Höhenflüge und Abstürze

Miral al-Tahawi sucht nach einem weiblichen Lebensmodell im modernen Ägypten

Von Doris RuheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Ruhe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Sieben-Monats-Kind und ein Mädchen noch dazu - schlechter könnten die Startbedingungen für ein Leben in einem ägyptischen Dorf kaum sein. "Und schlägt das letzte Stündelein, gibt's weit und breit kein Jüngelein, zum Trost in größter Not": Mit diesem Lied empfängt eine der beiden Großmütter enttäuscht das Neugeborene, das sie wegen seiner blässlichen Hautfarbe als "blaue Aubergine" bezeichnet. Die andere hält es erst gar nicht für nötig, die Geburt eines Mädchens zu begrüßen; sie erscheint erst, als ein Bruder geboren wird.

Dass Töchter in der arabischen Familie wenig gelten, braucht nicht erst gesagt zu werden. Aber welche psychischen Verheerungen diese Missachtung in ihnen anrichtet, hat uns selten jemand so deutlich vor Augen geführt wie die ägyptische Autorin Miral al-Tahawi in ihrem zweiten Roman, der wie sie in Interviews bekennt, stark autobiografische Züge trägt. Es ist nicht, wie man befürchten könnte, ein Pamphlet, sondern ein literarisch anspruchsvoller Text, in dem sich eine Vielfalt erzählerischer Formen - Kindheitserinnerungen, Briefe, Traumsequenzen, Zitate - zur Gestaltung eines weiblichen Lebens im modernen Ägypten zusammenfügt. Doris Kilias hat das Buch mit großem Geschick übersetzt und mit hilfreichen Wort- und Sacherklärungen versehen.

Das als "blaue Aubergine" geborene Mädchen gibt sich selbst den bedeutungsvollen Namen Nada, Nichts, denn sie ist im Jahr der größten Niederlage für die arabische Welt, im Jahr des Sechstage-Kriegs geboren. Spätestens damit wird deutlich, dass das individuelle Schicksal, das im Zentrum des Romans steht, seine Ausprägung in einem bestimmten politisch-sozialen Kontext erfährt und ständige Durchblicke auf ihn erlaubt.

Der Roman hat drei Teile, die jeweils verschieden gestaltet sind. Teil I entfaltet in fünf unterschiedlich langen Passagen das Bild einer Kindheit im Zeichen einer double-bind-Situation. Würde sie den Ansprüchen der Mutter folgen, die ihre Erziehungsziele mit Schlägen, Kneifen, Anbinden am Bettpfosten durchzusetzen sucht, so müsste Nada ihre Wildheit ablegen, nur wenig und mit gedämpfter Stimme sprechen, "kurz und gepflegt" lachen, sich "nett und gut erzogen" als Muster traditioneller Weiblichkeit präsentieren. Der Vater hingegen freut sich an ihrem Temperament; er setzt voraus, daß sie "ein Genie sei" und unterstützt sie in ihrem Traum, Weltraumforscherin zu werden. Ein Sturz von der Schaukel, dem Lieblingsspielzeug, setzt den Höhenflügen ein jähes Ende; er entstellt das Gesicht des kleinen Mädchens und macht für lange Zeit den Wunsch nach schöner Weiblichkeit zunichte - ein prägnantes Bild für die innere Zerrissenheit und das ständig vom Absturz bedrohte Selbstwertgefühl, mit dem Nada heranwächst.

Die Kindheitsgeschichte wird nicht chronologisch, sondern in der Form von Erinnerungsfragmenten erzählt, in denen der Tod des Vaters als traumatische Erfahrung vorweggenommen wird. Bereits in diesem Teil deuten sich politische Konflikte an, die in die Familie hineinreichen. Islamistische Tendenzen gewinnen die Oberhand in der Partei, der der Vater angehört, ebenso wie in der Familie. Nadas geliebter Bruder Nadir entwickelt sich zum strenggläubigen Moslem, der nicht mehr dulden will, dass der Vater Alkohol trinkt und die im Kühlschrank lagernden Bierflaschen zerschlägt. Er wird sich später die Schuld am Tod des Vaters geben.

