Nachrichten aus den Treibhäusern

Über Klaus Johanns ausführliche Studie zur deutschsprachigen Internatsliteratur

Von Jörg SaderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Sader

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach Stephan Wackwitz' griffiger Formel führen Internatsromane "den Leser direkt ins Herz der Gesellschaften, in denen sie entstanden sind. Internatserziehung ist öffentliche Sozialisation." Eine Öffentlichkeit jedoch auf begrenztem Raum, bewacht und kontrolliert, aber mit dem vollen Druck der jeweils herrschenden Moral, die selbst da, wo es um die Produktion von Eliten geht, mit autoritären Konzepten an junge Menschen weitergegeben wird. Wer, polemisch gesprochen, vernünftige und nützliche, d. h. angepasste, duckmäuserische Erwachsene heranziehen will, dem wird es gefallen, Internate (und ähnlichen Einrichtungen) als Orte der Haltgebung und sinnvollen Grenzsetzung zu sehen, die der "Innenstabilisierung des Menschen" (Gehlen) dienen; er verschließt dann freilich die Augen vor ihrem Zurichtungscharakter und fragt nicht mehr, ob es sich hier in Wirklichkeit nicht eher um "Disziplinarinstitutionen" (Foucault) handeln könnte, um "totale Institutionen", die im Grunde nichts anderes sind als "Treibhäuser", in denen versucht wird, "den Charakter von Menschen zu ändern" (Gofmann). Die Frage ist vor allem an die Literatur zu richten: Haben diese Treibhäuser literarische Spuren hinterlassen, am Ende gar zu einem eigenständigen literarischen Genre geführt?

Sie haben, sagt Klaus Johanns gut 700 Seiten starke, aus seiner Münsteraner Dissertation her vorgegangene Monografie - und: Internatsliteratur ist keineswegs ein literarisches Randphänomen. Um den Nachweis dieser Behauptung zu erbringen, durfte sich die Arbeit weder mit dem Hinweis auf die Handvoll thematisch relevanter (und bekannter) Texte begnügen, darunter natürlich Hermann Hesse und Robert Musil, noch sich darauf beschränken, lediglich dem Internat im eigentlichen Sinne auf die literarische Spur zu kommen. Vielmehr musste, wenn es das Ziel der Studie war, für diese bislang offenbar wenig gewürdigte, obwohl seit mehr als einem Jahrhundert ständig wachsende Literatur ein (literaturwissenschaftliches) Bewusstsein zu schaffen, das Thema weiter und grundsätzlicher gefasst werden: Denn natürlich sind auch Klosterschulen, Landerziehungsheime, Erziehungsanstalten, Stifte und Waisenhäuser (um nur die gängigsten dieser Drangsalierungseinrichtungen zu nennen) in Betracht zu ziehen, wenn es darum geht, den Facettenreichtum dieses Genres ins Bewusstsein zu heben, das sich laut Klaus Johann bereits um 1900 als "romanfüllendes" Thema zu etablieren beginnt.

Beweise für den Facettenreichtum der Internatsliteratur erbringt die Studie in Hülle und Fülle. Zunächst mit einer - zumindest thematischen - Bestandsaufnahme all der Romane, Novellen und Erzählungen, der autobiografischen Texte, (seltenen) Drehbücher und (noch selteneren) Stücke, die das Sujet in dieser oder jener Form verhandeln - eine Art literaturwissenschaftlicher Erstsichtung und -erfassung, die mit großer Sorgfalt registriert, was je zum Thema geschrieben worden ist. Man staunt, wer sich unter den - keineswegs nur deutschsprachigen - Literaten (Die schier unerschöpfliche Liste reicht von Klopstock bis Baudelaire, von Wieland und Schiller bis Puschkin!) und wann zu diesen bedrückenden (und nahezu immer eigenen) Grenzerfahrungen geäußert hat, wobei der Autor hier auch Texte gelten lässt, die Internatserfahrungen als ein Thema neben vielen anderen gestaltet haben, als Episode etwa oder Station im Lebenslauf innerhalb eines Kapitels.

Alles in allem gibt es hier ganz offensichtlich doch eine beachtliche Fülle von Textbeispielen zur Internatsliteratur - und daher ist es um so unverständlicher, dass die Forschung (von Ausnahmen, etwa den Untersuchungen von Hicks, Minder, v. Gersdorff und Annegret Pelz abgesehen) das Genre "bislang weitgehend ignoriert und die ihr zugehörigen Werke", so Klaus Johann, "allenfalls unter der Rubrik Schulliteratur (mit)behandelt" hat.

