Das Siri-Syndrom

Nicole Krauss, Jonathan Safran Foers Ehefrau, erzählt "Die Geschichte der Liebe"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Meine Mutter ließ ihre Liebe zu meinem Vater nie sterben. Sie erhielt sie so lebendig wie im Sommer ihrer ersten Begegnung. Dafür hat sie das Leben eingestellt. [Alberto Giacometti hat gesagt], manchmal müsse man, nur um einen Kopf zu malen, die ganze Gestalt aufgeben. Für ein Blatt Laub müsse man die ganze Landschaft opfern. Zuerst möge das nach Selbstbeschränkung aussehen, aber nach einer Weile werde einem bewusst, dass ein bestimmtes Gefühl (...) leichter festzuhalten sei, wenn man nur einen Quadratzentimeter nehme, anstatt den ganzen Himmel erfassen zu wollen. Meine Mutter wählte weder das Blatt noch den Kopf. Sie hatte meinen Vater auserwählt, und für ein bestimmtes Gefühl opferte sie die ganze Welt."

Es gibt Sachen, die dürfen nur blaue Wuschelmonster aussprechen. Oder Ameisen. Oder Spielfiguren. Es gibt Sätze, die furchtbar debil klingen aus dem Mund von jedem, der kein Clownfisch ist. Und es gibt Filme, die man nur in der Vorweihnachtszeit sehen darf, und man nimmt das Patenkind mit ins Kino oder die kleine Schwester, für alle Fälle, falls jemand fragt. Und schließlich gibt es Momente, da gräbt man die Finger in die Armlehne und der Magen krampft sich zusammen, weil vorne, auf der Leinwand, ein kleiner computeranimierter Junge mit einem Kopf wie eine blondierte Kartoffel sagt: "Wenn alle etwas Besonderes sind - dann ist keiner mehr etwas Besonderes."

Keine Kunst appelliert so wenig an Emotionen wie die Literatur. Wahrscheinlich, weil sie mühselig über die Augen ins Gehirn geschleift werden muss, erst dort sortiert und begriffen werden kann. Musik, Malerei, besonders Filme können mühelos Unterleibstritte austeilen oder für Gänsehaut sorgen, euphorisch machen, niederschmettern. Romane brauchen etwas länger. Zu lange, in den meisten Fällen: wenn's arg sentimental wird, fühlt sich der Leser manipuliert, geht auf Distanz. Trotzdem - die großen Lieblingsautoren, Goethe, Hesse, Kafka, Thomas Mann, Proust, waren allesamt hochemotional. Und mögen Experten noch so lange auf ihren stilistischen Stärken, ihrer tiefen psychologischen und gesellschaftskritischen Relevanz herumreiten, Romane wie "Wem die Stunde schlägt" werden nur deshalb wieder und wieder gelesen, weil sie genuine tearjerker sind. Tränendrüsendrückbücher.

Saublöd betitelt und von Rowohlt in einen lieblosen Kitsch-Umschlag gesteckt, hat Nicole Krauss, geboren 1974, mit "Die Geschichte der Liebe" einen Roman veröffentlicht, der alle Vorraussetzungen eines Lieblingsbuchs erfüllt: exzentrische Hauptfiguren, Liebesgeschichten, die über mehrere Kontinente und Jahrzehnte nichts von ihrer Intensität verlieren, Coming-of-Age-Melancholie und Vergangenheitsbewältigung. Verpackt in einem cleveren Puzzle, wendungsreich und originell erzählt.

Es geht um Alma, eine vierzehnjährige Halbwaise im New York der Gegenwart. Seit dem Tod des reiselustigen Vaters hat sich Almas Mutter zurückgezogen, ihr Bruder hält sich für den Messias, und sie selbst verarbeitet den Verlust, indem sie im Hinterhof campt, Survival-Handbücher liest und im Central Park nach essbaren Wurzeln sucht. Dann bekommt Almas Mutter den Auftrag, ein Buch namens "Die Geschichte der Liebe" ins Englische zu übertragen. Ein Buch, das ihrem toten Mann so viel bedeutete, dass sie ihre Tochter nach der Hauptfigur benannten. Alma beschließt, den geheimnisvollen Auftraggeber der Übersetzung mit ihrer Mutter zu verkuppeln...

Während die forsche - und stellenweise doch recht altkluge - Alma dem Manuskript nachspürt und ihre Recherchen in Tagebucheinträgen festhält, führt uns Krauss in einem zweiten Handlungsstrang Leo Gursky vor. Ein steinalter jüdischer Emmigrant, der nur knapp den Holocaust überlebte und jetzt ziel- und orientierungslos durch New York streift. Weil er befürchtet, zu sterben und augenblicklich vergessen zu werden, verschüttet er gern Essen in der Öffentlichkeit, stellt in Geschäften dumme Fragen und versucht, so viel Aufmerksamkeit wie möglich zu ergattern. Doch immer wieder muss er sich an seine Kindheit im Schtetl Slonim erinnern, und an die Liebe seines Lebens, die er zurücklassen musste - ein Mädchen namens Alma.