In deutlichen Worten, die in Ägypten Aufsehen erregt haben, schildert Miral al-Tahawi, wie Nada ihre erste Menstruation erlebt, wie sich erste Schwärmereien in erotisch gefärbten Träumen niederschlagen, in denen sich die Gestalt des Vaters mit der des angehimmelten Französischlehrers vermischt. Im Traum gewährt ihr der Vater Schutz vor einer Frau, die sie bedroht, schlägt und demütigt und hinter der sich der Schatten der Mutter als Rivalin abzeichnet. Insgesamt bieten die weiblichen Nebenfiguren ein wenig positives Bild: Von der Mutter, die die Tochter als "Teufelsbrut" und "Straßengöre" beschimpft, über Großmutter Sitti, die den eigenen Sohn nicht aufziehen will ("Ich habe keine Lust, altes Pack und kleine Bälger zu bedienen."), die hoheitsvolle Scharifa, die Unfruchtbare, die als Erbe symbolhaft eine leere Holzkiste hinterlässt, bis zu Großmutter Nina, die ihr Leben einzig der Pflege ihres Körpers widmet, findet sich keine Gestalt, die als Lebensmodell für Nada taugen würde.

Sie muss wie die drei anderen Mädchen, mit denen sie während ihrer Studienzeit ein Zimmer teilt, selbst eine Lebensform für sich erfinden. Die Viererkonstellation, die den dialogreichen zweiten Teil prägt, ist ein geschickter Kunstgriff, mit dem es der Autorin gelingt, wie in einem Gesamttableau die unterschiedlichen Lösungsversuche für dieses Dilemma und die Sackgassen, in die sie führen, zusammenzufassen. Keiner der jungen Frauen gelingt es, ihr Leben auf der von ihr selbst gewünschten Bahn zu halten. Maha, die Sanfte, die bereit ist, der Tradition entsprechend zu leben, stirbt einen traurigen Tod, nachdem Schmerzen in der Brust sie am Atmen hindern - ein deutlicher Verweis auf die erstickende Atmosphäre des traditionellen Milieus. Alja steuert nach vielen Enttäuschungen eine pragmatische Lösung an, gibt ihre wissenschaftlichen Interessen auf und heiratet einen erheblich älteren Cousin, der der Meinung ist, dass "Liebe nicht unbedingt notwendig sei".

Der eigentliche Gegensatz aber tut sich zwischen Nada und Safa, dem Mädchen mit den Zöpfchen, auf. Nada kleidet sich in die Tracht der Muslimschwestern, um ihren Körper unsichtbar zu machen. Sie folgt damit den Geboten der Religion, wie sie ihr Bruder vertritt, und besänftigt zugleich die Ängste und Schuldgefühle, die ihre Erziehung sie an den weiblichen Körper zu knüpfen gelehrt hat. In ihren Träumen wird sie von Scharen von Männern verfolgt, die sie stoßen, "sodass sie strauchelt und stürzt", ihr Bruder schlägt sie, bis Blut aus ihrem Mund schießt. Im Leben aber zieht sie das Kopftuch so weit in die Stirn, dass kein Härchen sichtbar wird, bedeckt ihre Hände mit Handschuhen und befolgt mit Übereifer die religiösen Gebote. Nur im Geheimen hofft sie auf eine romantische Beziehung zu einem Mitstudenten, der sie vier Jahre lang nicht einmal bemerkt.

Die bis zur Selbstverleugnung verklemmte Nada ist das Gegenbild der zwanghaft emanzipierten Safa, die mit ebendiesem jungen Mann eine Liaison unterhält. Ohne Schonung zeigt Miral al-Tahawi die psychischen Verwerfungen, die das Verhältnis zwischen den Geschlechtern belasten: Safa nimmt bis zu Misshandlungen durch ihren Freund alles hin, um sich selbst zu beweisen, dass sie frei ist. Der Freund geriert sich als unerträglicher Sexprotz, weil er unter dem Druck der Männergesellschaft seine Potenz unentwegt unter Beweis stellen muss.

So bemerkenswert die Offenheit und Detailgenauigkeit ist, mit der Miral al-Tahawi schildert, was es für eine junge Frau in Ägypten bedeutet, sich nicht den herrschenden Konventionen zu unterwerfen, so brisant sind auch ihre politischen Stellungnahmen. Das studentische Milieu, in dem sich ihre Protagonistinnen bewegen, ist von erbitterten ideologischen Grabenkämpfen gekennzeichnet, in denen Islamisten gegen linke Gruppen, aber auch gemäßigte gegen radikale Islamisten, sozialistische gegen kommunistische Gruppierungen und alle gegen den Staatsapparat stehen. Nadas Bruder Nadir gerät zwischen die Fronten; er wird von den Islamisten als Unruhestifter ausgeschlossen, weil er der Führung nicht blinden Gehorsam leisten will und auf die strukturellen Analogien zwischen den geheimbündlerisch organisierten Islamisten und der Willkürherrschaft der korrupten Regierung hinweist. Von der Polizei verhaftet, wird er aufs Übelste misshandelt, weil man Informationen über die führenden Islamisten aus ihm herausprügeln will. Er ist durch diese Erfahrungen psychisch so geschwächt, dass er seinen Beruf als Chirurg nicht mehr ausüben kann und das Land verlässt.

Für Nada ist der Moment, in dem die Mädchengruppe zerfällt und der Bruder desillusioniert außer Landes geht, der Übergang zu einer neuen Reife. Sie beginnt wieder zu schreiben, dieses Mal aus eigenem Antrieb, ohne von irgendjemandem Anerkennung erlangen zu wollen oder ihre Texte, wie früher, dem Bruder zur Korrektur vorzulegen.

Der dritte Teil ist literarisch besonders raffiniert gestaltet. Er nimmt Elemente aus den beiden ersten Teilen auf, verwebt sie aber auf signifikante Weise mit intertextuellen Bezügen, in denen in die Kluft zwischen dem Zeugnis einer großen islamischen Tradition und einer modernen, der europäischen Aufklärung verpflichteten Rationalität illusionslos eine Realität eingefügt wird, die beiden nicht gerecht wird. Miral al-Tahawi stellt jedem der Kapitel in diesem Teil ein Zitat aus einem der berühmtesten Texte der arabischen Literatur voran. "Das Halsband der Taube" von dem mittelalterlichen Dichter Ibn Hazm ist eine Phänomenologie der Liebe, die weit entfernt ist von der Prüderie, die heutige arabische Gesellschaften zur Schau stellen und die in äußerst differenzierter Weise Gefühlsbewegungen zwischen Liebenden analysiert.

Im Kontrast dazu lässt Miral al-Tahawi ihre Protagonistin, die hier in der zweiten Person Singular angesprochen wird, von der Entwicklung einer Liebe berichten, die sie von ihrem Ende her aufrollt, als der Geliebte die Beziehung in für sie demütigender Weise abbricht. Sie nimmt dazu, entgegen der Chronologie, noch einmal ihre Kindheitserinnerungen auf und zeigt, wie nachhaltig die frühen Prägungen, der Wunsch, eine gute Tochter zu sein, ihr Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht bestimmt haben. Als sie den einen gefunden zu haben glaubt, für den sie ihre extreme Schüchternheit und Zurückhaltung aufgeben kann, schwelgt sie in süßlichen Träumen von Hochzeitsvorbereitungen und familiärem Glück und fällt damit in die Muster zurück, die die Mutter von früh auf vorgegeben hatte. Diesem Rückfall stehen rational gewonnene Einsichten gegenüber, die als Teile einer Doktorarbeit Nadas in den Text einmontiert sind. Sie bieten klarsichtige, theoretische Erkenntnisse über das Geschlechterverhältnis, die aber, wie die begleitende Handlung zeigt, ihren Weg in die Praxis bzw. in das Bewusstsein der handelnden Personen (noch) nicht gefunden haben.

Was Miral al-Tahawi mit diesem kleinen Roman vorlegt, ist ein Text, der sich jenseits gängiger Erzählmuster bewegt und einen ganz neuen, eigenwilligen Zugang zur weiblichen Autobiografie bietet, in dem die zentrale Problematik in kreisenden Bewegungen immer deutlicher und rational durchschaubarer gemacht wird, ohne dass dabei der Reiz des Erzählerischen verloren geht. Man sollte das Buch allen jenen in die Hand geben, die immer noch Texte aus einem fremden Kulturkreis als bloße témoignage-Literatur lesen, von der man künstlerische Qualität nicht erwartet. Sie werden die Kunst, mit der Miral al-Tahawi zu schreiben versteht, nicht übersehen können.


Titelbild

Miral al-Tahawi: Die blaue Aubergine. Roman.
Übersetzt aus dem Arabischen von Doris Kilias.
Unionsverlag, Zürich 2004.
192 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3293203019

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