungeteilte Trauer zu empfinden vermochte, hat Sigmund Freud die Selbstanalyse seiner Person zum Grund- und Prüfstein der Psychoanalyse gemacht. Im Sommer 1897, einundvierzigjährig, unterwarf er sich wie seine Patientinnen und Patienten täglich der analytischen Grundregel, seinen Einfällen und Erinnerungen in freier Assoziation ihren Lauf zu lassen, um sie durch die Überwindung der Widerstände, die ihnen in Form der Verdrängung im Weg standen, zu ihren unbewussten Quellen zurückverfolgen und diese erschließen zu können.

Freuds Einfälle, Erinnerungen und "'Hintergedanken'" knüpften sich an seine schriftlich festgehaltenen Träume; ihre Deutung war der wichtigste Schlüssel zum eigenen Unbewussten, aus ihnen schöpfte er gleichzeitig "ein reichliches und bequemes Material" für sein Buch über "Die Traumdeutung" (1899, nachdatiert, zur Eröffnung eines neuen Jahrhunderts, auf 1900). Um dem Einwand zu entgehen, Träume von Neuropathen ließen keine Rückschlüsse auf die Träume gesunder Menschen zu, verzichtete Freud weitgehend auf die Krankengeschichten der von ihm behandelten Neurotiker. Da aber die wenigsten Personen außerhalb seiner Praxis darin geübt waren, die Selbstzensur als "Wache von den Toren des Verstandes" zurückzuziehen (wie Freud Friedrich Schiller zitiert) und sich in den Zustand der kritiklosen Selbstbeobachtung zu versetzen, sah er sich auf die eigenen Träume als Material angewiesen, "das von einer ungefähr normalen Person herrührt und sich auf mannigfache Anlässe des täglichen Lebens bezieht", also auf diejenigen Lebensumstände, die ihm am wenigsten fremd waren.

Auf diesem Weg wurde Freud zum wichtigsten und zuverlässigsten Gewährsmann seiner Theorie, dass jeder Traum eine Wunscherfüllung sei, ohne erkennen zu wollen oder zu müssen, dass die eigenen Träume die Wunscherfüllung seiner Theorie waren. Während seine Patientinnen und Patienten, verstrickt in das komplizierte Beziehungsgeflecht von Übertragung und Gegenübertragung, Gegenwunschträume träumten, die ihren Psychoanalytiker widerlegen sollten (und gerade in diesem Impuls Gefangene seiner Deutung blieben), träumte Freud Selbstgefälligkeitsträume zur Bestätigung seiner Theorie, etwa von seinem Lehrer Ernst Brücke, an dessen Physiologischem Institut in Wien Freud während seiner Ausbildung zum Arzt arbeitete: "Der alte Brücke muß mir irgend eine Arbeit gestellt haben; sonderbar genug bezieht sie sich auf Präparation meines eigenen Untergestells, Becken und Beine, das ich vor mir sehe wie im Seziersaal, doch ohne den Mangel am Körper zu spüren, auch ohne Spur von Grauen." Freud deutete die "Präparation am eigenen Leib, die mir im Traume aufgetragen wird", kurzerhand als "die mit der Mitteilung der Träume verbundene Selbstanalyse". In Freuds Terminologie: Latenter Traumgedanke, der sich hinter dem manifesten Trauminhalt verbirgt, ist die Traumdeutung; die Traumarbeit steht ganz im Dienst der Traumtheorie. Im Klartext: Die Psychoanalyse war nicht nur Freuds kühnster Wunsch, er hat sie sich gleichzeitig träumen lassen.

Das Rätsel Freud

So gelesen, erweist sich "die mit der Mitteilung der Träume verbundene Selbstanalyse" als Autobiografie mit fiktivem Vorbehalt - Freud erträumt und erschreibt sich seine eigene, der psychoanalytischen Theorie entsprechende Biografie -, ihre Selbstironie enthüllt sich als Strategie der Selbstverhüllung, die zur Schau gestellte Selbstbescheidenheit als nackter Heroismus: "Man kann sich's nicht verbergen, daß schwere Selbstüberwindung dazugehört, seine Träume zu deuten und mitzuteilen. Man muß sich als den einzigen Bösewicht enthüllen unter all den Edlen, mit denen man das Leben teilt."

