Präzision und Opulenz

Zygmunt Haupts Erzählband "Ein Ring aus Papier"

Von Carolina KapraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Kapraun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als wären die Menschen nichts ohne die zu ihnen und ihrer Geschichte gehörenden Landschaften, weil in sie und durch sie Spuren der Erinnerung führen, ja Erinnerung wieder lebendig wird, erzählt der 1907 in Podolien geborene und 1975 in Winchester verstorbene polnische Autor und Maler Zygmunt Haupt in kurzen episodenhaften Geschichten Fragmente (s)einer Biografie. Die Erinnerungen reichen von frühester Kindheit, der ersten scheuen Liebe bis hin zu Haupts Pariser Aufenthalt im Exil und Militärdienst im Zweiten Weltkrieg.

Die Einzigartigkeit seines Schreibens brachte ihm ein, dass er heute oftmals in einem Atemzug mit Bruno Schulz genannt wird. Ein Umstand, über den sich der bereits 30 Jahre verstorbene Autor sicher freuen würde, wurde sein schmales Œuvre doch allzu lange missachtet. Obwohl Haupt bereits seit 1937 erste Texte, Reportagen und Erzählungen im "Dziennik Polski" veröffentlichte, fand er auf dem polnischen literarischen Markt lange Zeit keine, im literarischen Leben kaum Beachtung. Auch in Handbüchern, Autorenlexika und Literaturgeschichten taucht der Autor nur in Ausnahmen auf. In Czeslaw Miloszs Literaturgeschichte aus den 90er Jahren fehlt jeglicher Hinweis auf ihn, in dem Handbuch "Literatura Polska XX wieku" von 2000 findet man unter seinem Namen lediglich wenige Zeilen zu Person und Werk, nicht einmal ganz eine viertel Spalte.

Ein Umstand, der Wunder nimmt, bedenkt man, dass Haupt trotz seines Exils weder Pamphlete noch politische Schriften gegen die russischen Besatzer verfasste. Sein einziger zu Lebzeiten veröffentlichter Erzählband "Pierscien z papieru", der 1963 im Exilverlag "Kultura" in Paris erschien, wurde erst in den 90er Jahren von Andrzej Stasiuk wiederentdeckt und 1997 in seinem polnischen Czarne Verlag gedruckt. Seit 2003 liegt er nun unter dem Titel "Ein Ring aus Papier" auch dem deutschen Lesepublikum vor.

Im Laufe der insgesamt 23 im Umfang stark variierenden Erzählungen wird schnell deutlich, warum Jelenski als einer von Wenigen schon früh von Haupt behauptete, er sei der größte polnische Prosadichter der Emigration. Die Besonderheit Haupts liegt zweifelsfrei im Destillat einer ihm eigenen Sprache, die Materie an Emotion und Erinnerung koppelt, ja sprachliche Einfühlung in Landschaften und Gegenstände vollzieht. Dabei ist sie irgendwo zwischen Prosa und Lyrik anzusiedeln, wobei sie bestimmt die verkürzte Prägnanz und ambivalente Treffsicherheit großer Dichtung aufweist und nicht umsonst schon als "Lyrik im Geheimen" bezeichnet wurde.

Schon die erste Geschichte "Totenmahl im Winter" lässt das Spezifische der Texte sichtbar werden: Was erinnert werden soll, sind nicht vergangene Geschehnisse im Sinne historischer Handlungen, nicht die Konfrontation mit der objektiven Geschichte, ebenso wenig wie es um eine autobiografisch motivierte Selbststilisierung und -inszenierung des Subjekts gehen kann - dieses nimmt sich in der Erzählung oft stark zurück. Erinnerung wird konstruiert durch Beobachtung und Beschreibung einer mitunter mathematisch erfassten und durchmessenen Landschaft, des Regens oder der kindlichen Erinnerung an das langsame Schmelzen der Schneeflocken auf dem Mantel des Vaters.

