Zwischen Leben und Schreiben

Die Anthologie "Zur Phänomenologie des Snobs" versammelt Erzählungen, Radiofeatures und Tagebuchaufzeichnungen Gert Hofmanns

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Man muss als Besessener geboren sein, um Literatur zu machen!"

(Gert Hofmann, Eine Lanze für Flaubert)

Das im Jahr 2005 erschienene, knapp 150 Seiten starke Bändchen der 'Edition Akzente' versammelt einige ungedruckte oder nur an entlegener Stelle veröffentlichte Erzählungen und Prosastücke sowie Tagebuchauszüge Gert Hofmanns aus verschiedenen Zeiten und Phasen seines Schaffens und liest sich sehr anregend und mit Gewinn - wobei der Titel zunächst ein wenig in die Irre führen mag: "Zur Phänomenologie des Snobs. Erzählungen" löst - im direkten Konnex - zumindest einen Augenblick lang eine gewisse Irritation aus, weckt vielleicht falsche Leseerwartungen: Ist dies nun ein Band, der sich dem Snob theoretisch, literatur- und kulturgeschichtlich, auf philosophischem Wege nähert, um Aspekte einer 'Phänomenologie' des Snobismus zu skizzieren? Eine Metareflexion von Literatur? Doch: In welchem Verhältnis steht das dann zum fiktionalen Moment der 'Erzählung'? Oder ist der Snob hier selbst gleichsam in personam Gegenstand der literarischen Gestaltung?

Die vorliegende Rezension legt ihren Schwerpunkt auf drei der insgesamt fünfzehn Texte - jenen, der dem Bändchen seinen Namen gibt - "Zur Phänomenologie des Snobs" - sowie jene, in denen der Autor die Voraussetzungen seines eigenen Schreibens thematisiert und reflektiert: "Henry James oder die Begegnung mit dem Entsetzlichen" und "Vorstellung als neues Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung".

Das Radio-Feature über Henry James, gesendet im Nachtstudio des Südwestfunks am 19. November 1959, liest sich "streckenweise wie ein Selbstporträt von Gert Hofmann, als hätte er damals, noch bevor er zum Schriftsteller wurde, geahnt, was ihm blühte, wenn er sich mit Haut und Haaren auf das Schreiben einließ" (Michael Krüger). In diesem Feature treffen als Stimmen James und zwei weitere Sprecher aufeinander. En passant - in den Ausführungen der Sprecher - erfährt die Hörerin/Leserin Aspekte der Biografie James', darüber hinaus selbstreferenzielle Verortungen und Postulate des literarischen Schaffens des Autors: "Es ist wahr, man muss besessen sein, doch man sollte versuchen, die Besessenheit zu meistern".

Eingebaut sind unter anderem Passagen aus Briefen von William James an seinen Bruder Henry, in denen dieser seine Lesart der Texte Henrys schildert - Zeugnisse eines überaus sensiblen und eindringlichen Rezeptionsprozesses: "Du machst nicht den Versuch, Deine Romanfiguren riechend, tropfend und roh auf die Bühne zu zerren, wie es die meisten Schriftsteller tun. Du beschränkst dich darauf, einige wenige Tatsachen und Gespräche zu geben und den Leser dahinter ein Sein spüren zu lassen. Du willst das Ganze suggerieren. Deine Frechheit besteht dabei darin, dass du Geschichten erzählst, die gar keine Geschichten sind. Doch auch dies hat seine Berechtigung". Neben diesen direkt in das Feature einmontierten Passagen gibt es Kommentare der Sprecher zum Werk James': "Eine Handlung, meint James, und sei sie auch noch so kunstreich verschlungen und noch so packend dargebracht, bleibt stets an der Oberfläche. Denn was ist, fragt er sich, eine Handlung anderes als die letzte und sinnfällige Konsequenz einer viel weniger sinnfälligen weitverzweigten vorausgehenden Bewusstseinsarbeit?"

Die endlosen Sätze der Werke James' legen, dem Sprecher zufolge, den Prozess des Denkens in all seinen Verästelungen bloß und zeigen eine erstaunliche Expansion des menschlichen Bewusstseins an. Vergleichbar mit Hofmanns Texten ist ihr Schauplatz "der Menschenkopf, der, da es ein moderner Kopf ist, ein unübersichtlicher und heikler, von allen Seiten bedrängter, von Druck, Lärm und Gestank unablässig überfluteter, mit sich selbst und den anderen tödlich entzweiter Kopf ist". Kaum sei zu glauben, dass James' Werke nicht am Schreibtisch ersonnen wurden - um Zeit zu sparen, ging Henry James im Verlauf seines schriftstellerischen Schaffens dazu über, einem Sekretär die Romane in die Maschine zu diktieren -, sondern dass James sie sprach, sie diktierte: "Doch es gibt keine Kluft bei ihm zwischen stilisierter und spontaner Äußerung. Er spricht, wie er schreibt, und er schreibt, wie er denkt [...]. Sein Tagebuch verwandelt sich unter seiner Hand zu einem literarischen Notizbuch, aus dem seine eigene Person von erfundenen Personen verdrängt wird".

James verlangte, dass ein Autor alle die in der Wahl des Blickpunkts enthaltenen Ausdrucksmöglichkeiten erschöpfe und alle jene, die dadurch ausgeschlossen werden, meide: "Seine Freude am Vorgang des Erzählens, am effektvollen Kombinieren wird hier ganz offensichtlich. Es geht ihm nicht so sehr um die Mitteilung eines Stoffes [...]. Seine Methode ist vielmehr das Verfahren eines Technikers, der eine bewusste Beherrschung zweckmäßiger Mittel anstrebt, um ein Ziel zu erreichen".

Die ästhetische Form des Radio-Features - die Gestaltung mit zwei Sprecherstimmen und das Zu-Wort-Kommen der fiktiven Stimme des Autors - ermöglicht es Hofmann, den von ihm geschätzten Vorgänger und dessen Werk facettenreich ins Licht zu rücken und die formale und inhaltliche Bedeutung seines Œuvres polyphon zu extemporieren. "Es ist vor allem die Stimme, die seine Prosa prägt, der Ton", bemerkt Michael Krüger in seinem Nachwort. Gert Hofmann schrieb seine Bücher mehrmals neu - vollständig von der ersten bis zur letzten Seite - als wolle er seine Stimme trainieren, "bis sie den richtigen Rhythmus, die ihm gemäße Farbigkeit und Komplexität des Ausdrucks erreicht hatte. Sein unbedingter Wille zur Kunst konnte es nicht zulassen, dass auch nur ein einziger Satz nicht seinen Ansprüchen genügte. Er war mit dem einen Buch noch nicht fertig, da wollte er mit dem nächsten schon beginnen, um nur ja nicht aus dem Takt zu kommen. So hat er in größter Askese an der Melodie seiner Sprache gearbeitet".

Das am 4. September 1963 ebenfalls im Nachtstudio des Südwestfunks ausgestrahlte Radio-Feature "Leben aus zweiter Hand. Zur Phänomenologie des Snobs" setzt sich dreistimmig - in Gestalt zweier Sprecher und eines Vorlesers - mit Erscheinungsformen der Figur des Snobs auseinander und konturiert ein lebendiges Portrait dieser - neben Dandy und Flaneur sowie anderen Charakteren - exponierten Gestalt der Kultur- und Literaturgeschichte: "Snobismus ist ein äußerst komplexes Verhalten in einer komplexen Gesellschaft. Wir versuchen, einige Aspekte zu seiner Phänomenologie aufzuzeigen. Wir können uns dabei in reichem Maße auf Darstellungen der schönen Literatur berufen. Schriftsteller wie William Thackeray und Marcel Proust sind in ihren Romanen immer wieder auf die Rolle zurückgekommen, die der Snobismus in der Gesellschaft spielt, deren Beobachter sie waren. [...] Auf jeden Fall ist es die schöne Literatur, die sich mit dem Phänomen des Snobismus befasste".

Der Vorleser übernimmt in diesem Feature die Rolle, ausführliche Textpassagen aus literarischen 'Kronzeugentexten' zu verstimmlichen: "Baron de Charlus tat immer nur das, was ihm bei jeder Gelegenheit das angenehmste und das bequemste war, aber auf der Stelle wurde es von den Snobs nachgeahmt. Hatte er im Theater Durst bekommen und sich etwas zu trinken in die Loge bestellt, waren in der folgenden Woche die kleinen Salons hinter jeder einzelnen Loge mit Erfrischungen versehen. In einem regnerischen Sommer hatte er einen harmlosen Anfall von Rheumatismus und daraufhin einen leichten, aber warmen Mantel aus Vigognewolle, wie man sie für Reisedecken verwendet, unter Beibehaltung der blauen und orangefarbenen Streifen, anfertigen lassen. Die großen Schneider wurden daraufhin alsbald von ihren Kunden überlaufen, die alle langhaarige blaue Überzieher mit Fransen haben wollten".

Nicht nur in Geschmack, Sprachgebrauch und Urteil unterwerfe sich der Snob seinem gewählten Vorbild. Selbst mit seinen Instinkten noch ordne er sich ihm unter. Der Snobismus könne das Gehör, den Geschmackssinn, die erotischen und sexuellen Neigungen von Menschen beeinflussen oder transformieren.

Der Snob finde seine Befriedigung nicht im Gegenstand seiner persönlichen Neigung, sondern in einer sekundären Überlegung, die ihm freilich zur "zweiten Natur" werden könne: "Er lebt aus zweiter Hand". Dem Snob wird attestiert, ein Mensch zu sein, der - an dem Punkt seiner Anfälligkeit - sein Urteil verloren habe: "Ein Drittes, eine vorgefasste Idee, drängt sich zwischen ihn und das Phänomen, dem er gegenübersteht. Er beurteilt es weder nach seinem Eindruck noch nach den Meriten, die jenes aufzuweisen hat. Stattdessen lässt er sich in seiner Meinung von künstlichen Maßstäben leiten, die er von außen heranträgt".

