Mönche auf Rollschuhen

Antonio Morescos erratisches Werk "Aufbrüche"

Von Maja RettigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maja Rettig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mönche fahren Rollschuh auf dem Grund eines leeren Schwimmbeckens, spielen Fangen unter Linden, klettern an Laternenpfählen hoch, die Soutanen flattern in der Luft. Der Schöpfer solcher Bilder in Sprache heißt Antonio Moresco. Sein Großwerk "Aufbrüche" ist ein herausragender Fall von literarischem Eigensinn; das gängig Realistische, Leichte oder auch ironisch Postmoderne der italienischen Gegenwartsliteratur verweigert er radikal. Die vom Ammann Verlag besorgte Übersetzung ins Deutsche ist die erste weltweit nach bislang zwölf Veröffentlichungen in Italien.

"Die Realität ist nicht realistisch", schrieb Moresco in seinem Arbeitsjournal "Lettere a nessuno" (Briefe an niemanden, 1997), und das ist der Kern seiner Poetik. Seine Literatur ist die einer subjektiven bis surrealen Deskription - dafür lässt er alles weg, was üblicherweise Bedeutung erzeugt: Handlung, Psychologie, zeitliche Verortung.

Er schickt einen Ich-Erzähler durch drei Lebensstationen, ohne dass wir je etwas über dessen Innenleben erfahren würden: In Teil I ist er im Priesterseminar und schweigt. In Teil II ist er politisch agitiert und schreit. In Teil III ist er Schriftsteller und schreibt - kein Wort allerdings über die Inhalte dieses Schreibens, Schreiens und Schweigens.

Es ist eine Welt, der die Inhalte entzogen sind; man sieht nur die äußeren Gesten. So verschiebt Moresco die Welt ins Komisch-Absurde und zeigt doch das Eigentliche. Die Intrigen unter den Seminaristen kann man sich unschwer ausmalen; was gezeigt wird, ist die Aggression an sich. Die politische Agitation wird nur durch Hammer und Sichel im linken Milieu verortet - und nur dadurch vage in den 70er Jahren. "Propagandakampagne", "Zentrale" und "Militante" könnten auch für ganz andere politische Richtungen und Zeiten stehen.

Die drei Berufungen Religion, politischer Kampf und Literatur sind das einzig 'Realistische', sogar Autobiografische an diesem Roman. Moresco selbst, 1947 geboren, hat sie alle gelebt - mit 30 Jahren brach er mit dem politischen Extremismus und begann zu schreiben. Mehr als 15 Jahre lang allerdings ignorierte ihn der Literaturbetrieb, erst 1993 konnte er debütieren. Das über 600 Seiten starke Manuskript "Aufbrüche" durchlief eine 10-jährige Verlagsodyssee, bis es 1998 schließlich doch noch veröffentlicht wurde. Mit seinen Erfahrungen in der Literaturindustrie, die zunehmend das Flache umwirbt und das Abweichende schmäht, hat sich Moresco in "Lettere a nessuno" auseinandergesetzt und dabei die Literaturpäpste nicht geschont - das gab Streit in den Feuilletons, machte Moresco aber auch zur Leitfigur einer neuen Literatur nach der Postmoderne um Italo Calvino und Umberto Eco. Die viel gerühmte 'ironische Leichtigkeit' des einen lehnt er nämlich ebenso ab wie die Historismen des anderen.

Auch der dritte Teil der "Aufbrüche" verarbeitet die eigenen Ausschlusserfahrungen. Das Autor-Ich wird von einem Verleger zugleich hofiert und abgewiesen: Dieser legt ihm die Vernichtung des Manuskripts als höchste Form der Veröffentlichung nahe.

Dem völlig passiven Helden geschieht all das wie aus Versehen. Alles erstaunt ihn, bricht unvermittelt über ihn herein, auch das eigene Handeln. Ständig ist er "sprachlos", "atemlos", erbleicht oder errötet. Und selbst Autos "hielten bestürzt auf dem Kies mitten im Hof". Nichts versteht sich von selbst, auch nicht der eigene Kopf, "der wie selbstverständlich aus der Soutane hervorkam".

Heimliches Thema ist der Kontrollverlust. Räumliche und zeitliche Distanzen geraten aus den Fugen. Moresco, so heißt es im Beiheft zum Buch, habe beim Schreiben das Bedürfnis gehabt, "[s]ich völlig zu verlieren und eine solch andauernde Maßlosigkeit zu erreichen, daß es ihr gelänge, sich ihr eigenes Gesetz zu schaffen". Die Teile sind sorgfältig gearbeitet und durch ein Motivgeflecht verbunden, und doch: Genau dieser Schwindel überträgt sich auf den Leser. Auch der sollte bereit sein, die Orientierung zu verlieren und sich dem Taumel kühner und komischer Bilder überlassen. Der Lohn auf dem 600-Seiten-Parcours ist unerhörte Frische, meilenweite Entfernung von allen "vorgekochten und dann eingefrorenen und dann auch noch vorverdauten und schließlich sogar vorgekotzten Ausdrucksweisen".


Titelbild

Antonio Moresco: Aufbrüche. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend.
Ammann Verlag, Zürich 2005.
653 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3250600717

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