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Nicht nur Klassiker finden sich im "Mittelhochdeutschen Lesebuch" von Sabine Rolle

Von Daniel KönitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Könitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Zeitraum von 1170 bis 1230 wird in der Literaturwissenschaft gemeinhin als die erste 'Blütezeit' der deutschen Literatur bezeichnet. In diesen Jahrzehnten verfassten die versiertesten Dichter die aus heutiger Sicht bedeutendsten Werke mittelhochdeutscher Literatur. Darunter der 'Parzival' Wolframs von Eschenbach, das 'Nibelungenlied' oder aber auch die Lieder Walthers von der Vogelweide. Literarische Texte, die es zum Teil über mehr als 800 Jahre hinweg geschafft haben, im Gedächtnis von Wissenschaft und Publikum zu bleiben. Da sich die deutsche Sprache dieser Tage jedoch in erheblichem Maße von der des hohen Mittelalters unterscheidet, wurden die Texte in den meisten Fällen durch moderne Übersetzungen für das breite Publikum zugänglich und rezipierbar gemacht.

Diese sprachliche Barriere hat Sabine Rolle bei ihrem jetzt erschienenen "Mittelhochdeutschen Wörterbuch" allerdings absichtlich nicht aus dem Weg geräumt, da sie "zur Lektüre des mittelhochdeutschen Textes ermuntern" will. Also finden sich bei ihr keine neuhochdeutschen Übersetzungen der ausgewählten Texte. Was auf den ersten Blick den einen oder anderen entmutigen könnte, ist allerdings nur die halbe Wahrheit. Denn so ganz ohne Hilfe geht es ja auch nicht. Mit zahlreichen, aber in der Regel nicht zu vielen Anmerkungen hilft die Herausgeberin dem Leser den Originaltext aufzuschlüsseln. Inhaltliche Ergänzungen oder aber auch einfache Vokabelhilfen erleichtern somit das allgemeine Textverständnis. In einer jeweils den mittelhochdeutschen Texten vorangestellten kurzen Einleitung werden zusätzlich Informationen über den jeweiligen Dichter und sein sich anschließendes Werk geliefert.

Insgesamt 20 Dichter, Autoren und Werke hat Sabine Rolle für ihr "Mittelhochdeutsches Lesebuch" aus der Zeit des Hochmittelalters (1150-1350) ausgewählt und in drei unterschiedliche Kategorien eingeteilt, die eher einen rein differenzierenden Zweck als einen streng klassifizierenden erfüllen. Sie tragen jeweils die Überschrift: 'Lyrik', 'Erzählende Versliteratur' oder 'Prosa'. Was die Lyrik als Vorteil mit sich bringt, nämlich komplette oder gleich mehrere Texte eines Dichters vorstellen zu können, ist sowohl bei der Prosa als auch bei der 'Erzählenden Versliteratur' nur in Ausnahmefällen möglich. Schon allein der 'Parzival' mit seinen knapp 25.000 Versen würde den Rahmen dieses "Mittelhochdeutschen Lesebuchs" sprengen. Es handelt sich also in den meisten Fällen um Textauszüge, die mehrere hundert Verse umfassen.

Die drei Hauptkapitel sind jeweils chronologisch sortiert. So beginnt das Kapitel zur Lyrik mit dem bekanntesten Vertreter des Donauländischen Minnesangs, dem so genannten Kürenberger. Hier findet sich mit dem berühmten "Falkenlied" auch ein Beleg für die im frühen Minnesang seltene Form der Mehrstrophigkeit. Textbeispiele der später dann überwiegend durch französische Einflüsse geprägten Lyrik der Hohen Minne finden sich in den Liedern Friedrichs von Hausen, Reinmars oder Neidharts. Der wohl berühmteste Vertreter der mittelhochdeutschen Lyrik und zugleich auch der Dichter mit dem wohl facettenreichsten Œvre ist Walther von der Vogelweide, der seinem Status entsprechend auch mit zahlreichen Texten gewürdigt wird.

