Königs Mischung

57 Jahre nach ihrem geplanten Erscheinen würdigt eine Festschrift auch die Göttinger Lebensphilosophie

Von Malte DreyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Malte Dreyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer den Jubilar nicht kennt, weiß nicht, worum es geht. Das ist das Problem philosophischer Festschriften. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass die darin versammelten Beiträge ihren Zusammenhang erst vor dem Hintergrund einer Wirkungsgeschichte erhalten. Insofern beweist der Transcript Verlag mit der Veröffentlichung einer 1948 entstandenen Festschrift für Georg Misch verlegerischen Mut. Denn Georg Mischs wirkungsgeschichtlich vielversprechender Ansatz wäre beinahe durch den kulturpolitischen Kahlschlag der Nationalsozialisten anschlusslos geblieben. Erst in den letzten Jahren ist das Interesse an den Schriften des Göttinger Lebensphilosophen wieder gestiegen. Deswegen werden nicht alle philosophieinteressierten Leser sofort den Zusammenhang zwischen den literaturwissenschaftlichen, pädagogischen, historischen, religionswissenschaftlichen, wissenschaftstheoretischen und sprachphilosophischen Aufsätzen erahnen. Gut, dass Michael Weingarten, Philosophiedozent in Stuttgart und Marburg sowie Herausgeber dieses 360 Seiten starken Bandes, in einem dicht argumentierten Nachwort auf den philosophiegeschichtlichen und systematischen Kontext hinweist, in dem die Hermeneutik Georg Mischs entstanden ist.

Im Gegensatz zur monologischen Fundamentalontologie Martin Heideggers regiert Georg Mischs Hermeneutik ein dialogisches Prinzip. Sein-denken geschieht in einer konstitutiven Form des miteinander Redens. Während die Hermeneutik nach Martin Heidegger ihre Bezugspunkte immer schon vorfindet, werden diese laut Misch erst erzeugt, indem man über sie spricht. Diese sprachphilosophische Überlegung dominiert die Beiträge der Festschrift auch dort, wo nicht ausdrücklich auf sie hingewiesen wird. Deswegen mag es zwar irritieren, wenn im Inhaltsverzeichnis der Titel "Schiller und die Empfindsamkeit" z. B. neben dem Titel "Zur Logik der Lehre vom Raum" angetroffen wird. Eine aufmerksame Lektüre wird aber bald ergeben, dass der schnelle Perspektivenwechsel auf eine gleichbleibende sprachphilosophische Fragestellung zur Konturierung der Methode beiträgt.

Unter den literaturwissenschaftlichen Aufsätzen ist ein Beitrag von Otto Friedrich Bollnow hervorzuheben. In seiner Abhandlung über das romantische Weltbild E. T. A. Hoffmanns untersucht er die Beziehung zwischen poetischer Fiktion und erzählter Wirklichkeit. Wie an die meisten literaturwissenschaftlichen Texte dieses Bands ließen sich auch hier erzähltheoretische Reflexionen anschließen - etwa über den Zusammenhang zwischen gattungspoetologischen Unterscheidungen und erzählerischer Fiktion. Aber Bollnow belässt es bei Andeutungen und argumentiert zunehmend metaphorisch. Die auffallende Häufung bildlicher Rede in vielen Beiträgen hat indes eine eigene Bedeutung. Zahlreiche Texte der Festschrift widmen sich der Frage, was die Formen, in denen wir uns über bestimmte Sachverhalte verständigen, voneinander unterscheidet. So formulieren Helmuth Plessner und Bernhard von Groethuysen diese Differenz als Unterschied zwischen der Philosophie und anderen Wissenschaften. Und Herman Schmalenbach, der eine die gesamte Sammelband-Lektüre erhellende Positionsbestimmung der Lebensphilosophie vornimmt, beendet einen eingehenden philosophiegeschichtlichen Exkurs mit Fokus auf die erkenntnistheoretische Bedeutung des Zeichens.

Diesbezüglich bildet jedoch der Aufsatz von Josef König das Kernstück der Anthologie. Als sein vielleicht bedeutendster Schüler und Mitinitiator dieser Festschrift führte Josef König die philosophische Hermeneutik Georg Mischs in seinen systematischen Untersuchungen fort. In dem auch quantitativ weitaus umfangreichsten Beitrag widmet sich Josef König einem sprachphilosophischen Unterschied, der in Abgrenzung zu der aristotelischen Definition apophantischer Sätze veranschaulicht wird - also solcher Sätze, die als wahr oder falsch beurteilt werden können. Josef Königs Gegenvorschlag bezweckt nicht nur, Aristoteles wissenschaftstheoretisch weitreichende Differenzierung abzulösen, sondern soll darüber hinaus auf alle spezifisch philosophischen Problemlagen anwendbar sein. Hierzu unterscheidet Josef König Sätze, zu deren Sinn das Motiv ihrer Kundgabe gehört, von Sätzen, deren Mitteilbarkeit zu einem bestehenden Sinn faktisch hinzutritt. An Königs Überlegungen wird abermals sichtbar, welche Bedeutung die pragmatische Dimension des miteinander Sprechens für die Hermeneutik nach Georg Misch hat.

Viele Probleme - z. B. der gegenwärtigen bioethischen Debatte - lassen sich auf einen unbedachten Umgang mit der Sprache zurückführen. Arbeiten, wie die von König und Misch, machen die Möglichkeiten einer begleitenden sprachphilosophischen Reflexion erst deutlich. Daher wäre es wünschenswert, die durch den Nationalsozialismus unterbrochene Rezeption der Göttinger Lebensphilosophie weiter aufzunehmen und schwer zugängliche Texte in bezahlbaren Ausgaben der aktuellen philosophischen Diskussion zuzuführen. Mit der Veröffentlichung der Nachlasswerke Josef Königs im Transcript Verlag ist ein lobenswerter Schritt in die richtige Richtung gemacht worden. Diese Festschrift ersetzt zwar nicht das Studium der Hauptwerke Georg Mischs und Josef Königs, ist aber geeignet, sich einen abwechslungsreichen Überblick über die vielfältigen Ansatzpunkte dieser "anderen" Hermeneutik zu verschaffen.


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Michael Weingarten (Hg.): Eine "andere" Hermeneutik. Georg Misch zum 70. Geburtstag - Festschrift aus dem Jahr 1948.
Transcript Verlag, Bielefeld 2005.
361 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3899422724

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