Zwischen Sachbuch und persönlicher Spurensuche

"Gerdas Schweigen": Die Geschichte einer Überlebenden

Von Michael GriskoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Grisko

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die ersten Seiten fielen etwas schwer. Rückblicke in eine Kindheit. Aber dann zieht einen das Buch von Knut Elstermann mehr und mehr und ganz schnell in den Bann. Denn nach einer sehr kurzen Einführung in die eigenen Familienverhältnisse begibt sich der Autor auf eine spannende Spurensuche. Knut Elstermann verschweigt nicht, dass seine Motivation sehr persönlich ist. Und wer kennt sie nicht, diese dunklen Punkte in der eigenen Familie, die auf Familienfesten und Zwiegesprächen nur als Mythen, Andeutungen und Bilder existieren. Unausgesprochenes und Unfragbares, das zwischen Neugierde und Scham unerwähnt bleibt. Der aus der ehemaligen DDR stammende Journalist hat sich auf die Recherche begeben und die Geschichte seiner Tante Gerda aufgeschrieben. In der DDR nur "die Tante aus Amerika" genannt, die man nicht nach dem in Auschwitz geborenen Kind fragen durfte, nähert er sich ihrer Biografie und ihrer Person.

Am Beginn steht die vorsichtige Kontaktaufnahme, zuerst per Telefon. Ziel: das persönliche Gespräch in Amerika. Es ist komplex. Ist die Vergangenheit doch nicht einfach die Vergangenheit. Sie war nicht nur Teil der eigenen Geschichte, sondern wurde auch zu einem Teil der Geschichte anderer. Und sie ist nicht immer gleich, auch wenn die äußeren Fakten bleiben, verändern sich doch deren Wertigkeiten in Gerdas Erleben und im Leben der Anderen. Der Flug über den großen Teich ist also mehr als nur der Flug in eine fremde Vergangenheit, es ist zugleich auch die Suche nach der Gegenwart - und auch der Zukunft.

Knut Elstermann rekonstruiert das Leben seiner Tante innerhalb von acht Tagen. Ein Gespräch und dessen Notizen. Es sind Stimmungen, kleine Beobachtungen und natürlich Gerdas Erlebnisse in der Zeit des Nationalsozialismus. Vom Leben und Untertauchen in Berlin, von der Deportation nach Auschwitz, von der Flucht und Wiedereinlieferung. Langsam nähern sich die beiden an den Kern: die Geburt des Kindes in Auschwitz. Es sind aber auch die Geschichten in der Geschichte: Personen und Schicksale, die Gerdas Weg kreuzen, für Momente Teil der Geschichte werden. Knut Elstermann sucht auch nach deren Spuren, gestattet sich innerhalb der strengen Ordnung Exkurse, Fragen und Zweifel. Er beschreibt die Folgen, trifft Personen und stellt Fragen an tschechische Archive, russische Frauen in Briefen und findet Erinnerungen in deutschen Wohnzimmern und Traumata amerikanischer Söhne. Er rekonstruiert so auch den Entstehungsprozess des Buchs, die Vorbehalte und Ängste. Es ist ein außerordentlich persönliches Dokument deutscher Vergangenheitsvergegenwärtigung, das die Komplexität von Erinnerung und Suche, individuellem und allgemeinem Erleben auf eine beeindruckend eindringliche Weise miteinander verbindet und unbedingt gelesen werden sollte.


Titelbild

Knut Elstermann: Gerdas Schweigen. Die Geschichte einer Überlebenden.
be.bra verlag, Berlin 2005.
191 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3898090663

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