Das "Damenopfer"

Sabine Richebächers große Biografie Sabina Spielreins erzählt von einer mörderischen Symmetrie

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als 1986 das von dem italienischen Psychoanalytiker Aldo Carotenuto herausgegebene "Tagebuch einer heimlichen Symmetrie - Sabina Spielrein zwischen Jung und Freud" in der deutschen Erstausgabe des Freiburger Kore Verlags mit einem pointierten Vorwort des psychoanalysekritischen Psychoanalytikers Johannes Cremerius erschien, da ging das Interesse der Öffentlichkeit weit über die Grenzen der Zunft hinaus. Die Liebesgeschichte zwischen der jungen russischen Patientin, dann selbstständig praktizierenden und publizierenden Psychoanalytikerin und ihrem behandelnden Arzt C. G. Jung befriedigte ein gehöriges Maß an Sensationsbedürfnis. Man hatte aber auch reichlich Anlass, die idealisierten Väter-Bilder zu revidieren. Die "Schufterei" bis hin zum Liebesverrat, die Jung eingestandenermaßen in dieser Behandlungs- und Liebesgeschichte begangen hatte; der medizinisch-männliche Zynismus Freuds und seine Unterordnung der menschlichen und therapeutischen Aspekte des Falles unter die Interessen der sich etablierenden Psychoanalyse - das alles war nicht dazu angetan, der Idolatrie zu dienen.

Wichtiger war freilich die sachliche und methodische Bedeutung des Falls. Das für die psychoanalytische Therapie grundlegende, dabei so heikle Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung, das Wechselverhältnis zwischen dem Unbewussten der Patienten und dem des Therapeuten, das in der Konsequenz dazu zwingt, ein einseitiges, bloß reaktives Verständnis der angeblichen "Gegenübertragungsprozesse" preiszugeben, ließ sich hier, auf der Urszene aller späteren Übertragungstragödien, drastischer erkennen, als es reine Theorie je hätte demonstrieren können.

Einzigartige Bedeutung gewann aber die Biografie und Gestalt Sabina Spielreins selbst, ihr beeindruckender Weg von pathologischer Gefährdung zu einem in der Therapie wie Theorie produktiven Leben und einer vom Konkurrenzkampf doppelten Loyalität. Ihr war es gelungen, die masochistische Fixierung auf einen schlagenden Vater, der in den analytischen Vätern wiederkehrte, zu sublimieren und in eine freie Beziehung zu konvertieren. Eine Fülle von Publikationen und Editionen, Filmen und Theaterstücken hat sich seither eingehend mit dem Leben und dem Werk Sabina Spielreins befasst. Und jetzt erscheint mit Sabine Richebächers "Sabina Spielrein. Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft", die erste umfassende, primär aus den Quellen und Archiven gearbeitete deutsche Biografie. Das Buch beeindruckt durch Genauigkeit und Übersicht, zumal den gut entwickelten Sinn für Proportionen. Die Dreiecksgeschichte zwischen Jung und Freud, das von beiden Seiten begangene erotische und taktische "Damenopfer", kommt zu ihrem Recht. Dass sich allerdings Spielreins "Rolle als Mitspielerin in einer chronique scandaleuse", wahlweise als "Opfer" oder Verantwortliche, konzentriert habe, wird der Rezensent, der mit der Freiburger Spielrein-Forschung und -Edition selber einen kleinen Stein auf dem Brett hat, so ausnahmslos nicht glauben.

Hochverdienstlich ist bei Richebächer neben der ausführlichen Einbeziehung der zeitgeschichtlichen Kontexte - etwa des Frauenstudiums in Zürich - die Betonung der Rolle Spielreins als Pionierin der Kinderanalyse lange vor Anna Freud und Melanie Klein und einer kognitions- und sprachwissenschaftlich kundigen Psychoanalyse. Bewegend ist auch die korrigierte neue, noch mehr verdüsterte Version ihres Endes. Danach ist Sabina Spielrein mit ihren beiden Töchtern Renata und Eva Scheftel nicht, wie bisher geglaubt, in der Synagoge ihres Geburtsortes Rostow am Don von den Deutschen während der ersten Okkupation der Stadt 1941 erschossen worden. Das hätte mit der Synagoge als Todesort noch etwas von Würde und Gemeinschaft bewahrt. Nach Richebächers Recherchen wurde sie mit den Töchtern und den meisten Rostower Juden vielmehr nach einer entwürdigenden Behandlung in der "Schlangenschlucht" bei einem nahegelegenen Dorf von einem SS-Sonderkommando unter Sturmbannführer Heinz Seetzen zwischen dem 11. und dem 14. August 1942 ermordet. Mehrere Jahre vorher waren schon ihre jüngeren Brüder Isaak, Jascha und Emil Spielrein unter dem stalinistischen Terror, der 1933 bereits die Psychoanalyse in der UdSSR verboten hatte, liquidiert worden. Soviel aus dem Geschichtsbuch einer unheimlichen mörderischen Symmetrie.

1911 war Spielreins Dissertation "Über den psychologischen Inhalt eines Falles von Schizophrenie" erschienen. Mit ihr wurde sie als erste Frau überhaupt mit einem psychoanalytischen Thema zum Dr. med. promoviert. "Die Destruktion als Ursache des Werdens" lautete 1912, acht Jahre vor Freuds Revision der Trieblehre und seiner Entdeckung des Todestriebs der Titel ihrer wichtigsten theoretischen Schrift - der eindrucksvolle Versuch, erlittene Verletzungen und masochistische Disposition als Momente des Werdens zu integrieren. Freud hatte die Vorgängerin, immerhin, wenn auch nur in einer knappen Fußnote, anerkannt. Die Unterschiede waren so freilich eher überspielt worden. Denn Spielrein hatte den "Todesinstinkt" nur als eine allein in der Neurose überwiegende Komponente des Sexualtriebs beschrieben, während der späte Freud den Todestrieb nicht nur als selbstständigen Gegenspieler des Lebenstriebs beschrieb, sondern ihn zusammen mit der Libido im "Nirwanaprinzip" untergehen ließ.

Gleichwie: Von der "Destruktion als Ursache des Werdens" konnte bei dem mörderischen Ende dieses Lebens keine Rede mehr sein. Dass C. G. Jung selbst bei Beginn der "Tausend Jahre" mit der Unterscheidung einer jüdischen und einer germanischen Psychologie einen fatalen Destruktionsbeitrag geleistet hatte, wie Richebächer mit der hier nötigen Deutlichkeit markiert, machte die Bitternis dieses Endes nicht geringer.

Titelbild

Sabine Richebächer: Sabina Spielrein: Eine fast grausame Liebe zur Wissenschaft.
Dörlemann Verlag, Zürich 2005.
399 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3908777143

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