Der Entstehungsherd von Sigmund Freuds psychoanalytischer Theorie ist "Autobiographie als Maskenspiel" (Paul de Man). Die Entstehungsgeschichte der Psychoanalyse und die persönliche Geschichte ihres Gründervaters bilden ein Spiegelkabinett sich gegenseitig brechender und vervielfältigender Reflexionen, in das Freud das Medusenheer seiner "ungebetenen Biographen" durch den Hinweis gelockt hat, dass beide "in die innigste Verbindung zueinander" treten. Durch die Aufforderung, bis zur Erstarrung nur eines der beiden Bilder zu fixieren, setzte er es darin gefangen: "People should interest themselves in psychoanalysis, and not in my person", gebot er einem amerikanischen Lehranalysanden. Gleichzeitig entzog er seinem Biografen mit der notwendigen Materialbasis die Möglichkeit, den Grundriss dieses labyrinthischen Spiegelkabinetts zu studieren. Dreimal in seinem Leben hat Freud im Hinblick auf diese "Reihe von noch nicht geborenen, aber zum Unglück geborenen Leuten" große Teile seiner Aufzeichnungen, seiner Briefe, seiner wissenschaftlichen Exzerpte und seiner Manuskripte verbrannt, zum ersten Mal 1885: "ich hatte viel zusammengeschrieben", unterrichtete er seine Verlobte Martha Bernays am 28. April über das Autodafé seiner verräterischen Papiere, mit dem er sich selbst verrätselte, indem er sie von sich abwarf wie einen Schleier, der zu tief blicken ließ:

"Aber das Zeug legt sich um einen herum wie der Flugsand um die Sphinx, bald wären nur mehr Nasenlöcher aus dem vielen Papier herausgeragt; ich kann nicht reifen und nicht sterben ohne die Sorge, wer mir in die alten Papiere kommt. Überdies alles, was hinter dem großen Einschnitt in meinem Leben zu liegen fällt, hinter unserer Liebe und meiner Berufswahl, ist lang tot und soll ihm ein ehrliches Begräbnis nicht vorenthalten sein. Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen's ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die 'Entwicklung des Helden' recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden."

Die Öffentlichkeit hatte in Freuds Augen nicht das Recht, sich neben seinen Beziehungen zur Wissenschaft auch für "meine persönlichen Verhältnisse, meine Kämpfe, Enttäuschungen und Erfolge" zu interessieren. Deshalb entwickelte er eine Doppelstrategie der Selbstimmunisierung: Die radikale Subjektivität ihres Ausgangspunkts machte Freuds Theorie zu einem esoterischen, ihrem Gründer vorbehaltenen Wissen, während sie sich durch jede als "Widerstand" entlarvte Kritik bestätigt und bestärkt sah.

Auch Freuds "Selbstdarstellung" von 1925 ist durch diese Doppelstrategie der Selbstimmunisierung geprägt. Sie schildert, wie er sich in der mehr als zehn Jahre währenden "splendid isolation", in die er durch das vermeintlich Anstößige seiner verdrängten Entdeckungen geraten war, die kein etablierter Facharzt mit ihm teilen wollte, durch die Überwindung einer Reihe von "Irrtümern" den unveräußerlichen Besitz seines psychoanalytischen Wissens erwarb: Mit dem Verzicht auf die Hypnose, die durch die technische Neuerung der freien Assoziation ersetzt wurde (die sich in Wirklichkeit als unfrei erwies, da sich darin das Unbewusste verriet), wandelte er das gemeinsam mit Josef Breuer erprobte kathartische Verfahren zur Behandlung von Hysterikerinnen in die Psychoanalyse um; die Widerstände seiner Patientinnen und Patienten führten ihn zur Theorie der Verdrängung von Erlebnissen und Konflikten während der Zeit infantiler Sexualität; als Kern jedes Falles von Neurose schälte sich der so genannte Ödipuskomplex heraus, der in den heftigen Gefühlen für den Analytiker, der so genannten Übertragung wieder auflebte.

