Easy Listening als Literatur

Das überraschende Romandebüt von Thorsten Krämer

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thorsten Krämers erster Roman "Neue Musik aus Japan" beginnt mit dem Fernsehen der 80-er Jahre, als man nur auf Tele 5 Gelegenheit hatte, Musikvideos zu sehen, sogar Videos von Underground-Heroen wie Henry Rollins, moderiert von der unbeholfenen Susanne. Über die gemeinsame Begeisterung für diese Moderatorin, die so nichts gemein hatte mit den gesichtslosen VJs unserer Tage, entwickelte sich zwischen Thomas und Arnd eine Freundschaft, die immer noch, trotz räumlicher Trennung, Bestand hat. Als Arnd per Mitfahrgelegenheit zu Thomas nach Hamburg fährt, lernt er Anne kennen. Ihr Easy-Listening-Tape, mit einem Stück der japanischen Gruppe "Pizzicato Five", wird zum Ausgangspunkt einer ersten Unterhaltung, der Arnds Versprechen folgt, Anne eine Kassette mit neuer Musik aus Japan aufzunehmen. Den Rest kann man sich denken? Nein, hier wird niemand enttäuscht.

Thorsten Krämer, 1971 geboren und mit einem Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln und einem Stipendium der Arno-Schmidt-Stiftung ausgezeichnet, erzählt viele kleine Geschichten, die zunächst wie beliebig aneinandergereiht scheinen, ihren Zusammenhang aber bald offenbaren. In ständig wechselnder Fokussierung werden Episoden verschiedener Charaktere aufgeboten, die durch lose Bekanntschaften, ähnliche Vorlieben (etwa für japanische Pop-Musik) oder eben doch gemeinsame Schicksale miteinander in Verbindung stehen. Ein immer dichter werdendes Netz von Erzählsträngen wird so geknüpft: ein scheinbar beiläufiger Satz eines Kapitels mündet später in größere Zusammenhänge, zuerst unwichtige Erwähnungen erschließen sich dem Leser durch das Vorwissen aus anderen Geschichten. Die oberflächlich betrachtet bloße Aneinanderreihung von Kurzgeschichten wächst zum Roman.

Dieser Roman, dessen Kapitel nur mit Songtiteln und der Jahreszahl der Handlung überschrieben sind, ist ein Sampler konzipiert wie es die Ausführung eines Protagonisten über die CD (in Abgrenzung zur Schallplatte) nahelegt; die hier bevorzugte Erzählweise wird dabei indirekt reflektiert: mit der CD sei "das Konzept der Seite, welches früher zum Beispiel für die sogenannten Konzeptalben ganz eminent wichtig gewesen sei, entfallen, und außerdem die Linearität insgesamt zerbrochen worden, da nun jeder Hörer selbst über die Reihenfolge der Stücke entscheiden oder sogar einer Shuffle-Funktion die Verantwortung überlassen könne."

Für den Roman hat dies zur Folge, dass sich die einzelnen Kapitel in beliebiger Reihenfolge lesen lassen, und für jedes Kapitel ergibt sich eine andere Lesart, da jede Anspielung in die Zukunft oder in die Vergangenheit weisen kann. Der Leser kann dem Roman seine eigene Struktur verleihen oder auch nur seine Lieblingsstücke zusammenstellen. Das Konzept der fortlaufenden Handlung ist aufgegeben, und dennoch gelingt es Krämer, Spannungsbögen aufzubauen. Zufälle, verpasste Chancen, enttäuschte Hoffnungen, das Foto aus der Kindheit der Geliebten, auf der sich der Geliebte wiederfindet, die mühsam zusammengestellte Kassette, über deren Schicksal hier nichts verraten werden soll, der verlorene Zettel mit einer Telefonnummer aus allem entwickelt sich eine Geschichte, die sich zu erzählen lohnt. Krämers Erzählweise ist dabei vor Kitsch und Konvention gefeit: zurückhaltend, nie besserwisserisch, beiläufig und dennoch immer nah an den Figuren seiner Geschichte.

Dem, der sich für die Ursprünge dieses Romans interessiert, seien die beiden Vorgängerbände Thorsten Krämers empfohlen. Neben einigen wenigen Gedichten in Anthologien veröffentlichte er einen "film in worten" und eine Sammlung von Erzählungen. Sein erzählter Film "Ich heiße Hal Hartley" spielt mit den Möglichkeiten des Schreibens angesichts einer expandierenden Kinokultur. Krämer verbindet hier mithilfe der Montage, den Cuts des Films, Werke dreier kulturell grundverschiedener Regisseure zu einer längeren Erzählung. "Sonatine" von Takeshi Kitano (Japan 1993), "Pierrot le fou" von Jean-Luc Godard (Frankreich, Italien 1965) und "Simple Men" von Hal Hartley (USA 1992) scheinen so bald um dieselben Personen oder eine zusammenhängende Geschichte zu kreisen. Die Nebenfiguren gewinnen zunehmend an Kontur, und ihre Geschichten, die den Film nicht mehr interessierten, werden in der Literatur weitergeführt, so dass die eine zum Auslöser der anderen wird. Die dabei gewählte Zusammenstellung erzeugt Spannung bis zum Schluss und ermöglicht darüber hinaus die Reflexion der filmischen Erzählweise.

Sein Talent in der Kurzprosa stellte Krämer bereits in "Fast schon ein Glück" unter Beweis. In 31 meist sehr knappen Erzählungen lassen sich seine geschickte Vorgehensweise und das selbstbewusste, reflektierte Erzählen erkennen. Auch hier wird scheinbar Nebensächliches erzählt, wird zuerst Unzusammenhängendes in Verbindung gebracht, und doch gilt nahezu immer: "Eins führt zum andern, und am Ende wird alles gut."

Das Sammeln von Anrufbeantworterbändern wird da zum eigenen Tagebuch, verfasst von anderen Stimmen. "Allein" wird im Lauf der Erzählung zur befremdlich-traurigen Endlosschleife. In "Glas" glaubt der Leser, Paul (Auster) auf den Spuren (Peter) Stillmans - Austers Kreation aus "City of Glass" - zu folgen. Hierbei vermischen sich in den Figuren Realität und Fiktion, ebenso wie in Stillmans Versuch, diesmal nicht die babylonische Sprachverwirrung rückgängig zu machen, sondern vielmehr Gedanken direkt, ohne den Umweg des künstlerischen Arrangements, aufs Papier zu bringen und dadurcheine Schnittstelle zwischen Leben und Kunst zu finden.

Titelbild

Thorsten Krämer: Fast schon ein Glück. Erzählungen.
Emons Verlag, Köln 1998.
113 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3897051044

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Thorsten Krämer: Ich heiße Hal Hartley. Erzählung. (Film in Worten, Bd.1).
Tropen Verlag, 1998.
107 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3932170156

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Thorsten Krämer: Neue Musik aus Japan.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999.
176 Seiten, 9,70 EUR.
ISBN-10: 3462028502

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