Gibt es das perfekte Verbrechen?

Wenn ja, dann muss es eine Krimiautorin begehen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sollte es irgendeinen Krimiautor dort draußen geben, der wegen eines Verisses sauer auf mich ist: War nicht so gemeint, erst recht nicht persönlich. Das nur vorneweg. Wohin es nämlich führen kann, wenn Krimiautoren wirklich wütend werden, zeigt sich in Anne Holts "Was niemals geschah". Holt lässt eine der ihren auf die Welt los. Was dabei heraus kommt? Das perfekte Verbrechen, keinesfalls motivlos, aber ohne den gewünschten Erfolg für die Polizei, hinter der wir doch alle stehen. Besonders perfide dabei ist, dass schon bald klar ist, um wen es sich handeln muss.

Der Auftakt ist auf Schock angelegt: Eine bekannte Fernsehmoderatorin wird eines Tages zu Hause ermordet aufgefunden, mit herausgeschnittener Zunge. Die Zunge fein säuberlich verpackt auf dem Tisch vor ihr, mit einem Messer gespalten. So etwas nennt man wohl überkodiert: Natürlich, hier beschwert sich jemand blutrünstig über die Heuchelei in den Medien, alles Lug und Trug, nicht nur, dass jeder Mensch seine kleinen und großen Geheimnisse hat, wie Holts Ermittler Yngvar Stubø wohl zu sagen pflegt: Hier geht es um Grundsätzliches, um ein wirkliches Geheimnis, um Vergeltung. Wenig später wird eine junge Politikerin, gleichfalls zu Hause, gekreuzigt, ein Buch zwischen die Beine gestopft, ein einigermaßen bekannter Autor schließlich wird mit einem Kugelschreiber im Auge aufgefunden, tot. Am Ende der Kette steht ein unsympathischer Biathlet, der für die Winterspiele 2006 nominiert ist, mit einer Zielscheibe auf der Brust, auf die auch geschossen worden ist. Nichts verbindet die Toten, auch nach langen Recherchen der Polizei nicht, es ist kein Muster erkennbar, es gibt keine Spuren, kein Motiv, keine Verdächtigen. Was, so lässt Holt zwischenzeitlich ihre Figuren nachdenken, ist denn, wenn es gar kein Motiv gibt? Keinen Anlass? Und damit kein Muster und keine Verbindung und keine Spuren? Dann haben die Ermittlungen nur einen Zweck, nämlich im sozialen Umfeld der Opfer Kollateralschäden anzurichten, einen Selbstmord hier, eine ruinierte Karriere dort. Denn jeder hat ein großes oder kleines Geheimnis, jeder hat etwas zu verbergen, jeder lügt. Und wenn schon nicht das Verbrechen selbst aufzuklären ist, dann kann man sich immerhin noch den sonstigen Alltagslügen widmen. Drogen hier, Prostitution dort, Korruption wieder an anderer Stelle. Irgendwas fliegt immer auf dabei.

Holt führt genau das vor, zumindest exemplarisch, an dem Verlobten der Politikerin oder an ihrem innerparteilichen Konkurrenten. Die große Demonstration von Handlungssouveränität jedoch bleibt aus, wie auch die polizeilichen Verzweiflungstaten ausbleiben, als längst allen bekannt ist, wer sich hinter den Verbrechen verbirgt. Statt zur Selbstjustiz zu greifen - was allemal wieder einigermaßen beliebt geworden ist unter Krimi- und Drehbuchschreibern - geschieht nichts.

Yngvar Stubø, knapp fünfzig, lebt mit seiner jungen Frau Inger Johanne Vik, der neugeborenen Tochter und (wenigstens zeitweise) deren achtjähriger Halbschwester zusammen. Inger Johanne ist Kollegin, eine Profilerin, die beim berühmten FBI-Profiler Warren Scifford gelernt hat, und sie ist im Schwangerschaftsurlaub. Sie ist ängstlich, sie ist überreizt, sie ist übermüdet. Das macht das Leben nicht einfacher, zumal dann nicht, wenn sich im Laufe des Geschehens eine Bedrohung zu nähern scheint, die niemand abzuwehren versteht.