Über zahlreiche Erörterungsschritte - z. B. der verwandten Genres wie Schulliteratur, Bildungs- und Erziehungsroman, der Poetik des begrenzten Raumes, Jugend als Mythos, Sexualität und Leibeserziehung oder schließlich der titelgebenden Dialektik von Grenze und Halt, die als mehr oder weniger deutliche Tiefenstruktur aller zum Genre zählenden Texte angesehen wird, bereitet der Autor die Kernstücke seiner Studie vor - die detailreichen Interpretationen von Hermann Hesses "Unterm Rad" ('Mit Gewalt auf guten Wegen': Begrenzung ohne Halt) und Robert Musils "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" ("Alles ist unsicher": Unsichere Grenzen); sie nehmen insgesamt mehr als 300 Seiten des voluminösen Bandes in Anspruch und fördern dabei auch bekannte Erkenntnisse zu Tage, was bei der Prominenz der beiden Schlüsseltexte wohl nicht zu umgehen war. Unter`m Strich jedoch erhält der Leser ein abgerundetes, differenziertes, durch eine Fülle von Einzelaspekten bestechendes Bild: sehr genau und umsichtig geht der Autor den Figuren der Schüler als personifizierte Modelle des Verhaltens gegenüber der eingrenzende Ordnung des Internatslebens nach, untersucht die Rolle der Dichtung und Kunst als Möglichkeiten der Ab- und Entgrenzung, die Aspekte 'Homoerotik' und (im "Törleß") 'Erotik und Sexualität als Grenzüberschreitungen', schließlich die Bozena-Episode und lotet ausführlich die naheliegende Metaphorik von Grenze, Begrenzung, Grenzüberschreitung und eingegrenzter Natur am Beispiel Garten, Bordell und Konvikt aus.

Auch das zweite Hauptkapitel ("Einblicke - Ausblicke - Überblicke") spielt die Dialektik von Grenze und Halt durch, diesmal allerdings eher kursorisch an Spezialformen der Internatsliteratur: an Texten, die entweder katholische Internate, Mädcheninternate oder entsprechende Einrichtungen im "Dritten Reich" zum alleinigen Thema haben. Ein vierter Unterpunkt gilt der "Unwirklichen Internatsliteratur", einer Gruppe von Texten (etwa von Wedekind oder Robert Walser), die Klaus Johann gern, wäre der Begriff nicht bereits besetzt, als 'surreale' Ausprägung des Genres bezeichnet hätte.

Beizupflichten ist dem methodischen Hinweis des Autors hinsichtlich der autobiografischen Bezüglichkeiten, die in der Internatsliteratur einen stärkeren Einfluss nehmen (können) als in anderen Genres; er warnt ausdrücklich vor der Gefahr, diese Texte lediglich auf die Übereinstimmung von literarischer Fiktion und historisch-biografischen Tatsachen hin zu überprüfen, sich also mit der Freilegung rein dokumentarischer Erkenntnisse zu begnügen. Das sprachlich-literaturwissenschaftliche Interesse, das in erster Linie der Fiktionalität eines Textes, seiner Literarizität, zu gelten hat, wäre dadurch verfehlt; mehr als andere laden die Texte der Internatsliteratur allerdings dazu ein, für ihre Interpretationen auch außerästhetische Gesichtspunkte (z. B. historische, soziologische und psychologische Perspektiven) zu berücksichtigen, gehen aber nicht in ihnen auf.

Die Umstände und Vorgänge eines Internats, sein (keineswegs nur metaphorischer) Status als Welt im kleinen und (in jeder Hinsicht leider) getreues Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft haben in der Literatur - das zeigt Klaus Johanns Studie überdeutlich - eindrucksvolle Spuren hinterlassen, die eine stärkere Beschäftigung seitens der Literaturwissenschaft nicht nur wünschenswert, sondern geradezu erforderlich machen. In dieser Überzeugung wird der Leser bestärkt, wenn er die umfangreichen Apparate durcharbeitet: auf die Bibliografie der Primär- und Sekundärliteratur folgt eine "Annotierte Bibliographie zur Internatsliteratur", eine Art work in progress, die laut Autor fortzuschreiben wäre (S. 649-725); sie setzt ein mit den Geschichten des Klosters St. Gallen von Ekkehard IV (um 1040) und endet mit Texten von Peter Härtling, Stefan Wackwitz und Burkhard Spinnen. Eine Bibliografie spezieller Sekundärliteratur auf deutsch und englisch beschließt den Band.

Wer sich für Internatsliteratur interessiert, wird das Buch mit großem Gewinn lesen. Er wird allerdings die Hürde der Ausführlichkeit nehmen müssen und sich dabei womöglich an das gängige Vorurteil erinnert fühlen, wonach gedruckte Dissertationen als unlesbar gelten, weil zu fachspezifisch, zu detailverliebt oder einfach verwirrend durch das permanente Sperrfeuer der Fußnoten (in dieser Arbeit immerhin 2530!), das jeden ohnehin zu langen Satz gründlich zerschlägt. Lesbar ist diese Arbeit allerdings sehr, auch wenn der mächtige Stollen, den sie in ihr Thema treibt, sich von Mal zu Mal mehr zu verzweigen und zu verästeln scheint und den Leser dann leicht hilflos zurücklässt. Aber ohne diese minutiöse (und seitenfüllende) Recherchearbeit wäre dieses instruktive "Kompendium zu gesamten Internatsliteratur" wohl einfach nicht zu haben gewesen.


Titelbild

Klaus Johann: Grenze und Halt: Der Einzelne im "Haus der Regeln". Zur deutschsprachigen Internatsliteratur.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2003.
727 Seiten, 76,00 EUR.
ISBN-10: 3825315991

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