Falsche Schwärmerei und geheucheltes Kennertum zeichneten - so der Erste Sprecher - den Kunstsnob aus: Er liebe weder, noch kenne er die Kunst. Doch sei er ein Meister im Simulieren von Liebe und Kennerschaft.

Auch Thackerays berühmte Definition des Snobismus bzw. des Snobs wird angeführt, der zufolge ein Snob ein Mensch sei, der "Niedriges in niedriger Weise bewundert".

Dem klassischen Snob wird außerdem "Heimatlosigkeit" bescheinigt: Er sei verschwunden mit der "guten Gesellschaft": "Was aber durchaus nicht heißen soll, dass Snobismus heute rar geworden sei. Er ist, wie das Wahlrecht, demokratisch und allgemein und nicht einer Schicht vorbehalten. In der Demokratie hat ein jeder das Recht, sein eigener Snob zu sein". Ein jeder lege heutzutage Wert darauf, seinen eigenen Snobismus zu haben.

Auf die Frage, welche Gründe zu der Entstehung von Snobismus führten, gibt der Text keine Antwort. Höchstens sei zu wiederholen, betont der Zweite Sprecher, dass gewisse soziologische und psychologische Voraussetzungen sein Aufkommen begünstigt hätten. Ein Psychologe beispielsweise werde dazu neigen, den Snobismus als eine Kompensation von Minderwertigkeitskomplexen zu erklären, als den Versuch einer schwachen Person, sich durch die illusorische Zugehörigkeit zu einer Pseudoelite eine Stärkung ihres Selbstbewusstseins zu verschaffen.

"Leben aus zweiter Hand - Zur Phänomenologie des Snobs" liest sich, insbesondere infolge seiner ästhetischen Gestaltung als Radiofeature mit mehreren Stimmen, sehr aspektreich. Dennoch bleibt, bei aller Vielschichtigkeit, manche Frage von Belang offen: Die begrifflichen Überschneidungen und Abgrenzungen zu Kultur- und Sozialcharakteren wie Flaneur, Dandy und Ästhet hätten dezidierter ausmodelliert werden können. Und: Der Blick auf den Snob erscheint an mancher Stelle gekoppelt an eine geringe Wertschätzung dieser Figur. Spannender, ja: fast notwendig wäre es gewesen, das besondere ästhetische Potential dieses Charakters, die in den Wahrnehmungsmodi des Snobismus begründet liegende ästhetische Sensibilisierung, für die Literatur und das Nachdenken über Literatur fruchtbar zu machen - den Snob mithin (wie Flaneur, Ästhet, Dilettant, Narziss) als eine spezifische literarische 'Funktionsform' zu begreifen, deren emotionales und künstlerisch-ästhetisches Spektrum enorm und praktisch unausschöpfbar ist. Und, damit zusammenhängend, die Frage zu verfolgen: Gibt es eine - literarische - 'Wiederkehr des Snobs'?Und: Wie lässt sich diese phänomenologisch fassen?

In "Vorstellung als neues Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung" (1987) reflektiert Hofmann die (auch biografischen) Voraussetzungen seines Schreibens. Von seiner Wiener Mutter habe er "einen gewissen Sprachfimmel, eine gewisse Freude am Formulieren" geerbt - "eine starke Belastung in einem Land, wo der Dichter am besten unverständlich, in Schweißgeruch gehüllt und auf bleiernen Füßen daherkommt". Jedenfalls sei er schon als Kind auf die Sprache, "diese magische Angelegenheit", aufmerksam geworden, dadurch, dass die Mutter anders als alle gesprochen habe und "der Polster" statt "das Kissen" sagte. Für den Weg vom Dialog zum Prosatext habe er zwanzig Jahre gebraucht: "Was ist Schreiben für mich anderes als das mühsame Beschwören und Neuerfinden vergangener Augenblicke, die nun nur noch aus Wörtern bestehen? Um diesen Vergangenheiten ein zweites Leben zu geben, plage ich mich gewaltig, wenn ich alle Spuren dieser Mühe auch sorgfältig wegradiere. Was ist das für eine unverlangte, überflüssige Prosaqual?"

Jeder habe seine eigenen Maßstäbe und Grenzen, jeder müsse für sich selbst herausfinden, auf wie viel er verzichten könne von der Schreibtradition vor ihm, was für ihn noch lebe oder schon tot sei: "Denn das ist natürlich der einzige Maßstab für unsere Schreiberei. Lebt sie, oder ist sie schon tot". In dem Wettlauf zwischen Leben und Schreiben, heißt es einmal völlig unsentimental und lakonisch, verlören doch am Ende beide.


Titelbild

Gert Hofmann: Zur Phänomenologie des Snobs. Erzählungen.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
146 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446206132

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