Das Paar spricht über die Morde, und Inger Johanne, die Warren Scifford als seine beste Schülerin bezeichnet hat, steigt in den Fall ihres Mannes ein. Sie sichtet das Material, sie diskutiert mit ihrem Yngvar, sie recherchiert auf eigene Faust. Mit Erfolg: Sie ist es, die den ersten Mord aufklärt, sie bringt aber auch das Modell des motivlosen Mordes auf, sie weist auf die Probleme hin, die daraus für die Ermittlung entstehen, keine Spuren, keine Verbindung mit dem Mörder. Sie ist es auch, die die Morde als Nachahmungstaten identifiziert: Warren Scifford hat von ihnen allen in seiner berühmt-berüchtigten Vorlesung berichtet - und von einem weiteren Fall, in dem das Haus eines ermittelnden Polizisten angezündet wurde. Gerade das aber macht Inger Johanne und Yngvar nervös und sehr begierig darauf, den Taten auf den Grund zu gehen. Mehr und mehr wird bei ihren Bemühungen klar, dass nicht der erste Mord mit den anderen nur über seine Kodierung zusammenhängt, nicht über Mörder oder Motiv. Klar ist auch, dass der Täter oder die Täterin die Vorlesung von Warren Scifford kennen muss. Und es lässt sich leicht erahnen, dass alle Morde letztlich mit Inger Johanne zusammenhängen und dass als letzte dann sie zum Opfer werden wird.

Aber alle Bemühungen der Polizei laufen ins Leere, nein, besser: Sie klären nicht den Mord auf, sondern beweisen die Unschuld des Mörders, obwohl das Motiv offensichtlich ist.

Denn natürlich sind die Morde nicht motivlos, sondern liegen in dem Gefühl begründet, dass dem Mörder nicht die angemessene Wertschätzung entgegengebracht wird, und zwar im bürgerlichen Leben. Das Aschenputtel der Scifford-Vorlesung rächt sich nun dafür, dass Scifford Inger Johanne öffentlich hervorgehoben, sie selbst aber keines Blickes gewürdigt hat. Selbst das Buch, das sie ihm widmet, vergisst er auf dem Pult im Hörsaal. Also doch verschmähte Liebe als Motiv? Ja, das schon, aber trotzdem bleiben die Probleme erhalten.

Merkwürdig nur, dass nicht auch Holt auf den neuesten Trend aufgesprungen ist und Forensiker und Pathologen ins Feld schickt. Kein epistemologischer Optimismus hier also, sondern hermeneutischer Pessimismus? Sie können es nicht nachweisen, so sehr sie sich auch bemühen. Wo diverse CSI-Ermittler sich nun darauf stürzen würden, noch und noch zum Tatort zu fahren und nach Spuren zu suchen, beschränken sich ihre Kollegen bei Holt darauf, Alibis zu prüfen. Keine Faser, kein Blutspritzer hilft ihnen weiter. Alle Spuren, die sie rekonstruieren können, führen ins Leere. Und sie führen auf ein grandioses Finale zu, bei dem man alles befürchten kann, was nur möglich ist: von Verfolgungsjagden bis hin zum Anschlag auf die Frau des Kommisars.

Aber nichts geschieht: Mit den Morden verändert sich auch das Handlungsmuster. Denn auf einmal erhält gerade der Mörder eine Wertschätzung, die ihm bis dahin, trotz allen Erfolgs, verwehrt geblieben ist. Das verdankt er letztlich freilich seiner eigenen Gerissenheit und den Morden. Denn ohne dass den Medien der Zusammenhang bewusst ist, befragen sie genau denjenigen als Experten, der hinter dem Ganzen steckt. Aus der missachteten Person wird die öffentliche Expertin. Die langen Jahre des Wartens, die große Mühe, die sie auf Alibis und Abläufe verwandt hat, machen sich nun bezahlt. Mord kann eine so wirksame Therapie sein, oder? Da kann man dann auch darauf verzichten, die imaginäre Nebenbuhlerin umzubringen.


Titelbild

Anne Holt: Was niemals geschah.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Piper Verlag, München 2005.
380 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3492047629

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