Liebe, Verrat und die Suche nach einer jüdischen Identität

Leon de Winters spannender Roman "Sokolows Universum"

Von Diana SchillerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Diana Schiller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Am Sonntag, dem 23. September 1990, wurde in der Schechunat Hatikwah, einem Stadtteil im Süden von Tel Aviv, ein Mord verübt." Wie eine Kriminalgeschichte beginnt Leon de Winter seinen Roman "Sokolows Universum".

Da der niederländische Autor derzeit vor allem als Filmemacher tätig ist, wird die literarische Schaffenspause für seine deutschen Fans mit Übersetzungen älterer Bücher überbrückt. "Sokolows Universum" erschien 1992 und liegt jetzt in der deutschen Version vor.

Protagonist des eindrucksvollen Romans ist der 43-jährige Sascha Sokolow, der nach beruflichen und privaten Tiefschlägen in Russland nach Israel emigriert und dort als Straßenkehrer arbeitet. Die Geschichte setzt ein, als er bei seiner Arbeit in Tel Aviv eines Tages Zeuge eines Mordes wird und glaubt, seinen früheren Vorgesetzten und Freund Lew Lesjawa in dem Mörder wiederzuerkennen.

In Russland arbeiteten beide als angesehene Raumfahrtforscher - bis zu dem Tag, an dem die von ihm und Lew entwickelte Rakete unter ungeklärten Umständen explodierte und zwei Kosmonauten ums Leben kamen. Hatte Lew sabotiert, um einen Nebenbuhler auszuschalten? Sokolow war fest von Lews Unschuld überzeugt. Der Vorfall blieb ohne Aufklärung, beide wurden nach der Explosion der Rakete entlassen.

Seit Sokolow in Israel ist, trinkt er, um zu vergessen. Als er deshalb seinen Arbeitsplatz verliert und am Rande des Abgrundes steht, taucht Lew auf und rettet ihn aus seiner aussichtslosen Lage, indem er ihm einen Job anbietet. Sokolow erkennt schnell, dass sich Lew in den USA mit seinem erfolgreichen Unternehmen am Rande der Legalität bewegt. Der prinzipientreue Sokolow gerät in einen Gewissenskonflikt, trotzdem vertraut er seinem alten Freund...

Leon de Winter, 1954 als Sohn niederländischer Juden geboren, lässt Sokolow in dem Roman nach seiner jüdischen Identität suchen. Beide Eltern waren Juden, verheimlichten aber ihr Judentum und begannen in Russland ein neues Leben. Sokolow erfährt mit zehn Jahren zufällig von seiner wahren Abstammung und lernt gleichzeitig, dass "sein Jüdischsein etwas war, das er verheimlichen mußte". Aus diesem Grund fühlt er sich in Israel nicht heimisch, bezeichnet sich selbst als "Pseudojuden".

Leon de Winters Roman liest sich oft spannender als mancher Krimi, behandelt aber gleichzeitig Themen wie Freundschaft und Verrat, Liebe, Identitäts- oder Heimatsuche mit einem Einfühlungsvermögen, das über das psychologische Niveau gewöhnlicher Kriminalromane hinausgeht. Man leidet als Leser mit dem Protagonisten und versteht seine Verzweiflung. Aus dem Teufelskreis Alkoholismus, Arbeits- und Perspektivlosigkeit scheint es kein Entrinnen zu geben.

Das Buch gewährt dem Leser einen tiefen Einblick in die Vergangenheit Sokolows. Durch die vielen Rückblenden, die das gegenwärtige Geschehen immer wieder unterbrechen und die Spannung noch erhöhen, erfährt der Leser zunehmend mehr über den Protagonisten: über seine schulischen Hochleistungen, die plötzliche Konfrontation mit seiner jüdischen Abstammung und über seine Freundschaft mit Lew. Da auch Lew Halbjude ist, die beiden dieses Wissen von der Abstammung des anderen aber wie ein Geheimnis hüten, wird ihre Freundschaft zu einer "tieferen Verwandtschaft", einer "Blutsbrüderschaft".

Leon de Winter schafft mit den beiden Figuren sehr konträre Charaktere, die einander gerade wegen ihrer Verschiedenheit brauchen: "Sokolow brauchte Lew, um seine Prinzipien zu demonstrieren. Lew brauchte ihn, um zu beweisen, daß Frechheit siegte." Lew ist selbstbewusst, erfolgreich und skrupellos. Er tut alles, um nach oben zu gelangen, der Beste zu sein. Sokolow hingegen ist ehrlich, integer und sehr prinzipientreu. Gerade diese Ehrlichkeit, diese moralischen Skrupel lassen ihn als Verlierer enden, im Gegensatz zu Lew, der nach seiner Entlassung ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist.

De Winter genügt über seine Kunst der Spannungserzeugung und über seine psychologische Kompetenz hinaus auch literarischen Ansprüchen - mit viel Wortwitz und einiger Ironie. Es bleibt zu hoffen, dass er neben dem Filmen auf das Schreiben von Romanen nicht ganz verzichten wird.

Titelbild

Leon de Winter: Sokolows Universum.
Diogenes Verlag, Zürich 1999.
432 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3257062265

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