Nicole Krauss ist die Ehefrau von Jonathan Safran Foer, der 2002 mit seinem Debütroman "Alles ist erleuchtet" für Wirbel sorgte und seitdem als Wunderknabe der New Yorker Intelligenzija gilt. Humorvoll und versponnen schneidet Foer in seinen Romanen Themen und Stile gegeneinander, die kaum zusammenpassen. Slapstick und Holocaust-Verarbeitung, Märchen und Historie, Lebens- und Liebesgeschichten aus drei Generationen. In seinem Zweitling, "Extrem laut und unglaublich nah", zeichnet er ein Portrait New Yorks nach den Anschlägen vom 11. September, zieht Parallelen zum Luftangriff auf Dresden, erzählt von der Entfremdung jüdischer Paare im Exil und präsentiert ein Daumenkino von 9/11-Springern. Im Zentrum dieses Panoptikums steht ein hyperintelligenter neunjähriger Hobbyerfinder mit autistischen Zügen und autoaggressiven Schüben, der ganz New York nach dem Vermächtnis seines toten Vaters durchkämmt.

Klingt überfrachtet? Ist es nicht. Bei Foer werden die Motive angeschlagen wie Tasten auf einer Klaviatur, und jede hat nur den Zweck, neue, überraschende Emotionen auszulösen: Befremdung, Mitleid, Freude, Bewunderung, Nervosität, Beklemmung, Spaß. Das Tempo wird Seite um Seite weiter erhöht, Foer buhlt schon fast zu penetrant um die Gunst seines Publikums. Man liest nur mit dem Herzen gut: Hirn braucht man bei dieser Sorte Literatur lediglich, um nach beendeter Lektüre kopfschüttelnd festzustellen, wie verflucht gut dieser Kerl den Leser auf seine Seite ziehen kann. Und wie perfide die scheinbar lässige Schreibe zu einer genau geplanten Achterbahnfahrt arrangiert worden ist.

Doch wie das eben so ist bei Achterbahnfahrten, "Pixar"-Filmen, "24"-Staffeln, "Counting Crows"-Alben und den Macadamia-Cookies von "Subway", lässt sich dieses Niveau nicht ewig halten. Nicht, dass Foers Zweitling schlechter wäre als "Alles ist erleuchtet". Nur ist er eben... ein Foer. Und damit zwangsläufig einer völlig übersteigerten Erwartungshaltung unterworfen.

Diese Erwartungshaltung überträgt sich auch auf Nicole Krauss, und ihre "Geschichte der Liebe". Der Roman ist - stilistisch, motivisch, in seiner Erzählhaltung und seinem Aufbau, seiner Atmosphäre und seinen Figuren - den Werken ihres Ehemannes grotesk ähnlich. Es wäre absurd, hier die "Henne oder Ei?"-Frage zu stellen; ob nun Foer von Krauss beeinflusst ist oder umgekehrt, das spielt keine Rolle. Einem Liebespaar ähnliche Denkmuster vorzuwerfen, ergibt wenig Sinn. Doch fest steht, dass niemand, der Foer bereits kennt, von Krauss sonderlich begeistert sein dürfte - und umgekehrt.

Natürlich sind die Biografien von Alma, Leo und ihren Familien schicksalhaft miteinander verflochten. Und wie Krauss in schnellen Schnitten etliche kleine Geschichten zu einem Panorama über das Warten, Hoffen und Loslassen entfaltet, ist - selbstverständlich - meisterlich umgesetzt. Doch zum einen packt die Autorin eine ganze Menge Himmel in ihren Quadratzentimeter (in diesem Fall: 349 Seiten), zerrt die Handlung ein wenig zu gewollt ins Allegorische. Und zum anderen schaltet sich immer wieder das Gehirn ein: dieses Buch will so verzweifelt toll gefunden, geliebt werden, dass man nicht umhin kommt, an finstere Markforscher zu denken, an Reißbretter und Publikumsbefragungen und alternative Enden. Und gäbe es einen Soundtrack, Phil Collins würde den Titelsong singen, bestimmt auch in einer zweiten, jiddischen Version.

Der Parallelismus der beiden Autoren und ihrer Biografien doppelt sich auf einer weiteren Ebene ein zweites Mal: Foer erinnert extrem an Paul Auster. Und der wiederum ist selbst mit einer Frau verheiratet, die verkopfte Handlungskonstrukte in gefühlige Literatur verwandelt: Siri Hustvedt. Der Literaturbetrieb hat jetzt also gleich zwei Liebespaare, in deren Romanen empfindsame Juden durch den Big Apple stolpern; zudem sind diese beiden Paare auch noch privat befreundet. Wäre es nicht zu persönlich, um öffentlich behandelt zu werden - jeder der vier Autoren wäre wahrscheinlich begeistert von der Idee, einen Roman über diese vertrackte zweifache Spiegelung zu verfassen.

Doch genau wie Hustvedt droht Krauss das Schicksal des Nachkömmlings, der ewigen Zweiten. Ihre "Geschichte der Liebe" ist genauso großartig wie die Romane ihres Mannes (nur stellenweise etwas langsamer, und mutiger, was große, grenzpathetische Sätze angeht), liefert jedoch nichts - und damit meine ich wirklich: nichts - Neues.

"Wenn alle etwas Besonderes sind - dann ist keiner mehr etwas Besonderes." Auf die Romane von Nicole Krauss und Jonathan Safran Foer trifft das leider zu. Trotzdem: wer die beiden noch nicht kennt, sollte zugreifen. "Die Geschichte der Liebe" wird niemand bereuen. Zwar werden Stammleser etwas Mühe aufbringen müssen, damit an den richtigen Stellen die Tränen in die Augen schießen und die Härchen auf den Armen nach oben stehen. Aber das ist ja auch bei Achterbahnen kein Gegenargument. Oder bei computeranimierten Kinderfilmen.


Titelbild

Nicole Krauss: Die Geschichte der Liebe. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005.
349 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3498035231

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch