Wo grasen in Zukunft die heiligen Text-Kühe?

Die Davoser Literaturtage 2004 im Zeichen von "Liebe und Tod - in Venedig und anderswo"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die von Thomas Mann selbst in einem bereits für die Nachwelt konzipierten Brief an Theodor W. Adorno vom 30. Dezember 1945 kokettierend als eine "Art von höherem Abschreiben" bezeichnete Erzählstrategie, die ein Resultat seiner Neigung sei, "das Leben als Kulturprodukt und in Gestalt mythischer Klischees zu sehen, die man der 'selbständigen' Erfindung in verkalkter Würde vorzieht", manifestiert sich in nahezu allen Texten Manns in einer Reihe von Erscheinungen, die man mit dem französischen Literaturtheoretiker Gerard Genette als Phänomene der Intertextualität bzw. der textuellen Transzendenz bezeichnen kann.

Wichtige Forschungen der letzten Jahre haben ein helles Licht auf die Arbeitsweise Thomas Manns geworfen, auf sein Prinzip des "höheren Abschreibens", auf sein geradezu prototypisch 'postmodernes' Verfahren im versatzstückartigen Umgang mit Intertexten. Eingedenk dieser flagranten Ergebnisse hat sich unweigerlich die Frage aufgedrängt, ob sich damit nicht auch die Thomas-Mann-Forschung stärker als bisher geschehen der Ergebnisse literaturtheoretischer Ansätze zu bedienen habe. Auf diesen Zug springt Hans Rudolf Vaget in seinem Beitrag für die Davoser Literaturtage 2004 mit seinem Beitrag "Vom 'höheren Abschreiben'. Thomas Mann, der Erzähler" auf und beweist einmal mehr seine exzellente und profunde Kenntnis der Mann'schen Erzählungen. Plausibel, aber durchaus auch mutig ist Vagets Rekurs auf die "erzähltheoretischen Erkenntnisse" der Intertextualitätsforschung, wenn man bedenkt, dass die Thomas-Mann-Forschung die heiligen Text-Kühe in den letzten Jahrzehnten nicht selten auf den Weiden der Quellen- und Einflussforschung grasen ließ und von den benachbarten Weiden der Literaturtheorie, die der Hauch des Poststrukturalismus umwehte, deutlich separierte.

Vaget konstatiert, dass Thomas Mann erstens "seine eigene Erzählweise als Verarbeitung von anderen Texten - fiktionalen wie sachlichen" verstand und dass damit zweitens "im Akt der Verarbeitung eine moderne Kunstleistung behauptet" wird, deren Modalitäten in der dichterischen Praxis Manns allerdings noch zu klären seien. Zwar stellt er darüber hinaus fest, "daß eine beträchtliche Anzahl von Thomas Manns Novellen eine stark ausgeprägte intertextuelle Dimension besitzt und sich einem Akt von 'höherem Abschreiben' verdankt, so daß ihnen etwas grundsätzlich Palimpsesthaftes eigen ist" und zudem, dass die Forschung "bereits eine große Anzahl von Vor-Texten [hat] identifizieren können", aber welche Konsequenzen bezüglich der Konstitution der Mann'schen Textgewebe daraus zu ziehen sind, bleibt Vaget schuldig. Im Fortgang seiner Untersuchung der frühen Erzählungen merkt er wiederholt (mit vollem Recht!) die "Tendenz zu einer Polytextur" und ein "Dagegen-Anschreiben" der Texte an, das "dem Impuls zum kritischen, im wörtlichen Sinne besserwisserischen Einspruch gegen unglaubwürdig gewordene bürgerliche Kompromisse" entsprungen sei. Das "Verfahren der Kontrafaktur" sei demzufolge "als der epische Grundgestus des Erzählers Thomas Mann anzusehen", der "sich andere Spielarten von Intertextualität an die Seite" gesellten: etwa "die hochvirtuosen Parodieverfahren, die dem Zauberberg, dem Joseph und dem Doktor Faustus ihr gleichsam literaturgesättigtes, zutiefst intertextuelles Gepräge geben".

So weit ist den Beobachtungen Vagets uneingeschränkt zuzustimmen, für eine Interpretation der Texte Manns im Rahmen der Intertextualitätstheorie erscheinen sie allerdings zu wenig konsequent und fallen etwa deutlich hinter die Ergebnisse zurück, die ein im Dezember 2004 durchgeführter Workshop junger Thomas Mann-Forscher erbracht hat, der sich mit "Nutzen und Nachteil der Theorie für die Lektüre" der Texte Manns auseinandersetzte.

Bekanntlich ist - seit seiner Entstehung Mitte der 60er Jahre und mit besonderen Höhepunkten während der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts - der Intertextualitäts-Gedanke intensiv diskutiert worden. Seither sind zwei Hauptrichtungen zu beobachten, die sich dadurch unterscheiden, dass das strukturalistische Theorem der Transformation, die prozessuale Umgestaltung der Textzeichen, jeweils anders ausgelegt wird. Generell ist zu fragen, ob sich Intertextualität als Kategorie etablieren lässt, "die eine generelle Dimension von Texten, ihre Implikativität, benennt", oder ob der "Begriff eingeschränkt zu gebrauchen ist im Sinne einer reinen Beschreibungskategorie für Texte, deren Struktur durch die [explizite] Interferenz von Texten oder Textelementen organisiert ist" (Renate Lachmann). Bei Verfahren wie Einlagerung von fremden Texten in den 'neuen' Text (als Zitat, Allusion, Reminiszenz etc.) oder Kreuzung einer Vielzahl fremder Texte bzw. der 'Wieder-' oder 'Gegen-Schrift' eines bekannten Textes als Replik, Kontrafaktur oder Parodie geht es in erster Linie um die semantische Explosion, die in der Berührung der Texte geschieht, um die Erzeugung einer ästhetischen und semantischen Differenz. Für Julia Kristeva etwa baut sich jeder Text "als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes". Kristeva und anderen Poststrukturalisten zufolge ist Intertextualität eine Eigenschaft aller Texte und beschreibt nicht nur die intentionalen Bezüge von bewusster Anspielung auf andere Texte bzw. das Einmontieren fremder Textteile in den eigenen Text. Für Kristeva ist gerade das Vorhandensein von Intertextualität für eine Verwischung der Grenze zwischen lesendem und schreibendem Subjekt, zwischen lecture und écriture, verantwortlich; beide werden letztlich textualisiert: "Derjenige, der schreibt, ist auch derjenige, der liest" und ist "selbst nur ein Text, der sich aufs neue liest, indem er sich wieder schreibt".

Auch Roland Barthes bezeichnet Schreiben als Tätigkeit, die bestehende Kategorisierungen sprengt, den Sinn pluralisiert und die Utopie einer nicht repressiven Ordnung anvisiert. Texte präsentieren sich als Schnittflächen der Aufnahme und Um-Schrift bestehender Diskurse. Denn es sind nicht nur Ideen, sondern vielmehr Sprachen und Redeweisen, die in einer Kultur zirkulieren und von den Mitgliedern einer Kultur aufgegriffen und benutzt werden. Dementsprechend versteht Barthes in "Die Lust am Text" den Text als Bestandteil eines Archivs, als Permutation seiner kulturellen Landschaft und als Kosmos dissonanter Diskurse, die sich in "subjektloser Produktivität" artikulieren: "Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefaßt hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in den konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge. Wenn wir Freude an Neologismen hätten, können wir die Texttheorie als eine Hyphologie definieren (hyphos ist das Gewebe und das Spinnnetz)".

Thomas Manns Erzählungen, darin ist Vaget unbedingt zuzustimmen, sind von allen möglichen kulturalen Einschriften durchzogen; sie schaffen erkennbare und identifizierbare Strukturlinien, gleichzeitig aber unterminieren sie den Wirklichkeitsanspruch des Erzählten. Um nur eines von vielen Beispielen zu nennen: "Der Tod in Venedig" konstituiert sich in einem Netz von Beziehungen, von denen keine einseitig als Sinn tragend identifiziert werden kann. In den letzten Jahrzehnten hat die Thomas-Mann-Forschung Dutzende konkreter Intertexte im Gewebe der Erzählung identifiziert, deren Kenntnis für Hermann Kurzke ("Thomas Mann. Epoche-Werk-Wirkung", München 1997) beispielsweise jedoch eher störend ist, "weil sie ernüchternd zeigt, wie synkretistisch Thomas Mann arbeitete, wie sehr er sich dem Zufall überließ und wie wenig genau im akademischen Sinne seine Zitate sind". So richtig die Beobachtung Kurzkes auch ist, dennoch greift sie doch zu kurz, wenn sie Manns Unterfangen missachtet, ein dynamisiertes Schreiben zu etablieren, das Verfestigungen und Festlegungen aufzubrechen sucht. Die intertextuelle Struktur der Venedig-Erzählung thematisiert widersprüchliche Signifikationsprozesse und Ordnungsmechanismen (Neuklassik versus Antiklassizismus, Apollinisch versus Dionysisch), die sich letztlich gegenseitig dementieren.

Jacques Derrida bezeichnet als 'Dissemination' ("Dissemination", Wien 1995) einen recht ähnlichen Prozess, in dem die sprachlichen Signifikanten nicht mehr festen Signifikaten zugeordnet werden können, sondern sich in einem beständigen Prozess der Differenzierung, der Entzweiung und der gegenseitigen Ersetzung befinden. Das Spiel der Zeichen, in dem Bedeutungen gesetzt und zugleich wieder aufgehoben werden, gestaltet sich als ein sich selbst perpetuierender progressus ad infinitum. Mit Roland Barthes kann man den "Tod in Venedig" als durchlöcherten, unvollständigen und unentschiedenen Text lesen; oder positiv formuliert: Er ist offen, flexibel und dynamisch, indem er nicht nur über Schwellen und ihre Transgression, über Veränderungen, Bewegungen und Verschiebungen redet, sondern sie zugleich auch vorführt. Dazu dient auch die im Text exerzierte 'Arbeit am Mythos' (Hans Blumenberg), der durch De- und spätere Re-Komposition offenkundig als Sinnträger und Sinndeuter fungieren und das psychische Geschehen legitimieren soll, in seiner Entstellung aber alle vorgeführten Sinnangebote sofort wieder aufhebt. Die "zweideutige Stadt" Venedig (Georg Simmel) mit ihrer Mischung von schöner Fassade und dahinter lauerndem dunklen Geheimnis entspricht nicht nur den inneren Vorgängen Aschenbachs, sondern auch der durch den Text selbst vorgeführten Ambiguität - die "Zweideutigkeit als System" -, die die Realität des Erzählgeschehens in subtiler Weise unterwandert. "Der Tod in Venedig" präsentiert sich - ähnlich wie dies etwa von Eckhard Heftrich, Werner Frizen und Michael Maar bereits zum "Zauberberg" festgestellt wurde - als lustvolles artistisch-alexandrinisches Spiel mit Texten, Zeichen und Mythen. Die Venedig-Erzählung muss mit Frizen als ein "Literatur-Werk" verstanden werden, "das seine Vollendung nicht der Begegnung eines Schriftstellers mit einem schönen Jüngling am Lido von Venedig verdankt, sondern dem Beziehungsreichtum, den diese Begegnung in dem intellektuellen und seelischen Haushalt einer Kettenreaktion gleich auslöst, in der ars combinatoria mit allen Facetten ihrer Motivik und ihrer intertextuellen Bezüge." ("Thomas Mann: 'Der Tod in Venedig'", München 1993).

Vielgestaltig und zwischen den Extremen changierend, wird der von Vaget und erneut auch von Terence James Reed (in dem genannten Sammelband) nicht überhörbare Ruf nach einer "neuen Klassizität" in Thomas Manns Erzählung von Beginn an unterlaufen und mit dem Anti-Echo des dionysischen Antiklassizismus versehen. Dieses Text-Gewebe zeigt Manns Verfahren, eine synkretistische Kombination der kulturellen Traditionen und Symbolbereiche herzustellen, die zwar aus präzisen Details montiert wird (so weit ist Kurzke zuzustimmen), in der Gesamtwirkung indessen bewusst Verschwommenheit oder gar Unverständlichkeit anstrebt und den Gesamteindruck der "Entstellung" indiziert, indem sie die Auflösung der Sprach- und Bedeutungsebenen vorführt, wie etwa Bernhard Böschenstein ("Exzentrische Polarität. Zum 'Tod in Venedig'". In: "Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Interpretationen. Hg. von Volkmar Hansen. Stuttgart 1993, S. 89-120) gezeigt hat. Insgesamt wird recht deutlich, wie sich Manns Text in einem Verweisungszusammenhang mit neu- und antiklassizistischen Deutungsmustern konstituiert und gleichzeitig dementiert. Die Verarbeitung des Sinnangebots der zitierten, fremden Texte entzieht den einen Sinnkern, da in ihm immer andere darunter liegende Textfolien erkennbar werden. Die Offenheit des Textgewebes bedingt gleichzeitig eine grundlegende Instabilität der Lektüre, wie sie auch Thomas Mann selbst noch in dem 1936 gehaltenen Vortrag über "Freud und die Zukunft" reflektiert, wenn er ausführt, dass seine Protagonisten "so recht nicht wussten, wer sie waren, oder die es auf eine frömmere, tiefer-genaue Art wußten als das moderne Individuum: deren Identität nach hinten offenstand und Vergangenes mit aufnahm, dem sie sich gleichsetzten, in dessen Spuren sie gingen und das in ihnen wieder gegenwärtig wurde" (IV, 200).

Fokus des Einbezugs intertextualitätstheoretischer Überlegungen sollte also sein, dass Schreiben nicht als Ausdruck vorgängiger Gedanken und Gefühle, sondern als Ausloten und Erproben des Sagbaren, als Erschütterung sprachlicher Zeichenhierarchien, als Spiel mit zitierten Texten und somit als Subversion der Vorstellung eines geschlossenen Textes funktioniert, da dieser sich durch die fremden Zitate selbst überschreitet. Aber nicht nur "Der Tod in Venedig" kann als Schwellenort im Echoraum anderer Texte gelesen werden, auf die er zitierend oder kommentierend Bezug nimmt, auch für andere Texte Manns böten sich hier fruchtbare Neuansätze an, vorausgesetzt man ist bereit, die Auseinandersetzung mit einem Phänomen wie dem der Intertextualität intensiv zu betreiben, die entsprechenden Konsequenzen für die Deutung der Texte Thomas Manns zu ziehen und damit die eine oder andere heilige Text-Kuh auf die Nachbarweide zu schicken. Ein Anfang ist immerhin gemacht.


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Thomas Sprecher (Hg.): Liebe und Tod - in Venedig und anderswo. Thomas-Mann-Studien. Band 33.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2005.
296 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-10: 3465034384

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