Von der schönen neuen (Bilder-)Welt

Mit "Black Box - White Cube" liegen endlich Texte des amerikanischen Medienkünstlers und -theoretikers Lev Manovich in deutscher Übersetzung vor

Von Martin RichlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Richling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit diesem Buch liegen erstmals deutschsprachige Übersetzungen einzelner Essays des ebenso anregenden wie provokativen amerikanischen Medientheoretikers und Medienkünstlers Lev Manovich vor. Der Buchtitel referiert dabei auf das Themenspektrum - von der Black Box, dem Kino, der Populärkultur bis zum White Cube, dem Galerieraum der Hochkultur reicht das hier behandelte Spektrum.

Was die Manovich'schen Reflexionen über einzelne Formen digitaler Ästhetik von den meisten anderen erschienenen Texten zum Thema unterscheidet, ist nicht nur die provokante Art und Weise, in der Manovich seine Thesen zuspitzt. Beim Lesen seiner Texte spürt man auch deutlich die Begeisterung des Künstlers über die Möglichkeiten digitaler Techniken. Oftmals gipfelt diese in der Deklamation einer Utopie, einer schönen neuen (digitalen) Welt, bis dann der Künstler vom Denker und Wissenschaftler Manovich eingeholt wird, der das gerade Ausgerufene, vermeintlich Einzigartige und Neue relativiert, indem er es historisch einordnet und/oder die bestehenden Mängel einer digitalen Technik/Software/Verfahrensweise diagnostiziert. Die tiefe Verwurzelung des Autors mit seiner Thematik ist auch in seiner Schreibtechnik zu spüren. Manovich "samplet" und "remixt" einzelne Textpassagen, die so wortgetreu in mehreren Aufsätzen auftauchen. Das schadet den Texten aber keineswegs, im Gegenteil, es fördert vielmehr die allgemeine Kohärenz und Dichte.

Manovichs Hauptaugenmerk gilt den neuen Medien: Computer und Internet. In den Produktionsmethoden "Sampling" und "Remix" sieht Manovich die Industrialisierung der Montage- und Collagetechnik des 20. Jahrhunderts. Diese erstmals mit der elektronisch-digitalen Musik angewandten Techniken, aber vor allem das mit dem Internet aufgekommene Phänomen der "Open-Source-Software" veranlassen Manovich Roland Barthes' Überlegungen vom Tode des Autors aufzugreifen und ohne die üblichen kulturpessimistischen Untertöne die neuen Qualitäten dieser Vorgänge herauszustellen: die bis zu diesem Zeitpunkt nie da gewesene Zugänglichkeit, Demokratisierung des Kunstwerks und dessen Interaktionsmöglichkeiten mit dem "User".

Provokativ werden an dieser Stelle für viele besonders die hier vorgenommenen begrifflichen Verschmelzungen von Kunstwerk, Technik und Wirtschaft sein, auch wenn diese Bereiche gerade in der Medienkunst immer mehr diffundieren. Dieser Kunstbegriff Manovichs, der sehr von Vilém Flusser, dem vielleicht einflussreichsten Philosophen der neuen Medien, inspiriert wirkt, lässt Manovich schließlich nicht nur Programmierer, sondern auch Markennamen und die digitale Technik selbst in seinen etwas diffus wirkenden Autorenbegriff integrieren. Am Ende ist dann das begriffliche Chaos so groß, dass Manovich selbst die Schaffung eines neuen Vokabulars auf der Basis von Literatur- und Musikwissenschaft sowie der visuellen Künste fordert.

An einer anderen Stelle des Buchs wiederum zeigt sich Manovich dann aber doch kritisch gegenüber den unbegrenzten Möglichkeiten der Kombinierbarkeit von Medien, Daten, Informationen. Im Gegensatz etwa zum Surrealismus fehle es den heutigen Künstlern oft an einer Philosophie, welche die modernen Daten-Collagen aus der Beliebigkeit hebt.

Manovich zeigt sich immer wieder als ein von der Masse, der schieren Quantität des Digitalen überwältigter Denker. So erklärt er in einem Nebensatz die Debatten der kunstwissenschaftlichen Bildtheorie für obsolet, da diese sich "nur" mit einzelnen Bildern beschäftigten. Auch wenn es natürlich richtig ist, dass der Kontext der Bilder mehr über ein Feld verraten kann als ein einzelnes, verkennt Manovich doch die vielen unterschiedlichen, in fast nahezu allen wissenschaftlichen Disziplinen vorkommenden und berechtigten Motivationen, sich mit Bildern zu beschäftigen. Solche Angriffe sind auch aus Manovichs offensichtlicher Begeisterung für neue Ebenen des digitalen Bilds wie die Metadaten (Angaben über die Eigenschaften einer (Bild-)Datei wie Größe, Datum, Pixelanzahl etc...) heraus zu verstehen. Die zunehmende Erweiterung der Metadaten lässt ihn davon träumen, dass künftig Computer eine bislang fehlende Sprache zur vollkommenen Erfassung von Bildern auf mathematischer Grundlage exakt beherschen werden, damit sie die Bilder nicht nur aufgrund ihrer Basis-Metadaten suchen und finden, sondern diese auch interpretieren können. Aber auch hier kommt Manovich am Ende zu der Einsicht, dass jede Bilddatenbank, jeder Computer nur das imstande ist zu leisten, was der Mensch ihm in mühevoller Arbeit beigebracht hat.