In der Erzählung "In Paris und in Arkadien" ist es ein nicht eingelöster Scheck des mittlerweile in Paris lebenden Erzählers, der Ausgangspunkt und Bindeglied zwischen Gegenwart und erinnerter Vergangenheit, der Beschreibung durchmarschierender feindlicher Truppen in der einstigen Heimat wird. Dabei wird der kindliche Blick in der Erinnerung rekonstruiert als ein akribischer, der weniger historische Handlungszusammenhänge darstellt; in den Vordergrund rückt eine sprachlich brillant vermittelte Unmittelbarkeit historischer Wirklichkeit, die lediglich zwischen den Zeilen die grausame, der kindlichen Perspektive entrückte, durch den Erzähler sprachlich subtil montierte, objektive historische Wirklichkeit ahnen lässt. Wie in einem Kupferstich werden Details der Menschen und Uniformen, wie der oxydierte Zustand ihrer Knöpfe, beschrieben. Ohne jeglichen moralischen Impetus lässt Haupt hier einen Kriegsschauplatz ohne Kriegshandlung wiederauferstehen, weil er nicht die historische Perspektive, sondern die subjektive, authentische des Kindes wiederbelebt, indem er sich erinnert, "wie sich diese drastischen und pathetischen Episoden des Krieges mit der Langeweile und Idylle der Kleinstadt verquickten."

Dabei verschmilzt in der lyrischen Sprache das Außen mit dem Innen. Beobachtungen werden zu Bruchstücken des Erzählenden selbst, von so individueller Farbe und Konzentration, dass sie neben der äußeren tief in eine innere, ja fast schon universelle anthropologische Wirklichkeit des erlebten Seins eindringen. Neben den wie in zahlreichen Nahaufnahmen auf Zelluloid gebannten Erinnerungsbruchstücken entsteht so eine zweite semantische Ebene, die Zygmunt Haupts "Ein Ring aus Papier" zu einem beeindruckenden Werk macht.

Haupts Sprache ist ebenso üppig und verschwenderisch wie präzise und nüchtern. Sie eröffnet dem Leser eine Vielschichtigkeit, die in ihrer Klarheit, gleichzeitig karg, neben oppulenten und plastischen Landschaftsbildern auch historische Nüchternheit in sich zu fassen vermag - und das in gleichem Maße. Sein Prinzip der "partielle[n] Negation", des Verzichts zugunsten des Bedeutungsgewinns dessen, was auf dem Papier übrig bleibt, findet sich auf jeder Seite - von Anfang bis Ende des Buchs - wieder.

In einer der letzten Erzählungen, "Ein Ring aus Papier", in welcher der Autor (s)eine Rückkehr nach Hause beschreibt, verweist er zum einen "ringförmig" auf den Anfang des Erzählbands - die Überschrift - zum anderen, implizit, auf die Bedeutung seines Schreibens.

Durch das Schreiben, das beschriebene Papier schließt sich demnach ein "Ring", der nicht nur Verlust und Gewinn, Fiktion und Realität, Außen und Innen, Individuelles und Historisches, sondern auch Vergangenes und Gegenwärtiges zusammenbringt, so "dass die Vergangenheit sich in die Gegenwart hineinfrisst", dass die Gegenwart sich aus Momenten der Vergangenheit zusammensetzt und sich der Kreis durch die Erinnerung an Gewesenes, Beobachtetes und Gefühltes in der Sprache schließt. Koinzidenzen, die sprachlich so zurückhaltend, ja zerbrechlich und doch so eindringlich gefasst sind, dass man Haupt zu den großen Namen der polnischen Dichtung, ja zur Weltliteratur zählen muss.

Bleibt nun zu hoffen, dass auch sein zweiter, postum erschienener Band "Szpica" sowie ein bislang noch kaum erschlossener Nachlass bald auch auf Deutsch vorliegen werden.


Titelbild

Zygmunt Haupt: Ein Ring aus Papier. Erzählungen. Mit einem Essay von Andrzej Stasiuk.
Übersetzt aus dem Polnischen und mit einem Nachwort von Esther Kinsky.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
347 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3518414291

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