Gott oder die Geburt eines Helden der Weltliteratur

Hans-Peter Schmidts unorthodoxe Bibelannäherung

Von Tim Caspar BoehmeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tim Caspar Boehme

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anders als oft verlautet, ist Gott nicht tot. Vielmehr wird er wie eine Bühnenfigur von Aufführung zu Aufführung immer wieder neu zum Leben erweckt. Vielleicht ist er überhaupt nur als literarische Gestalt in die Welt gekommen. Jedenfalls kann der "literarische Geist" der Bibel als entscheidender Geburtshelfer des Religiösen gelten. Mit dieser Überlegung wählt der Autor Hans-Peter Schmidt eine kaum übliche Art, sich Gott zu nähern, doch sein Ansatz bietet nicht zuletzt die Möglichkeit, sich ohne religiöse Voreingenommenheit ernsthaft mit theologischen Fragen und ihrer Weltbild erzeugenden Rolle auseinanderzusetzen.

Im Anfang war das Wort, und aus dem Wort ward Literatur, und in der Literatur war Gott - so lässt sich das Programm pointieren, das in den Geschichten der Bibel buchstäblich zum Ausdruck gebracht wird. Diesen Ansatz verfolgt Hans-Peter Schmidt in seinem jüngst erschienenen Buch "Schicksal - Gott - Fiktion. Die Bibel als literarisches Meisterwerk". Nun mag es auf der Hand liegen, dass in den Erzählungen der Bibel, wie der von Moses' Geburt, Geschichten von Gott und der Welt erzählt werden. Allerdings sind diese Geschichten nicht einfach Erzählungen von Gott und den Menschen. In ihnen werden Gott und das Religiöse erst dadurch bedeutsam, dass sie "bloß" Geschichten sind.

Um zu dieser Einsicht zu gelangen, muss man die Bibel zunächst ganz nüchtern als das betrachten, was sie auch frei von religiösen Überzeugungen ist: der Klassiker der Weltliteratur schlechthin. Und Schmidts Ansatz besteht genau darin, die Geschichten in ihrer literarischen Form als Erzählungen ernst zu nehmen. Von der literarischen Gestalt des Textes aus gelangt man zum Religiösen als "Denkweg". Eine zumindest ungewöhnliche Vorgehensweise, wird der religiöse Gehalt der Bibel doch in der Regel als etwas von den formalen oder materialen Aspekten des Textes weit gehend Unabhängiges angesehen, und schon gar nicht als ein Produkt derselben.

Es geht Schmidt bei diesen Überlegungen nicht um eine bestimmte Form der Bibelexegese, sondern um die Frage nach der Rolle des fiktionalen Charakters des Buches der Bücher: Dieser selbst lässt sich als entscheidendes Merkmal für die Konstruktion des Religiösen ausmachen. Indem man die Bibel der Belletristik zurechnet, macht man ihr den Status als Gründungsurkunde zweier Weltreligionen damit keinesfalls streitig. Im Gegenteil, die Fiktionalität ist womöglich die ideale Darstellungs- und Vermittlungsform des Religiösen - als "kunstreiche Kreation des literarischen Geistes".

Die so gewählte Perspektive auf die Entstehung der Bibel und des Gottes des Monotheismus ist eine vollkommen außertheologische: Weit entfernt davon, eine Mitschrift des Worts Gottes zu sein, taucht Gott in der Bibel als Figur auf, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Alles, was dieser Gott erschafft, gebietet oder sonstwie den Menschen zumutet, ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Teil des verschlungenen Plots eines weit gehend anonymen Autorenkollektivs. Und obwohl das Ergebnis dieser jahrhundertelangen Schreibarbeit nicht wenige Widersprüche und Wiederholungen birgt, erfüllen auch diese mutmaßlichen Unstimmigkeiten ihren religionsstiftenden Zweck - mit rein literarischen Mitteln.

Die Bibel ist indes nicht bloß Literatur, sondern bringt zugleich das Wesen der Literatur auf den Punkt: "Die Literatur ist die einzige Möglichkeit, in der Welt auf die Welt herabzuschauen und die Nichtigkeit sämtlicher Antworten auf die eine Frage, was und warum der Mensch in der Welt ist, zu einer großartigen Geschichte auszuformen."

Viele der Geschichten, die in der Bibel erzählt werden, können so gesehen als Literatur gelten, die über das rein Dogmatische und Ideologische hinausgeht und statt dessen eine spezifische Form der menschlichen Selbstverständigung und -vergewisserung bietet. Kein Katechismus, keine theologische oder philosophische Abhandlung könnte diesem Zweck in annähernd gelungener Form gerecht werden: "Die Literatur kommt, indem sie sich Gottes bedient, den Rätseln des Daseins viel tiefer unter die Haut, als es Philosophie oder Theologie in den Kämmerchen ihrer Logik je für möglich halten. Dabei finden auch Letztere nur dann einen Fixpunkt, wenn sie im Fiktiven ihre apriorischen Gewißheiten setzen." Die Literatur hingegen "kann den Zweifelsraum ausgestalten", um so "die Polyvalenz der Welträtsel in eine Einheit zu bringen". Auf diese Weise wird die Literatur zur "Welt- und Gottesbildprüfung" und zur "Konstruktionsmöglichkeit von Weltbildern".

Die Figur Gottes dient dem Menschen in erster Linie dazu, sich als Mensch seiner selbst zu vergewissern. Gott hat vor allem die Aufgabe, den Menschen vom erdrückenden Gedanken zu befreien, den willkürlich wütenden Kräften des Schicksals ausgeliefert zu sein. Indem sich der Mensch in der Bibel auf Gott bezieht, schreibt er sich seine eigene Erzählung und gibt sich einen Sinn, sodass das Universum nicht gänzlich bedeutungsleer ist, sondern einem Plan gehorcht, der dem Menschen darin eine Aufgabe zuweist.

Doch auch Gott würde in dieser Erzählung keine wirklich tragende Rolle spielen, gäbe es nicht weitere Helden der Bibel - der hebräischen Bibel, um genau zu sein. Gottes wichtigstes Gegenüber ist das Volk Israel. Und auch wenn diese Figur ungleich realistischer ist als Gott, ist sie in der Bibel nicht minder fiktional. Israel und Gott sind "Spielfiguren": Indem man beide figuralisiert, öffnet sich ein literarischer Raum, in dem sich das Selbst- und Weltbild Israels entwickeln kann.

Eine solche Konstellation ist laut Schmidt keinesfalls bloß für Israeliten interessant, denn dadurch, dass das Volk Israel Literatur wird, wird es eine allgemeine Figur nicht nur Israels, sondern auch des Menschen. Das Volk Israel wird in der Bibel über den Gerechtigkeitsbegriff eingeführt. Es ist die Gerechtigkeit Gottes, die dem Volk seine Befreiung vom Schicksal gestattet und durch die die Freiheit als Idee überhaupt erst möglich wird. Die Bibel stellt unter anderem einen Versuch dar, sich als Volk diese Freiheit zu schaffen und sie zugleich zu verwalten, obwohl sie nur Fiktion ist. Dadurch besteht in der Bibel eine Verbindung von Ethik und Literatur, die über bloß religiöse Moral weit hinausführt.