Überhaupt ist die "Datenbank" ein zentraler Begriff im Denken Manovichs. Besonders Bilddatenbanken sollen in einer Art Schnittstellenfunktion die Bilderflut bändigen, die durch die Digitalisierung einen extremen Schub erhielt, und einen anderen, genaueren Zugriff auf die Realität ermöglichen.

Im Gegensatz zu jenen Stimmen, die in der Digitalität den Dämon eines manipulierenden Gauklertums sehen und das Verschwinden "der äußeren Wirklichkeit" der Bilder befürchten, sieht Manovich in der digitalen Bilderflut die Chance auf einen nie zuvor möglich gewesenen dichten, umfassenden Zugriff der Kunst auf die Wirklichkeit. In diesem Material, urbar gemacht durch die Collagetechnik, liege, so Manovich, das wahre revolutionäre Potenzial für einen direkteren Zugang der Kunst zur Realität. Den Stellenwert des durch die Nutzung von Mini-DV-Kameras entstandenden "DV-Realismus", berühmt geworden durch Dogma 95, schätzt Manovich dagegen nicht so hoch ein. Als Künstler weiß er, dass Kunstwerke immer inszeniert werden, egal ob sie nun authentisch oder besonders illusionär wirken mögen. Am Beispiel der Kinogeschichte zeigt er, wie sich seit deren Anfängen realistische wie auch illusionistische Strömungen nahezu dialektisch einander bedingen. Im digitalen Effektekino Hollywoods wie auch in dem "DV-Realismus" etwa von Dogma 95 setzen sich, so Manovich, nur diese beiden Tendenzen des Kinos weiter fort.

Auch hier sind Manovichs Ausführungen sehr inspirierend und innovativ, allerdings auch mit Vorsicht zu genießen. Dabei muss man Manovich nicht einmal vorwerfen, dass er die ästhetischen Sensationen der digital bewegten Bilder unterschlägt, etwa das durch Mini-DV-Kameras möglich gewordende radikale Bewegungskino. Dies ist durch die Textform des Essays und auch durch Manovichs Thesen zu erklären. Doch kann man Manovichs Realismuskonzept vorwerfen, dass auch die Masse der Bilder nicht wirklich neu ist, dass sie nur durch die Digitalität gesteigert wurde. Spätestens seit der technischen Reproduzierbarkeit der Kunst sind in nahezu allen Bereichen Archive und Datenbanken angelegt worden. Darüber hinaus kann Manovich für seine Idee einer Datenbank keine ausgereifte Lösung für das Problem anbieten, wie aus der unendlichen Masse von Rohmaterial ein Kunstwerk entstehen soll, das den menschlichen Rezeptionsfähigkeiten angepasst, in irgendeiner Form rezipierbar sein kann. Kein Mensch, kein Künstlerkollektiv kann wirklich eine umfassende Sichtung und Bearbeitung der unendlichen Bilderflut leisten. Und, zumindest noch nicht in unmittelbarer Zukunft, auch keine noch so intelligente Software.

Die Nähe des Theoretikers zum Künstler Manovich birgt zwar manchmal die Gefahr, das er vor lauter Begeisterung für ein technisches Verfahren dessen Stellenwert überschätzt. Doch nicht nur wegen der ansteckenden Begeisterung des Autors ist "Black Box - White Cube" eine spannende und anregende Lektüre. Allen Texten kommt Manovichs genaue Kenntnis der digitalen Technik zugute. Seine hier längst nicht vollständig wiedergegebenen Argumente und Thesen bleiben so stets nachvollziehbar. Es entsteht eine Textdichte, die sich in dieser Form nicht oft finden lässt. Technik und Philosophie, Theorie und Kunst sind selten so dicht beieinander zu finden, ihre Interdependenzen werden spürbar.


Titelbild

Lev Manovich: Black Box - White Cube.
Übersetzt aus dem Englischen von Roland Voullié.
Merve Verlag, Berlin 2005.
171 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 3883961973

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