Die Toilettenprobleme auf der Arche Noah

Philipp Blom erzählt die Geschichte der Encyclopédie nach

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alles was man wissen muss", mit diesem Untertitel warb Schwanitz' Bestseller "Bildung". Da war es doch einmal anders: "Tatsächlich zielt eine Enzyklopädie darauf ab, die [...] verstreuten Kenntnisse zu sammeln, [...] damit unsere Enkel nicht nur gebildeter, sondern zugleich auch tugendhafter und glücklicher werden." Diderot schrieb das in seinem Enzyklopädie-Artikel zum Stichwort "Enzyklopädie". Ein erstaunliches Ziel: "tugendhafter und glücklicher". Statt kurz in den Bestseller reinzuschnuppern, damit man bei Günter Jauch mithalten kann.

Eigentlich entstand die große "Encyclopédie", die Mutter aller Enzyklopädien und Lexika, aus den Geldproblemen einiger gebildeter Pariser: Um 1750 herum machten sie sich daran, ein einfaches Lexikon aus dem Englischen zu übersetzen. Bildung und Wissen waren damals gefragt, in einer Zeit, wo sie viel mühevoller als heute zu bekommen waren. Die Buchhändler-Verleger (das war oft noch dasselbe) wollten natürlich daran verdienen (so wie heute) und versprachen einen angemessenen Lohn. Schnell weitete sich das Unternehmen aus, und am Ende umfasste das Lexikon 27 Bände mit 72.000 Artikeln, 16.500 Seiten und 2.900 Illustrationen.

Die größten Gelehrten, Philosophen, Wissenschaftler ihrer Zeit gehörten zu den Autoren der Enzyklopädie, besser gesagt der "Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers". Denn alles sollte versammelt werden: Kunst und Wissenschaft natürlich, aber auch die Handwerke, die mit vielen Illustrationen erläutert wurden. Die Herausgeber waren Denis Diderot, Jean le Rond d'Alembert und Chevalier Louis de Jaucourt. Zu den Verfassern gehörten u. a. Voltaire und Rousseau: Illustrer kann man ein Lexikon nicht schreiben. Man stelle sich vor, für den neuen Brockhaus schrieben heute Jürgen Habermas, Peter Bieri und Peter Sloterdijk über Philosophie, Wolfgang Rihm und Karlheinz Stockhausen über Musik, Adolf Holl und Eugen Drewermann über Theologie, Stephen Hawking und alle Nobelpreisträger über ihr Fachgebiet. Aufregend. Und unvorstellbar. Aber so ähnlich war das damals.

Vor mehr als zehn Jahren kam ein schönes Buch von Robert Darnton heraus, in dem er unter dem Titel "Glänzende Geschäfte" die "Verbreitung von Diderots Enzyklopädie" beschrieb, "oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn?" Vor etwas kürzerer Zeit feierte der Eichborn-Verlag mit seinem Herausgeber Hans Magnus Enzensberger in einer äußerst unhandlichen Ausgabe diese Großtat der Aufklärung (wie er überhaupt manchmal zur Gigantomanie neigt, auch den in vielen Teilen unlesbaren und veralteten Humboldt und den feinen, nachdenklichen Montaigne gab der Verlag in unhandlichen Großquart-Bänden heraus).

Jetzt gibt es eine großartige, spannende Wissenschafts-Erzählung von der Entstehung der Enzyklopädie. Der in Paris lebende, englisch schreibende Romancier Philipp Blom erzählt die erstaunliche Geschichte dieser epochalen Unternehmung und lässt wahrhaftig nichts aus. Er schreibt über die Kämpfe mit der staatlichen Zensur, der Kirche, die das Buch scharf angriff und auf den Index setzte, und den Jesuiten, die alles unternahmen, um den Verfassern zu schaden. Denn natürlich waren die Verfasser der Enzyklopädie staats- und kirchenkritisch und hatten einiges durchzustehen. Blom schreibt über den königlichen Oberzensor, der sich für die Enzyklopädie einsetzte, über die Liebesabenteuer der Beiträger, die Blasenprobleme und den zunehmenden Verfolgungswahn von Rousseau. Viel schreibt Blom über einen bisher verkannten Hauptlieferanten, den Chevalier de Jaucourt, den er im Untertitel sogar extra herausstellt. In zehn Jahren schrieb de Jaucourt 17.266 Artikel, das sind etwa 6 Artikel pro Tag, in manchen Bänden die Hälfte aller Artikel überhaupt. Dabei sind wichtige Einlassungen, zum Beispiel der Artikel "Sklaverei", die der Chevalier scharf verurteilt.

Blom erläutert haarklein und sehr spannend, wie die Autoren Kirchenkritisches tarnten, durch lähmend lange Artikel über z. B. die Toilettenprobleme auf der Arche Noah oder die Engelshierarchien. Dabei tat sich vor allem ein bisher recht wenig beachteter Beiträger hervor, der Abbé Edmé Mallet. Lange hat man ihn als "stumpfsinnigen, langweiligen und hirnlosen Reaktionär" angesehen, wie Blom schreibt. Aber es scheint doch so, dass die tödliche Langeweile nur ein Trick ist, um die gesamte Theologie langweilig zu machen. In seinem Artikel über die Hölle beschreibt er alle Orte, an denen die Hölle schon vermutet wurde (und die Blom genüsslich aufzählt als "mögliche Kandidaten: Australien, die Umgebung von Rom, ein Komet oder sogar die Sonne)" und stellt Überlegungen über "deren genaues Fassungsvermögen und Größe wie auch über die genaue Dauer des Aufenthaltes dort" an. In einem Artikel über Ägypten fragt er sich, ob Moses ein Schüler ägyptischer Priester gewesen sei, von denen einige Katzen verehrten und "die Anhänger heiliger Zwiebeln verfolgten, während wieder andere es auf Bohnenesser abgesehen hatten". Damit war Moses eigentlich schon fast erledigt.

Besonders schön ist beispielsweise Mallets Artikel über die Arche Noah. In aller Ausführlichkeit gibt er alle Diskussionen wieder, die es "hinsichtlich ihrer Gestalt, ihrer Größe, ihres Fassungsvermögens, ihrer Konstruktion, hinsichtlich der für den Bau benötigten Zeit & des Ortes, an dem sie landete", gab. Nach Mallet brauchte Noah hundert Jahre zum Bau und wurde von drei Söhnen unterstützt, die, nach anderen Überlieferungen und Berechnungen allerdings noch gar nicht geboren waren. Mallet errechnete, dass die Arche wohl etwa so groß war wie die St. Pauls-Kathedrale in London, und er bestimmte exakt die Menge der Tierarten und des Futters, die Noah hätte mitnehmen müssen: etwa 47.000 Kubikmeter Heu und 1825 Schafe als Lebendfutter für die Fleischfresser ("samt dem für sie bestimmten Heu, müsste man eigentlich hinzufügen", schreibt Blom süffisant, dem das alles einen Heidenspaß zu bereiten scheint). Dazu 363.489 Hektoliter Trinkwasser. Die Verteilung des Futters und des Wassers, die Stabilität des Gefährts, Belüftung und Logistik der Futterversorgung: Nichts wird vergessen. Blom abschließend: "Man vermag kaum zu sagen, welche Version unwahrscheinlicher war: die traditionelle, wonach Mallet ein phänomenaler Langweiler war und Diderot ihm hinterlistig ganz bestimmte theologische Themen zuschusterte, damit er sie zwischen den Mühlsteinen seines stumpfsinnigen Verstandes zerrieb; oder die alternative Version, wonach der in den Augen seiner Zeitgenossen untadelige Mallet in Wirklichkeit von einer zerstörerischen Wut gegen den Katholizismus besessen war und in seinen Beiträgen zur 'Encylopédie' die Möglichkeit erblickte, sein Lebenswerk in einer Reihe verheerend subversiver, aber unangreifbarer Abhandlungen zu schaffen."

Auch Diderot beherrschte solche Tricks. In seinem Artikel über die Seele diskutiert er, wo der Sitz der Seele sein könnte. Und beweist durch dokumentierte medizinische Fälle, wo er nicht sein kann: in der Zirbeldrüse, im Gehirn. Vielleicht im Corpus callosum, der die Hirnhälften verbindet? Ein Fall scheint das nahezulegen. "Die Seele hat also ihren Sitz im Corpus callosum, jedenfalls bis ein anderes Experiment sie erneut an eine andere Stelle verlegt, in welchem Fall die Physiologen wiederum nicht wüssten, wo sie zu lokalisieren wäre." Wichtig sind auch die vielen pfiffigen Verweise von Diderot und anderen Autoren. Wenn unter "Menschenfresser" steht, "siehe Eucharistie und Kommunion", dann wusste man damals schon Bescheid. Oder wenn unter "Roi" (König) erst der Vogel erklärt wurde, und dann der französische König.

In vielen Einzelheiten breitet Philipp Blom die Geschichte aus. Er gibt sogar die erste Annonce in einem Anzeigenblatt wieder, mit der vier Buchhändler in Paris, Briasson, David, Le Breton und Durand, bekannt geben, dass sie am 1. Juli den ersten Band der "Enzyklopädie" ausliefern werden. Blom erzählt von Diderots Inhaftierung in Vincennes wegen seiner kritischen Schrift "Brief über die Blinden", die 1749 anonym herauskam, und von seiner Zeit im Gefängnis, als er eigentlich die Beiträge für die "Enzyklopädie" korrigieren und edieren sollte. Da hatten die Buchhändler schon 80.000 Livres investiert. Diderot gab schließlich klein bei: "Monsieur, meine Qualen haben ein Maß erreicht, das sich nicht überbieten lässt. Mein Körper ist erschöpft, mein Geist ist am Boden, meine Seele von Schmerzen gepeinigt." Er verspricht, nie wieder etwas Kritisches zu veröffentlichen und wird freigelassen.

In einer schönen Mischung aus Wissenschaftsgeschichte, Mehrfachbiografien und Thriller, vor allem stilistisch sehr leicht und flüssig, schreibt Blom von dieser spannenden Zeit. Nichts lässt er aus, alles zitiert er und bietet so ein weites, aufregendes Panorama einer aufregenden Zeit, die im Aufbruch war. Diese Zeit gebar unsere jetzige Moderne, hier wurde der Grundstein für die moderne Zivilisation gelegt. Und deswegen ist es auch schön, dass einmal jemand darüber schreibt, dem der Wissenschaftsjargon ebenso fern ist wie Erbsenzählerei (obwohl er alle Erbsen aufzählt); der an keiner Anekdote vorbeigehen kann ohne sie nachzuerzählen; dem nichts Menschliches fremd ist; der nie über die abstrusen Menschen urteilt, über die er schreibt; der alle Fakten kennt und viele davon in flüssiger Sprache einbaut; der einen geradezu englischen, flotten, plauderigen, menschlichen, selbstironischen, süffigen, leichten, fundierten Wissenschaftsstil schreibt, den ihm so schnell leider keiner nachmacht.


Titelbild

Philipp Blom: Das vernünftige Ungeheuer. Diderot, d'Alembert, de Jaucourt und die Große Enzyklopädie.
Übersetzt aus dem Englischen von Michael Bischoff.
Eichborn Berlin, Berlin 2005.
466 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-10: 3821845538

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch