Das Leben des Brian

David Nicholls stellt keine weiteren Fragen

Von Tamar NoortRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tamar Noort

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Leben ist ein Rätsel, ein immer währender Lernprozess. Schon die Griechen wussten, dass sich das Staunen lohnt, und die Sesamstraße trichtert den Kleinsten seit Jahrzehnten die Erkenntnis ein, dass dumm bleibt, wer nicht fragt. Fragen stellen - darin ist Brian, der Held im ersten Roman des britischen Drehbuchautors David Nicholls, ziemlich gut. Wenn er sich auch mit den Antworten schwer tut. Denn das Leben des Brian ist kein Zuckerschlecken. Soeben an der Uni angekommen, erfährt der Literaturstudent bitter, dass der Verhaltenskodex, den er sich zurecht gelegt hatte, weder bei aufregenden Frauen noch bei zu beindruckenden Professoren Wirkung zeigt.

Brian, noch nicht mal zwanzig Jahre alt, befindet sich in einem Urwald aus Fragen. Wie klatscht man stilsicher an der richtigen Stelle bei klassischen Konzerten? Wie raucht man, ohne zu husten? Was sagt ein Mann, wenn Herz und Hirn angesichts der Schönheit einer Frau verstummen, es für ihre Zuneigung aber dringend eines klugen Satzes bedarf? Brian verirrt sich in einem Dschungel aus Fragen, der sich gar nicht lichten kann, solange er nicht die grundsätzlichste aller Fragen geklärt hat. Das große ,Wer Bin Ich', das über den Kopf eines jeden Teenagers schwebt, beherrscht auch Brian Tag und Nacht. Bin ich Grufti? Bin ich schwul? Bin ich jüdisch? katholisch? Manisch-depressiv? Adoptiert? Habe ich hellseherische Kräfte?, fragt er sich.

Geht man gemeinhin davon aus, dass das Stellen der Identitätsfrage zu ihrer Klärung beiträgt, so hat sie bei Brian eher den gegenteiligen Effekt. Anstatt zum Kern seiner Persönlichkeit vorzudringen, reicht ihm das Grübeln über den, der er sein könnte, als identitätsstiftendes Merkmal aus. Das Ringen um Antworten ist ihm zur Lebensform geworden. Er gefällt sich in der Rolle des tiefgründigen Suchers und strukturiert sich mit seinen Fragen eine künstliche Identität, die brüchig wird, sobald er mit der Realität konfrontiert wird. Aus den Eigenschaften verschiedener Romanhelden, die er liebt und deren Verhaltensweisen er bis ins Kleinste studiert hat, schustert er sich eine Identität zusammen. Solange Brian auf der Suche nach Antworten zu Fragen, die er nicht selbst gestellt hat, um sich selbst herumkreist, muss er sich nicht mit dem auseinandersetzen, was sich in der Mitte des Kreises befindet. Brian traut sich nicht, erwachsen zu werden.

Seine zur Lebensart erhobene Suche nach Antworten manifestiert sich konkret in seinem sehnlichsten Wunsch, am University Challenge teilzunehmen, dem berühmtesten Fernsehquiz Englands. Teams von verschiedenen Unis treten gegeneinander an, um Wissensfragen zu beantworten. University Challenge ist Brians Insel im Meer der Fragen, das Paradies des Wissens. Die Suche nach Antworten ist hier institutionalisiert und führt zu einem konkreten Ziel, der Siegestrophäe. Doch der Weg ins Team seiner Universität ist nicht leicht und übersät mit den schlimmsten Fettnäpfen, die sich ein Heranwachsender so vorstellen kann.

Das Buch über Brians Freud und Leid zu lesen ist eine Wonne. Nicht nur, weil Davis Nicholls die Fettnäpfe, in die sein Protagonist frohgemut stolpert, so pointiert zu erzählen vermag, dass dem Leser die Lacher vor miterlebter Peinlichkeit im Halse stecken bleiben. Dass Brians Charakter zwischen den Seiten so lebendig wird, ist auch der Struktur des Buchs zu verdanken. Sie spiegelt Brians Suche nach Antworten als Lebenssinn, indem jedes Kapitel mit einer Frage und Antwort aus originalen University Challenge- Sendungen überschrieben ist. Inhaltlich geben die Fragen einen Hinweis auf die Handlung im kommenden Kapitel. Nicholls legitimiert damit Brians Suche nach den richtigen Antworten im Leben; indem die Quizfragen leitmotivisch Brians Erlebnissen voran gestellt werden, geraten sie tatsächlich zu seinem Lebensinhalt. Nicholls will dem Leser nicht Brians wahres Ich zeigen. Vielmehr ist der Leser gefragt, sich von einzelnen Versatzstücken dieser brüchigen Identität ein eigenes Bild zu machen. Dennoch bindet Nicholls seine Leser an die Hauptfigur. Er hat für dieses Buch eine Ich-Perspektive gewählt; Brian erzählt dem Leser selbst, was ihm in seinem ersten Studienjahr widerfahren ist. Der Tonfall ist leicht. Seine Gedanken schweifen gern ab, er teilt dem Leser mit, was ihm gerade in den Kopf kommt. So vermittelt Nicholls dem Leser das Gefühl, an einer Privataudienz des Teenagers teilzunehmen; er dringt in seine tiefsten Gefühle und Gedanken ein. Die Nähe, die der Leser verspürt, vermittelt einen Eindruck von Authentizität. Einen Jungen wie Brian kannte jeder mal, wenn man nicht sogar vieles an ihm in sich selbst wieder erkennt. Mit jedem neuen Kapitel aber macht Nicholls deutlich, dass Brian dabei ist, den Leser auf den Arm zu nehmen. Indem jedes seiner Erlebnisse mit einer Quizfrage überschrieben ist, muss dem Lesenden deutlich werden, dass er sich nach wie vor nur im der Umlaufbahn befindet, die Brians Kern umkreist. Brians Kommentare zu seinen Erlebnissen gestalten sich derweil so selbstironisch, dass es scheint, als wüsste er inzwischen um seine Position im Leben. Er scheint seinen Platz im Leben gefunden zu haben, teilt es dem Leser aber nicht mit. Und spielt den Ball damit zurück. Denn jetzt ist es am Leser, sich die Frage zu stellen: Wer ist eigentlich Brian?


Titelbild

David Nicholls: Keine weiteren Fragen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ruth Keen.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2005.
441 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-10: 3036951296

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