Freuds Versäumnis

In dieser "Selbstdarstellung" sprengt Freud an einer Stelle scheinbar unmotiviert den Rahmen strenger Chronologie und erzählt beiläufig die von ihm selbst als "Episode" bezeichnete Affäre mit dem Kokain:

"Im Herbst 1886 ließ ich mich in Wien als Arzt nieder und heiratete das Mädchen, das seit länger als vier Jahren in einer fernen Stadt auf mich gewartet hatte. Ich kann hier rückgreifend erzählen, daß es die Schuld meiner Braut war, wenn ich nicht schon in jungen Jahren berühmt geworden bin. Ein abseitiges, aber tiefgehendes Interesse hatte mich 1884 veranlaßt, mir das damals wenig bekannte Alkaloid Kokain von Merck kommen zu lassen und dessen physiologische Wirkungen zu studieren. Mitten in dieser Arbeit eröffnete sich mir die Aussicht einer Reise, um meine Verlobte wiederzusehen, von der ich zwei Jahre getrennt gewesen war. Ich schloß die Untersuchung über das Kokain rasch ab und nahm in meine Publikation die Vorhersage auf, daß sich bald weitere Verwendungen des Mittels ergeben würden. Meinem Freunde, dem Augenarzt L. Königstein, legte ich aber nahe zu prüfen, inwieweit sich die anästhesierenden Eigenschaften des Kokains am kranken Auge verwerten ließen. Als ich vom Urlaub zurückkam, fand ich, daß nicht er, sondern ein anderer Freund, Carl Koller (jetzt in New York), dem ich auch vom Kokain erzählt, die entscheidenden Versuche am Tierauge angestellt und sie auf dem Ophtalmologenkongreß zu Heidelberg demonstriert hatte. Koller gilt darum mit Recht als der Entdecker der Lokalanästhesie durch Kokain, die für die kleine Chirurgie so wichtig geworden ist; ich aber habe die damalige Störung meiner Braut nicht nachgetragen."

Freuds Darstellung entspricht in zwei wesentlichen Punkten nicht der Wahrheit: Tatsächlich war er am 18. Juni 1884, als er das Druckmanuskript seiner Studie "Ueber Coca" beendete, nicht zwei Jahre, sondern gerade ein Jahr von seiner Verlobten Martha Bernays getrennt, die am 14. Juni 1883 nach Wandsbek verreist war. Und von der Möglichkeit, sie zu besuchen, wurde Freud nicht überrascht, wie die Passage suggeriert; sie stand schon bei der Trennung fest, war auf Ende August 1884 vorgesehen und verzögerte sich schließlich bis September. Freud hatte also wenigstens fünf Wochen Zeit, seine Forschungen trotz der Arbeit am Allgemeinen Krankenhaus, die ihn wegen der unvorhergesehenen Abwesenheit einiger Kollegen sehr in Anspruch nahm, zu vertiefen (was er tatsächlich tat).

Nicht die Zeitnot war der Grund für Freuds Versäumnis. Freud, zu dieser Zeit Sekundararzt am Allgemeinen Krankenhaus, hatte bei seinem Versuch, sich durch das Kokain einen Namen zu machen und dadurch die finanziellen Hindernisse auszuräumen, die seiner Heirat mit Martha Bernays im Weg standen, zwei andere therapeutische Anwendungen des Kokains im Auge, die seinen Blick von denjenigen, "die auf der anaesthesirenden Eigenschaft des Cocaïns beruhen", ablenkten. In seiner aufsehenerregenden Studie "Ueber Coca", die am 1. Juli 1884 in Heitlers "Centralblatt für die gesammte Therapie" erschien, empfahl er Kokain nicht nur bei Kräfteverfall (nach Blutverlust, langandauernden fieberhaften Erkrankungen etc.), gegen Störungen der Magenverdauung, gegen Asthma und als Aphrodisiakum, sondern vor allem als Stimulans, insbesondere gegen Hysterie, Hypochondrie, melancholische Hemmung, Stupor und Neurasthenie (unter der Freud selbst zu leiden glaubte), und als Drogenersatz, Linderungsmittel und Gegengift in der Alkohol-, Opium- und Morphiumentziehungskur.

Insofern ist auch die aufwendige Interpretation von Horst Gundlach und Alexandre Métraux hinfällig, die in Freuds viel umstrittener Selbstdarstellung der Kokainepisode eine ironische Wendung gegen die Prioritätsansprüche von Carl Ludwig Schleich gegenüber Carl Koller erkennen wollten, welche die chronologische Rückblende signalisieren soll. Diese Deutung wird widerlegt durch einen langen Brief, den Freud am 2. November 1934 an Josef Meller schrieb, als Reaktion auf Mellers in der "Wiener Klinischen Wochenschrift" publizierten Vortrag zum fünfzigsten Jahrestag von Kollers Entdeckung. Freud nimmt in diesem Brief die Gelegenheit wahr, "ein Stückchen Geschichte durch die Mittheilung an Sie authentisch festzulegen", und wiederholt ohne Ironie nach zehn Jahren dieselben Argumente.

Die Goldmine

Freuds Brief an Meller ist vom holländischen Soziologen Han Israëls - der sich seit Jahren durch aufwendige Recherchen um eine quellenkritisch an Dokumenten nachprüfbare Geschichte der psychoanalytischen Bewegung bemüht - im Freud-Museum entdeckt worden. Dies ist nur eine von zahlreichen aufregenden Entdeckungen, die Israëls in seinem Buch "Der Fall Freud" publiziert hat.

Im Büro jener Agentur, welche die Rechte an Freuds Werk verwaltet, "Sigmund Freud Copyrights" im ostenglischen Wivenhoe, ist Israëls auf die Abschriften von beinahe dreihundert bislang zum größten Teil unbekannten Brautbriefen der Zeit von Ende 1883 bis 1886 gestoßen. Diese Abschriften entstanden offensichtlich als Vorarbeit zur Auswahl der "Briefe 1873-1939", die Freuds jüngster Sohn Ernst zusammen mit seiner Frau Lucie 1960 herausgegeben hat und die gerade 93 der etwa 1.500 Briefe umfasst, die Freud seit der Verlobung im Juni 1882 bis zur Hochzeit im September 1886 an Martha Bernays geschrieben hat. Lucie Freud hat möglicherweise auch die Transkriptionen von Wivenhoe angefertigt, auf die sich Israëls bei seiner Rekonstruktion der psychoanalytischen Frühgeschichte stützen muss, da die Originale in der Library of Congress, Washington, voraussichtlich bis weit in unser drittes Jahrtausend der Öffentlichkeit nicht und der Forschung nur sehr bedingt zugänglich sein werden.

Im Vergleich mit den publizierten Brautbriefen erweisen sich diese Transkriptionen aber als vollständiger und korrekter, soweit dies ohne Autopsie allein durch Quellenkritik erschließbar ist. Ein erstes Beispiel mag dies belegen. Am 16. Januar 1885 berichtete Freud seiner Verlobten, wie er beim Mediziner Hermann Nothnagel erfolgreich um die Unterstützung seiner Ernennung zum Privatdozenten warb, nach der von Ernst und Lucie Freud herausgegebenen Auswahl unter anderem mit dem Argument: "'Es handelt sich darum, Kurse, die ich unrechtmäßig lese, zu legitimieren. Ich lese zwar nur für Engländer in englischer Sprache, aber die drängen sich dazu.'" Tatsächlich steht in der entsprechenden Transkription, die Israëls in Wivenhoe entdeckt hat, die Wendung: "Ich lese zwar für ein Publikum, das nicht sehr urtheilsfähig ist, für Engländer..."; sie ist durchgestrichen und ersetzt durch: "Ich lese zwar nur für Engländer...". Es ist bei der Grobheit dieses Eingriffs unwahrscheinlich, dass es sich um die Korrektur eines Transkriptionsfehlers handelt; eher erklärt sich diese Milderung durch Ernst Freuds Rücksicht auf die Engländer, die seinem Vater 1938 Exil gewährt haben (Ernst Freud lebte selbst in England).