Die von der Herausgeberin getroffene Textauswahl enthält nicht nur einige der hochwertigsten Gedichte der mittelhochdeutschen Literatur, sondern führt teilweise auch die unterschiedlichen Subgattungen der höfischen Lyrik vor. Jedoch erfordert das von dem Leser eine gewisse Mitarbeit, da jeweils nur zu Beginn der einzelnen Unterkapitel ein entsprechender Hinweis auf die Gattungsvielfalt eines Dichters erfolgt. Auch wenn vielleicht eine Fußnote an der ein oder anderen Stelle die Zuordnung eines Textes zu seiner Subgattung erleichtert hätte, so muss bereits an dieser Stelle auf das sehr gut in die Gattungen der mittelhochdeutschen Literatur einführende Kapitel hingewiesen werden, das die Herausgeberin an den Anfang ihres Buches gestellt hat. So fällt es dem Leser in der Folge auch nicht schwer, Beispiele für das Kreuzlied, Lebenslehren oder politische Sprüche zu finden. Was der Laie womöglich nicht vermissen, der Kenner der mittelhochdeutschen Literatur aber innerhalb des Kapitels Lyrik als Mangel empfinden wird, ist das Fehlen von 'Tageliedern'. Eine Textgattung, die die unglückliche Trennung zweier Liebenden am anschließenden Morgen einer heimlich gemeinsam verbrachten Nacht zum Thema hat. Lediglich das Lied 'Sô ez iener nâhet deme tage' findet sich unter den Texten Reinmars, stellt aber noch nicht einmal den Idealtyp dieser Gattung dar. Um so unverständlicher ist dieses Versäumnis, da Sabine Rolle in dem bereits erwähnten Einführungskapitel hervorhebt, dass "[e]inige der schönsten und in ihrer Bildsprache packendsten Tagelieder" von dem vorwiegend als Parzival-Dichter bekannten Wolfram von Eschenbach stammen. Weshalb schließlich Texte wie 'Den morgenblic bî wahtaeres sange erkôs' oder 'Sîne klâwen durch die wolken sint geslagen' nicht im "Mittelhochdeutschen Lesebuch" auftauchen, bleibt wohl ein Geheimnis der Herausgeberin. Wolfram von Eschenbach wäre dann als einziger Dichter in zwei Gattungsgruppen vertreten gewesen, in der Lyrik und in der Erzählenden Versliteratur. Eine Ausnahmestellung, die seinen literarhistorischen Rang durchaus widergespiegelt hätte.

Mit insgesamt 11 Textbeispielen bildet die Erzählende Versliteratur die umfangreichste Gruppe in Sabine Rolles "Lesebuch". Vom 'Rolandslied' des Pfaffen Konrad über den 'Eneasroman' Heinrichs von Veldeke bis hin zum 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg findet der Leser nicht nur die Klassiker vor, sondern auch das eine oder andere ihm nicht so bekannte Werk wie den 'Herzog Ernst' oder Strickers 'Der begrabene Ehemann'. So ergibt sich im Hinblick auf die jeweiligen literarischen Gattungen eine regelrechte Mischgruppe, in der Heldenepos und höfischer Roman aber auch Schwankerzählung und Antiken- sowie Gralroman nebeneinander stehen. Dies lässt sich aber in diesem Fall verkraften, steht doch der umfassende Überblick über die Bandbreite mittelhochdeutscher Versliteratur an erster Stelle.

Da es sich in den meisten Fällen um Textauszüge handelt, ist die jeweilige Auswahl der Textstellen kein unwesentliches Kriterium in der Bewertung des vorliegenden Buches und bedarf daher einer differenzierteren Darstellung. Über die Auswahlkriterien und den Entscheidungsprozess der Herausgeberin lässt sich in diesem Zusammenhang leider nicht viel sagen, da beides von ihr nicht ausführlich erläutert wird. Die Texte spiegeln lediglich "subjektive Wertungen" wider und beruhen "auf den Erfahrungen" der Herausgeberin aus dem Unterricht. Nichtsdestotrotz lässt sich in fast allen Fällen die ausgewählte Textprobe als passend bewerten. So wird uns der 'Iwein' Hartmanns von Aue anhand der eindrucksvollen und zentralen Episode vorgestellt, in der der Titelheld als Folge seines "Zuspätkommens" von seiner Frau verflucht wird und dem Wahnsinn verfällt. Stellvetretend für das "Nibelungenlied" wird der berühmte Streit der beiden Königinnen Kriemhilt und Brünhild aus der 14. Aventiure des Heldenepos angeführt. Eine für den weiteren Handlungsverlauf des 'Nibelungenlieds' wichtige Episode, in der sich auch dem unkundigen Leser wesentliche Zusammenhänge der Handlung erschließen.

