Russisches Roulette

Eine Kriminalgeschichte "auf fremdem Terrain"

Von Katrin HagedornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katrin Hagedorn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Kriminalgeschichte. Ein Mord. Ein Opfer. Die Täter. Die Zeugenaussage und am Ende des Rätsels Lösung: Dies ist das Strickmuster für einen traditionellen Freitagabendkrimi im Fernsehen, das jeder kennt.

Ein Buch schildert die Situation anders. Vor allem dieses Buch wählt einen anderen Weg: Rußland. 20. Jahrhundert. Die ersten Tage im Oktober. Anastasija Kamenskaja ist in der "Stadt" in einem Sanatorium. Die Kriminalkommissarin des Moskauer Innenministeriums verbringt dort ihre wohlverdienten Ferien. Auf Kosten ihres Arbeitgebers soll sich die junge Beamtin erholen und ihr Rückenleiden kurieren. Völlig erschöpft betritt sie am ersten Tag ihr mit Schmiergeld bezahltes Einzelzimmer und gleichzeitig die Bühne eines kriminellen Netzes. Mit ihrer Ruhe ist es vorbei, als die Moskauerin ahnungslos in einen Mordfall verwickelt wird. Die Mafia der "Stadt" wird auf sie aufmerksam.

In einem Freitagabendspielfilm wäre der Kommissar schon längst auf einer heißen Spur. Die Aufklärung stünde kurz bevor.

Alexandra Marinina, die erfolgreichste Autorin der neunziger Jahre in Rußland, promovierte Juristin und selbst 20 Jahre im Innenministerium von Moskau tätig gewesen, beschreibt ihr altes Ego. Also eine Autobiografie, so denkt man sich. Doch schon nach wenigen Seiten wird deutlich, dass die autobiografischen Züge lediglich als Ergänzung zu den Inhaltsstoffen eines Kriminalromans dienen. Und machen glaubhaft, dass die Autorin auf dem Gebiet der kriminalistischen Ermittlungen bewandert ist.

"Auf fremdem Terrain", von dem der Titel spricht, bewegt sich nicht nur Anastasija Kamenskaja. Am Anfang fühlt man sich als Leser in ein Potpourri aus russischen Namen geworfen. Manches Mal wäre eine Kartei der Personen hilfreich. Auf der einen Seite verwirren die verschiedenen Erzählperspektiven den Leser, zeigen sie einem doch, dass man zu diesem Zeitpunkt genau so unwissend ist wie die junge Kommissarin. Allerdings ermöglichen sie einen multilateralen Blick für die verschiedenen Handlungsstränge. Eine Gruppe von Männern beobachtet die junge Frau im Schwimmbad, ihre Zimmernachbarin sucht sozialen Anschluß und Anastasija ihre Ruhe.

Der Kriminalfilm im Fernsehen macht Fortschritte. Allerdings hat er einen entscheidenden Nachteil: Es gibt nur eine, eine sehr allgemein gehaltene Perspektive.

Die im Buch jedoch nimmt man differenzierter war. Als ein Mann aus dem Sanatorium ermordet wird, bemerkt die Kriminalistin, dass in der "Stadt" mysteriöse Dinge vor sich gehen. Junge Frauen verschwinden spurlos. Ein Filmteam sucht neue Schauspielerinnen und ein Lehrer lebt seine skurrilen, krankhaften Phantasien durch Videofilme aus. Ein Zusammenhang? Als dann auch noch die in der "Stadt" herrschende Mafia um Mithilfe bei der Aufklärung des Mordes bittet, scheint die Urlaubsidylle endgültig vorbei. Anastasija Kamenskaja entscheidet sich jedoch, dem Mafiaboss zu helfen. Bei ihren Nachforschungen stößt sie auf erschreckende Fakten.

Endlich ist der Fernsehkrimi vorbei. Der Täter ist gefasst. Der Kommissar ist glücklich und die Zuschauer warten auf den nächsten Film. Ein einigermaßen spannender Abend, wenigstens für eine Dreiviertelstunde.

Das Buch: Nicht in 45 Minuten, sondern an einigen gemütlichen Abenden zuhause kann man eine Kriminalgeschichte genießen. Die anfänglichen Verwirrungen durch die unaussprechlichen Namen haben sich wie selbstverständlich verflüchtigt und zum Ende eine klare Struktur erkennen lassen. Die Erzählzeit und die erzählte Zeit sind gelegentlich fast identisch, da jedes Kapitel einen Tag des Sanatoriumaufenthalts beschreibt. Gefesselt von dem schlichten aber genauen Schreibstil kann man sich dem Geflecht aus Mafia, Polizei, Filmteam und der Kriminalistin hingeben.

Dieser Kriminalroman unterscheidet sich deutlich von einem Fernsehkrimi. Spannend und unterhaltsam wird der Leser von einer nicht perfekten Kriminalistin zu einem nicht perfekt ausgeführten Verbrechen geleitet. Und das Vergnügen ist nicht schon am Freitagabend vorbei.

Titelbild

Alexandra Marinina: Auf fremdem Terrain. Roman. Aus d. Russ. v. Felix Eder u. Thomas Wiedling.
Argon Verlag, Berlin 1999.
287 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 387024495X

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