Auch Freuds Affäre mit dem Kokain gewinnt durch Han Israëls' Entdeckung der Transkriptionen in Wivenhoe eine schärfere Kontur. Der zur Hagiografie neigende Freud-Vertraute und Biograf Ernest Jones, der als einziger bislang unbeschränkten Zugang zu den Brautbriefen hatte, bezeichnete diese 1952 gegenüber Siegfried Bernfeld, der ebenfalls an einem Artikel über "Freuds Kokain-Studien, 1884-1887" arbeitete, als "eine Fundgrube des reichsten Materials in jeder Hinsicht - Arbeit, Beziehungen, Ideen, Passionen, Hoffnungen, Ängste usw.". Bernfeld - bei dem Jones im Kokain-Kapitel seiner Freud-Biografie verschiedene Passagen abgekupfert hat - konnte als Antwort nur seinem Neid Ausdruck geben, "daß Sie als erster auf diese Goldmine gestoßen sind". Eine Mine, in der Jones mit Rücksicht auf das Bild von Sigmund Freud in der Öffentlichkeit allerdings nur sehr zurückhaltend geschürft hat. Bis heute ist das Bedauern darüber, dass diese Goldader stockt, ein Topos jedes biografischen Versuchs über Sigmund Freud. Israëls hat als erster nach Jones die Stollen weiter vorangetrieben und neue Bausteine der Freud-Biografik zu Tage gefördert.

Selbstversuche Freuds

Sie ergeben folgendes Bild: In seiner Affäre mit dem Kokain erprobte Freud zum erstenmal jene Strategie, die sich bei seiner "Traumdeutung" fünfzehn Jahre später bewähren sollte: Er machte die eigene Person zum Prüfstein seiner Hypothesen, weil von ihr zuverlässigere Ergebnisse zu erwarten waren als von Dritten.

Die Anregung, das vom deutschen Chemiker Albert Niemann 1860 aus den Kokablättern isolierte Alkaloid Kokain auf seine stimulierende Wirkung zu testen, entnahm Freud einem Artikel des Würzburger Arztes Theodor Aschenbrandt in der "Deutschen Medicinischen Wochenschrift" vom 12. Dezember 1883. Aschenbrandt hatte während der Herbstwaffenübungen von bayrischen Soldaten die Möglichkeit genutzt, "Cocain anzuwenden, ohne dass sich die Leute beobachtet wussten". Er stellte nach der mündlichen Verabreichung verschiedener Kokainlösungen eine beträchtliche Erhöhung der Leistungs-, insbesondere der Marschfähigkeit unter erschwerten Bedingungen fest (Erschöpfung durch Nahrungs- und Schlafentzug, Hitze, Verdauungsstörungen etc.). Freud war überzeugt, diese Erfahrungen "dürften nicht verfehlen, die Aufmerksamkeit der Heeresleitung auf die Coca zu lenken". (Am Ende des Ersten Weltkriegs sollte er selbst offiziellen Vertretern der Mittelmächte die Psychoanalyse zur Behandlung von Kriegsneurosen empfehlen.)

Als die Firma Merck in Darmstadt Sigmund Freud im April 1884 ein Gramm Kokain auf Kredit zur Verfügung stellte, ging dieser "während einer leichten, durch Ermüdung hervorgerufenen Verstimmung" sogleich daran, die Wirkung der Dosis von einem Zwanzigstel Gramm an ich selbst auszuprobieren: "Man fühlt eine Zunahme der Selbstbeherrschung, fühlt sich lebenskräftiger und arbeitsfähiger; aber wenn man arbeitet, vermisst man auch die durch Alkohol, Thee oder Kaffee hervorgerufene edle Excitation und Steigerung der geistigen Kräfte. Man ist eben einfach normal und hat bald Mühe, sich zu glauben, dass man unter irgend welcher Einwirkung steht."