Auch in der Geschichte von Moses' Geburt und Rettung, mit der das Buch Exodus beginnt, lässt sich eine solche Verbindung erkennen. In dieser Geschichte wird auf mehreren Ebenen angedeutet, was es mit der Rede vom Volk Israel als der "Braut Gottes" auf sich haben könnte. Moses selbst wird Schmidt zufolge als weiblich geprägte Figur geschildert, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass er vaterlos aufwächst. Seine weiblichen Charakterzüge schlagen sich zudem in seinem Umgang mit dem Gesetz nieder, der in seiner Gewitztheit ganz dem Vorbild seiner Retterinnen gleichkommt, der "begnadeten Intrige dreier Frauen": der Hebamme, die ihn bei Geburt am Leben ließ; der Mutter, die ihn auf Geheiß des Pharaos zwar in den Nil warf, jedoch in einem wasserdichten Kasten und in der Nähe der badenden Pharaonentochter; und auch Letztere selbst spielt mit, indem sie, das Spiel der Mutter durchschauend, nicht nur Mitleid mit dem Kind zeigt, sondern die Mutter sogar als Amme des Kinds anstellt. Moses verdankt sein Leben also in dreifacher Hinsicht dem "Mutterwitz", einem listigen Missachten der Befehle des Herrschers, das nicht ohne Charme ist. Diese "typisch weiblichen" vorgeburtlichen Einflüsse sollen für Moses' gesamtes Leben kennzeichnend werden.

Die "Mutterseele und ihre verschlagene Schlauheit", die der Autor als "Korrelativ zur Schicksalsergebenheit der Macht der Herrschenden gegenüber" betrachtet, wird für Moses bestimmend und damit prägend für "sein" Volk. Alles andere als lammfromm und gottergeben zeichnet es sich, zumindest literarisch, immer wieder durch seine Gewitztheit Gott gegenüber aus. Die Gebote Gottes werden nicht immer nur befolgt, sondern manchmal auch zu Gunsten von eigener Intuition und moralischem Empfinden überstrapaziert oder gänzlich ausgesetzt, in "weiblichem Ungehorsam hin zu einer höheren Gerechtigkeit". In diesem Sinne ist das Volk Israel in seinen entscheidenden Charakterzügen und vor allem in seinem Verhältnis zu Gott "weiblich" geprägt. Womit das Bild der Bibel als abschreckendes Beispiel für frauenfeindliche Literatur etwas ins Wanken gerät.

Die Geschichte von Moses' Geburt und Rettung ist eines der vielen Beispiele in Schmidts Buch für dessen "reiche Phänomenologie des Literarischen", wie Jan Assmann sie im Vorwort nennt. Als Vorbilder für Schmidts Vorgehensweise könnten am ehesten Literaturwissenschaftler aus dem angelsächsischen Raum wie Robert Alter oder Frank Kermode herangezogen werden. Deren rein literaturwissenschaftliche Bibelinterpretationen sind in Deutschland bisher wenig rezipiert worden. Ihre Titel zum Thema wie etwa Robert Alters Klassiker "The Art of Biblical Narrative" sind noch nicht einmal ins Deutsche übersetzt. Über den literaturwissenschaftlichen Ansatz dieser Autoren geht Schmidt mit seinem Buch jedoch weit hinaus. Seine Strategie lässt sich wohl am besten als "literaturphilosophisch" bezeichnen, um zu charakterisieren, dass es ihm hauptsächlich um den "Weltbild schaffenden" Gehalt der biblischen Texte geht, der in ihrer literarischen Gestalt steckt.

Die Lesarten, die in dem spannend zu lesenden Buch angeboten werden, vermögen nicht nur den Gehalt der Bibel in ungewohnter Perspektive aufzuschlüsseln. Indem sie auf dem literarischen Charakter der Bibel insistieren, machen sie auch neugierig darauf, das "Buch der Bücher" neu zu lesen. Wem daran gelegen ist, die Bibel davor zu bewahren, von mehr oder minder fundamentalistischen Theologen monopolisiert und ansonsten als Kulturgut bedeutungslos zu werden, der kann sich durch Schmidts Buch gründlich dazu anregen lassen. Auf die Frage: "Warum überhaupt die Bibel lesen?" gibt es darin für A- wie für Theisten genügend überzeugende Antworten.


Titelbild

Hans-Peter Schmidt: Schicksal - Gott - Fiktion. Die Bibel als literarisches Meisterwerk.
Schöningh Verlag, Paderborn 2005.
167 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-10: 3506713922

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