Schreckliche Wunderjahre

Rainer Strecker liest "Tintenblut" von Cornelia Funke

Von Wolfgang HaanRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Haan

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Unzählige Tage und Nächte hatte Meggie neben Resa gesessen und aufgeschrieben, was ihre Mutter mit den Fingern erzählte. Ihre Stimme hatte Resa in der Tintenwelt gelassen, und so erzählte sie ihrer Tochter entweder mit Stift und Papier oder mit Händen von jenen Jahren - den schrecklichen Wunderjahren, wie sie sie nannte."

Genau wie ihr Vater Mo besitzt Meggie die Fähigkeit, Personen oder Gegenstände aus Büchern heraus oder in Bücher hinein zu lesen. Doch noch nie hat es ein Vorleser geschafft, sich selber in eine Geschichte hinein zu lesen. "Der Vorleser muss bleiben, das ist die eiserne Regel. Ich habe alles versucht, um selbst in ein Buch zu schlüpfen, aber es geht einfach nicht." Dies sagt voller Bedauern Orpheus, der Vorleser, der Staubfinger erfolgreich in die Tintenwelt zurück liest.

Doch Meggie schafft das scheinbar Unmögliche: sie liest sich und Farid in die Tintenwelt, um Staubfinger vor Basta und Mortola zu warnen. Und sie will endlich all die wunderlichen Dinge selber sehen, von der ihre Mutter ihr berichtete.

Die Beiden finden sich im Weglosen Wald wieder. Doch schon nach den ersten entzückten Augenblicken wird sich Meggie bewusst, dass es jetzt gilt, realen Gefahren, wie beispielsweise den hungrigen Wölfen, zu entkommen. Letztendlich gelangen sie nach Ombra, der Stadt, in der sich vermutlich Fenoglio aufhält.

Fenoglio genießt das Leben in der Tintenwelt und speziell in Ombra. Insgeheim hält er sich für allmächtig. Wenn "seine Geschichte" eine Wendung erhält, die er nicht vorher gesehen hat, schreibt er sie einfach um. Doch in seiner Verblendung, ja seinem Größenwahn, sieht er nur seine Geschichte und vermag nicht zu erkennen, welche Folgen für Andere seine Eingriffe haben. Dabei ist er ja eigentlich ein gutmütiger Mann. Aber am Besten gelingen ihm immer wieder die Bösewichte. Diese entwickeln regelmäßig ein unvorhersehbares Eigenleben und die Geschichte driftet ein übers andere Mal in eine Richtung, die Fenoglio so nicht beabsichtigt hat. Doch statt daraus zu lernen, ist er dermaßen verliebt in seine eigenen Worte, dass er immer weitere Änderungen vornimmt.

Auch Meggie verfällt zu Beginn des Buchs der Magie ihrer eigenen Worte. Genau wie Fenoglio glaubt sie an die unbeschränkte Macht der Sprache gemäß dem alten Sprichwort: "Ein Wort ist stärker als 1000 Schwerter". Erst spät werden sich Fenoglio und Meggie darüber klar, wie treffend dieses Sprichwort ist. Allerdings gehören die beiden dann schon zu den Opfern der eigenen Worte und entkommen dem Tod nur um Haaresbreite. Mit diesem kleinen Kunstgriff führt Cornelia Funke ihre eigene Kunst ad absurdum: Die "richtigen" Worte gibt es einfach nicht. Bücher erwachen mittels der Fantasie des Lesers zum Leben und dieser versteht manches anders, als es vom Autor gemeint war.

Ein weiteres zentrales Thema von "Tintenblut" sind die unerfüllten Sehnsüchte, die für fast jeden Protagonisten als Motivation dienen. So sehnt sich Staubfinger nach seiner Frau und Kindern, Meggie nach den magischen Wesen der Tintenwelt, Farid nach Meggie und Staubfinger und so weiter. Doch sobald die Wünsche in Erfüllung gehen, tauchen unerwünschte Nebenwirkungen auf. So hat Meggie wenig Zeit, sich an den Wundern der Tintenwelt zu. Farid findet zwar Staubfinger wieder, verliert dadurch jedoch Meggie und Basta muss sich damit abfinden, dass er nach dem Tod Capricorns nicht mehr die Nummer 2 in der Verbrecher-Hierarchie ist. Die wenigsten Figuren sind eindimensional gut oder böse, Betrüger oder Betrogene, sondern handeln auch schon mal völlig egoistisch, um einen Vorteil zu erlangen. Auch wenn dies nicht immer "der feinen englischen Art" entspricht. Diese Handlungen wecken ambivalente Gefühle beim Hörer, was wiederum der Geschichte zusätzliches Leben und Authentizität verleiht: die Charaktere wirken dadurch einfach echter, die Motivation wird nachvollziehbarer und die Wendungen im Roman glaubwürdiger.

Für die Bevölkerung ist das Leben in der Tintenwelt kein Zuckerschlecken. Der eigentliche König wird von Gram zerfressen, seit sein Sohn und Thronfolger Cosimo einem Hinterhalt zum Opfer fiel. Der wahre Herrscher heißt Natternkopf und ist das personifizierte Böse. Er regiert mit grausamer Hand, lässt willkürlich seine Untertanen blenden oder hängen und wird durch ein Spitzelnetz mit sämtlichen Informationen versorgt. Die Artisten und Gaukler erfreuen sich einer trügerischen Freiheit. Zwar sind sie ungebunden und müssen keine Frondienste verrichten, doch genießen sie auch keinerlei Schutz. Nach Belieben werden sie einfach gehängt, gefoltert oder verstümmelt.

Dies alles klingt auf den ersten Blick recht grausam, doch vertieft Cornelia Funke diese Thematik nicht weiter. Wie in einem Geschichtsbuch über das Mittelalter erfährt man von diesen Dingen, dem Gestank, der Armut, der Kindersterblichkeit, des Lebens unter der Fron ohne Rechte und dergleichen, doch werden keine Einzelheiten genannt, keine Folterszenen beschrieben und selbst bei Schlachtenschilderungen beschränkt sich Cornelia Funke auf das absolut Notwendige. Das Ganze erinnert stark an den Schreibstil von C. S. Lewis in "Der König von Narnia". Dies macht "Tintenblut" auch für ein jüngeres Publikum geeignet.

Besonderen Wert hat Cornelia Funke auf die Ausarbeitung ihrer Charaktere gelegt. Zunächst eher flach und eindimensional angelegt, gewinnen diese im Lauf der Geschichte immer mehr an Substanz und Tiefe. Dies liegt an den hervorragenden Dialogen und emotionsgeladenen zwischenmenschlichen Beziehungen. So ist beispielsweise Fenoglio in Staubfingers Frau verliebt und in einem kleinen Winkel in seinem Kopf wäre er gar nicht so traurig, wenn Staubfinger planmäßig sterben würde. Farid, der in der "Tintenwelt" überhaupt nichts zu suchen hat, entwickelt sich zu einem jugendlichen Helden und Meggie reift zur Frau heran. Fenoglio setzt sie gekonnt als "Zünglein an der Waage" ein. Immer wieder gleitet die Geschichte in eine andere Richtung als der Hörer es erwarten würde. Selbst das Ende der Geschichte bleibt im Ungewissen, denn der Roman endet mitten im Satz und der Hörer schaut verzweifelt auf der CD nach, ob da nicht irgendwo noch ein Bonus-Track versteckt ist, der die Geschichte zu Ende erzählt.

Schon der Vorgänger "Tintenherz" wurde auf unnachahmliche Weise von Rainer Strecker gelesen. Sofern man überhaupt noch von einer Steigerung sprechen kann, so erfolgt diese nur im Kleinen. Meggie klingt im Vergleich zur Protagonistin im ersten Roman erwachsener, uneigennütziger, zickiger - kurz: wie ein junges Mädchen mitten in der Pubertät. Farid hingegen etwas männlicher, selbstbewusster und weniger tölpelhaft. Unangefochtenes Highlight der beiden Lesungen ist jedoch, neben der musikalischen Untermalung der Tracks, Staubfinger. Rainer Strecker verdeutlicht die Wechselhaftigkeit im Wesen Staubfingers durch winzige Änderungen in Stimm- und Tonlage. Dadurch wird der Hörer nicht nur weiter in den Sog der Geschichte gezogen, sondern spürt förmlich die innere Zerrissenheit Staubfingers, der sich verzweifelt müht, seinem von Fenoglio festgeschriebenen Schicksal zu entgehen.

Die Ausstattung des Hörbuchs verschlägt einem schier den Atem: 18 CDs in einem hochformatigen, edel designten Schmuckschuber. Das beiliegende Booklet informiert ausführlich über alle bisher aufgetretenen Personen sowie diejenigen, die erstmals in "Tintenblut" auftauchen. Des Weiteren enthält das Booklet mit seinen Ortsbeschreibungen, Tracklisten und Illustrationen alles, was des Hörers Auge und Ohr erfreut.

Fazit: Ein Hörbuch der Superlative - hervorragende Geschichte, tolle Charaktere, schaurig-schöne mittelalterliche Welt, geniale Lesung und perfekte Ausstattung machen es zu einem audiophilen und visuellen Highlight des Jahres 2005.


Titelbild

Cornelia Funke: Tintenblut. 18 Audio-CDs.
Jumbo Verlag, Hamburg 2005.
1260 Minuten, 74,95 EUR.
ISBN-10: 3833714220

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