In der Folge systematisierte und "objektivierte" Freud nicht nur seine Experimente, indem er die Zunahme der Armmuskelkraft unter Kokaineinfluss mit dem Dynamometer und die Verkürzung der psychischen Reaktionszeit mit dem Exner'schen Neuramöbimeter prüfte; gleichzeitig wurde ihm der Kokainkonsum zur lieben Gewohnheit. Wie die von Israëls entdeckten Brautbriefe dokumentieren, nahm er es nicht nur bei Verstimmung, gegen Ermüdung und Verdauungsstörungen; auf Reisen pflegte er sich damit zu beruhigen, vor öffentlichen Vorträgen aufzuputschen. Die Vorbereitungen auf einen ebenso ehrenvollen wie förmlichen Empfang beim Pariser Neurologen Jean Martin Charcot schilderte er Martha Bernays am 18. Januar 1886 mit den Worten: "Du kannst Dir ungefähr mein mit Neugier und Befriedigung gemischtes Grauen denken. Weiße Handschuhe und Krawatte, selbst ein neues Hemd, Frisieren der letzten noch übrigen Haare, und so weiter. Etwas Cocain, um das Maul öffnen zu können." Tatsächlich war Freud während der Einladung "ganz ruhig mit Hilfe einer kleinen Dosis Cocain" (20. Januar 1886).

Diese Regelmäßigkeit des Kokaingenusses gewährleistete schließlich auch die Zuverlässigkeit von Freuds Selbstbeobachtung. In seinem "Beitrag zur Kenntniss der Cocawirkung", seiner zweiten Publikation zum Kokain, verteidigte er 1885 in der "Wiener Medizinischen Wochenschrift" seine Selbstversuche gegen den Einwand, "für die Person, die sie anstellt, in derselben Sache zweierlei Glaubwürdigkeit zu beanspruchen, aber ich musste es aus äusseren Gründen thun, und weil keines der mir zur Verfügung stehenden Individuen eine so gleichmässige Reaktion gegen Cocaïn aufwies". Mit anderen Worten: Nur Freud selbst zeigte in seiner Aufregung und in seinem leidenschaftlichen Ehrgeiz, sich mit dem Kokain einen Namen zu machen, die stimulierende Wirkung des Kokains in der gewünschten Eindeutigkeit.

Teufel und Beelzebub

Die Anregung für die zweite Form der Therapie, von der sich Freud diesen Erfolg versprach, entnahm er der in Detroit erscheinenden Fachzeitschrift "Therapeutic Gazette", die über eine Reihe von erfolgreichen Morphium- und Opiumentziehungskuren berichteten, die dank des Kokains geglückt sein sollen. Freud dachte sofort an seinen morphiumsüchtigen Lehrer und Freund Ernst Fleischl von Marxow (1846-1891), der als Assistent von Ernst Brücke am Physiologischen Institut arbeitete. Als Fünfundzwanzigjähriger hatte sich Fleischl bei der Sektion einer Leiche eine Blutvergiftung zugezogen; nur die Amputation des rechten Daumens rettete ihm das Leben, aber ständig nachwachsende Neurome im Stumpf erforderten immer neue Operationen; die qualvollen Schmerzen trieben ihn schließlich in den Morphinismus.

Am 6. Mai 1884, seinem achtundzwanzigsten Geburtstag, schlug Freud seinem zehn Jahre älteren Freund, "der bei einer früheren Entziehungscur unter den schwersten Abstinenzerscheinungen gelitten hatte" ("Ueber Coca"), einen Versuch mit Kokain vor, "und er hat sich mit der Hast der Ertrinkenden des Gedankens bemächtigt", wie Freud seiner Verlobten am Tag darauf berichtete. In seiner Studie "Ueber Coca" zeichnete Freud ein erfolgreiches Bild dieser Behandlung: "Der Kranke blieb ausser Bette und leistungfühig, und verbrauchte in den ersten Tagen je 3 Decigramm Cocaïnum muriaticum; nach 10 Tagen konnte er das Mittel bei Seite lassen." Noch im März 1885 führte Freud in zwei im selben Jahr publizierten Vorträgen, in denen er "unbedenklich" zu "subcutanen Injectionen vom 0.03-0.05 Gr. pro dosi" riet, Fleischls Fall als anonymes Beispiel für eine gelungene Morphiumentziehungskur unter Kokaingebrauch an, doch in seiner Erinnerung hatte sich mittlerweile die Behandlungsdauer verdoppelt und die Dosis erhöht: "Es wurden etwa 0,40 gr. Cocain pro die verbraucht und nach 20 Tagen war die Morphinabstinenz überwunden."