Unerklärlich bleibt jedoch, weshalb die Herausgeberin beim 'Parzival' Wolframs von Eschenbach, einem Werk, das gewiss nicht arm an zentralen oder spannenden Momenten ist, ausgerechnet eine Textstelle gewählt hat, in der Gawan im Mittelpunkt steht und nicht der Titelheld. Zugegeben, die Gawan-Handlung macht einen nicht unwesentlichen Teil der Gesamthandlung aus. Dennoch ist es der künftige Gralkönig Parzival, um den Wolfram von Eschenbach seinen berühmten Versroman aufgebaut, konzipiert und eben auch benannt hat. Die von Parzival verpasste Erlösungsfrage auf der Gralsburg, seine Begegnung mit dem Einsiedler Trevrizent oder sein Auftritt am Artushof. Jede dieser drei Episoden wäre geeigneter und repräsentativer gewesen als die ausgewählte erste Begegnung zwischen Gawan und Orgeluse, seine große Liebe, in deren Dienst er sich stellt. Durch diese Auswahl wird gerade für den nicht so kundigen Leser ein falscher inhaltlicher Eindruck vermittelt. Da das Werk Wolframs von Eschenbach nun einmal zwei zentrale Heldenfiguren enthält, Parzival und Gawan, ist es doch am naheliegendsten, eine Textstelle zu wählen, in der auch beide Protagonisten auftreten bzw. sogar interagieren. Die Rede ist von der berühmten Blutstropfen-Szene, ohnehin eine der zentralsten Stellen des Gralromans. Gerade beim 'Parzival', wo die Entscheidung offensichtlich zu sein scheint, unterlief der Herausgeberin ein unverständlicher Fehlgriff. Im gesamten "Mittelhochdeutschen Lesebuch" allerdings der einzige dieser Art.

Den Abschluss bildet ein Kapitel, das Beispiele der mittelhochdeutschen Prosa vorführt. Mit insgesamt vier Textzeugen stellt die Prosa, ein in der Breite nicht so populäres Feld der mittelhochdeutschen Literatur, die kleinste Gruppe dar. Aber auch hier hat Sabine Rolle mit dem 'Buch der Natur' Konrads von Megenberg oder aber dem 'Sachsenspiegel' Eikes von Repgow, jenem im 1. Drittel des 13. Jahrhunderts verfassten Rechtsbuch, das in einigen Teilen Deutschlands sogar noch bis in das 19. Jahrhundert maßgeblich war, eine zufrieden stellende Auswahl getroffen.

Das "Mittelhochdeutsche Lesebuch" bietet mit seiner gesamten Textauswahl, hier bleibt der 'Parzival' die erwähnte Ausnahme, eine gelungene Mischung und präsentiert dem Kenner wie dem interessierten Neuleser einen breiten Querschnitt durch die mittelhochdeutsche Literatur des Hohen Mittelalters. Abgerundet wird das Buch erstens mit den einleitenden Kapiteln 'Autoren und Publikum', 'Gattungen', und 'Von der Handschrift zur Edition', zweitens mit einer umfangreichen Bibliografie, die Textausgaben, Wörterbücher, Grammatiken, Literaturgeschichten und auch eine Vielzahl weiterer einschlägiger Publikationen zusammenträgt und drittens mit insgesamt 10 Abbildungen, die entweder werkbezogenen oder veranschaulichenden Charakter haben.

Am Ende steht ein ordentlicher Versuch im Bücherregal, die mittelhochdeutsche Literatur des Hohen Mittelalters in Auszügen vorzustellen und dabei den Kontakt zur Originalsprache gewahrt zu haben. Dass sich aufgrund der unterschiedlichen Quellen manche Worte in mehreren Schreibvarianten wieder finden lassen, ist für ein "Mittelhochdeutsches Lesebuch" unvermeidbar. Sehr wohl vermeidbar wäre es jedoch gewesen, bei der abschließenden Begutachtung des Buchs darauf zu achten, dass entsprechende Fußnoten auch jeweils an dem für sie vorgesehenen Platz stehen, was bedauerlicherweise des Öfteren nicht gelungen ist.


Titelbild

Sabine Rolle (Hg.): Mittelhochdeutsches Lesebuch.
De Gruyter, Berlin 2005.
273 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-10: 3110177722

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