Tatsächlich wusste Freud bereits zur Zeit der Publikation von "Ueber Coca" im Juli 1884 um den katastrophalen Verlauf der "ersten auf dem Kontinent unter Cocain vorgenommenen Morphinentziehung" (Freud 1887 in seinen "Bemerkungen über Cocaïnsucht und Cocaïnfurcht" in der "Wiener Medizinischen Wochenschrift"), wie Han Israëls detailliert belegt: Nach einer weiteren Operation am 19. Mai 1884 wurde Fleischl wieder rückfällig. Dass er bis dahin nur Kokain genommen hatte, empfand Freud als "Triumpf" (14. Mai 1884): "Das Cocain hat also seine Probe sehr gut bestanden. Das Morphin wird er sich wieder abgewöhnen, sobald die Wunde geheilt ist", prophezeite er Martha Bernays am 23. Mai 1884. Ein Jahr später war Fleischl sowohl morphium- wie kokainabhängig und konsumierte zur Zeit, als Freud die beiden Vortäge über seine erfolgreiche Behandlung hielt, im Durchschnitt ein Gramm Kokain pro Tag. (Dieser Vorgang sollte sich 1896 wiederholen, als Freud zur Bestätigung seiner später aufgegebenen Verführungstheorie in einem Vortrag achtzehn Fälle von Patientinnen und Patienten anführte, bei denen sich diese als Schlüssel zur geglückten Heilung erwiesen haben soll; in Wirklichkeit hatte er keinen einzigen Behandlungserfolg vorzuweisen, wie er seinem Freund Wilhelm Fließ in einem vertraulichen Brief vom 21. September 1897 gestand.)

Freud wusste, dass seine Therapie sich als fataler Fehlschlag erwiesen hatte. Wie hoffnungslos er den Fall selbst einschätzte, geht aus einem Brautbrief vom 10. März 1885 hervor. Freud plante zu dieser Zeit einmal mehr, seinen Förderer Fleischl um Geld anzugehen: "Ich bin eigentlich neugierig, ob er mir was leihen wird. Wenn, so dürfte er nicht mehr da sein, zur Zeit, da wir an's Zahlen denken dürfen." Der zweite Satz dieses Zitats wurde in Ernst Freuds Briefauswahl durch drei Auslassungspunkte ersetzt.

In Fleischls Schicksal erfüllte sich die Prophezeiung des Psychiaters Albrecht Erlenmeyer, der Freud im Mai 1886 in der "Deutschen Medizinal-Zeitung" öffentlich beschuldigte, der Kokainsucht Vorschub geleistet zu haben: "Gelingt die Substituirung des Morphium durch Cocain, so hat er den Teufel mit Beelzebub vertrieben; er ist das Morphium los, das Cocain hält ihn aber erst recht fest." Freud versuchte ein Jahr später in der "Wiener Medizinischen Wochenschrift", trotz der Tragödie seines Freundes Fleischl, Erlenmeyers 'sehr energischen Widerspruch' durch den Nachweis eines groben Versuchsfehlers aus dem Feld zu schlagen: "Erlenmeyer hatte, anstatt nach meinem Vorschlag wirksame Dosen (mehrere Decigramm) per os [mündlich, M. St.] zu verabreichen, minimale Mengen in subkutaner Injektion gegeben". In seinem Eifer konnte sich Freud 1887 in seiner Erwiderung auf Erlenmeyers Vorwürfe nicht mehr daran erinnern, zwei Jahre zuvor selbst die Verabreichung von Kokain in Form verhängnisvoller subkutaner Injektionen empfohlen zu haben.

Nachdem sich Freuds Hoffnungen auf einen frühen Erfolg mit dem Kokain zerschlagen hatten, erlahmte sein Eifer. Verschiedene Träume im Zusammenhang mit dem Kokain, welche "Die Traumdeutung" überliefert, bergen den bitteren Beigeschmack der Enttäuschung, ja Kränkung. 1923 bezeichnete er die Studie "Ueber Coca" seinem ungebetenen Biografen Fritz Wittels gegenüber als "ein Allotrion", und 1936 gestand er seinem Anhänger Rudolf Brun, dass die folgenden Publikationen über das Kokain besser nie erschienen wären. Tatsächlich verraten sie mehr über die Selbstinszenierungsstrategien der frühen Psychoanalyse, als ihrem Gründer lieb sein konnte. (Über die unterschiedlichen Strategien von Sigmund Freud und Otto Gross im Umgang mit Kokain - Freud sah Gross 1908 in einem Brief an dessen Psychiater Carl Gustav Jung "zu Beginn der toxischen Kokainparanoia stehen" - unterrichtet Peter Weibel in "Lebenssehnsucht und Sucht".)

Lesenswertes literarisches Nachspiel

Sigmund Freuds Affäre mit dem Kokain - inbesondere die auszugsweise Übersetzung seines "Beitrags zur Kenntniß der Cocawirkung" (1885) in der britischen Fachzeitschrift "The Lancet" - sollte allerdings noch ein lesenswertes literarisches Nachspiel haben: die ungekürzten Erinnerungen des Arztes, "Lancet"-Lesers und Sherlock Holmes-Vertrauten John H. Watson, die Nicholas Meyer 1975 unter dem Titel "The Seven-Per-Cent Solution" herausgegeben hat.

Meyer versucht in seinem psychoanalysehistorischen Kriminalroman, das biografische Bindeglied für die methodische Wahlverwandtschaft zwischen Sigmund Freud und Sherlock Holmes zu ergründen, auf die am nachdrücklichsten der italienische Historiker Carlo Ginzburg in seiner Studie "Spurensicherung" aufmerksam gemacht hat. Sowohl der Detektiv wie der Psychoanalytiker bedienen sich feinster Spuren, "eine tiefere, sonst nicht erreichbare Realität einzufangen": "Gegen Ende des 19. Jahrhunderts - genauer: zwischen 1870 und 1880 - begann sich in den Humanwissenschaften ein Indizienparadigma durchzusetzen, das sich eben auf die Semiotik stützte."

Meyers Lösung ist ebenso einfach wie spektakulär und schließt gleichzeitig die rätselhafteste Lücke in Sherlock Holmes' Biografie: Zwischen Holmes' Sturz in die Reichenbach Fälle bei Meiringen 1891 und seinem Wiederauftauchen 1894 soll Watson, angeregt durch Freuds "Beitrag" in "The Lancet", eine psychoanalytische Entziehungskur des kokainabhängigen Detektivs beim Wiener Nervenarzt veranlasst haben, in deren Verlauf Holmes zusammen mit einer traumatischen Kindheitserinnerung von seiner Sucht befreit wurde. In der Fiktion gelingt die Entziehungskur, deren Erfolg im Fall von Ernst Fleischl von Marxow Freuds Fiktion geblieben ist.

Verwendete Literatur:

Sigmund Freud: Schriften über Kokain. Herausgegeben und eingeleitet von Albrecht Hirschmüller. Frankfurt am Main 1996.
Han Israëls: Der Fall Freud. Die Geburt der Psychoanalyse aus der Lüge (1993). Hamburg 1999.
Nicholas Meyer: The Seven-Per-Cent Solution. London 1975.
Peter Weibel (unter Mitwirkung von Loys Egg): Lebenssehnsucht und Sucht (1979). Berlin 2002.