Stabilitätsgrenzen der sozialen Ungleichheit?

Lars Kohlmorgen lotet die sozialstrukturellen Diagnosefähigkeiten der Regulationstheorie aus

Von Patrick EserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Eser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass kapitalistisch verfasste Ökonomien regelmäßig Krisen durchlaufen, ist keine Erkenntnis, zu deren Gewinnung man ein Diplom in Wirtschaftsgeschichte benötigt. Karl Marx war wohl der erste, der diese periodisch auftretenden Erscheinungen durch das Aufstellen gewisser Gesetzmäßigkeiten systematisch erklären wollte. Mit einem erstaunlichen wissenschaftlichen Eifer versuchte er, Gesetze kapitalistischen Wirtschaftens aufzustellen und zu veranschaulichen - die sowohl auf der Operationsebene des Einzelkapitalisten als auch auf der Makro-Ebene des gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftskreislaufs gelten sollten. Sein theoretisches Werk "Das Kapital" gipfelt schließlich in dem Anspruch und Versuch, den Zusammenbruch des Kapitalismus anhand aufgestellter Gesetzmäßigkeiten voraussagen und erklären zu können.

Die französische Regulationstheorie, deren Entstehen im Zeitraum Mitte/Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts liegt, stellte die Fragestellung dieser Zusammenbruchsperspektive von Marx quasi auf den Kopf: Wie kann es sein, dass sich der kapitalistische Verwertungsprozess trotz des periodischen Durchlaufens von Krisen (nicht nur ökonomischer) immer wieder stabilisieren kann - und das sogar auf immer höheren Stufenleitern der Reproduktion. Im Rückblick auf die tiefe ökonomische Krise von 1974/75 und auf die vor jener liegende, für den Kapitalismus ungewöhnlich lange Phase stabiler ökonomischer Entwicklung wurde von französischen Ökonomen der Versuch unternommen, die Stabilitätsbedingungen des an sich planlosen und immer wieder für Krisen offenen Prozesses der kapitalistischen Verwertung und Akkumulation zu erklären. Die grundlegende Fragestellung jener Forscher war, wie denn die intrinsische Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Entwicklungsprozesses in der jüngsten Geschichte des Kapitalismus reguliert wurde und sich dadurch Formen relativ stabiler kapitalistischer Gesellschaftsformationen herausgebildet haben.

Bekannt geworden ist der Regulationsansatz schließlich durch die so genannte Fordismus-These. Der Begriff Fordismus wurde im regulationstheoretischen Forschungszusammenhang geprägt und bezeichnet die historische Formation des Kapitalismus, die seit den 20er Jahren in den USA und in den restlichen kapitalistisch-industrialisierten Ländern seit Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts vorherrschte. Der Fordismus lässt sich - zwar verkürzend - durch folgende zwei Merkmale charakterisieren: zum einen durch den fordistischen Klassenkompromiss, der die Integration der Klasse der Lohnabhängigen ins ökonomische und politische Gefüge vorsah. Durch starke Gewerkschaften konnte ein respektabler Teil des erzeugten wirtschaftlichen Ergebnisses in die Konsumabteilung der Lohnabhängigen fließen. Diese Erweiterung der Konsumbasis dynamisierte schließlich die kapitalistische Entwicklung. Abgesichert wurde die Binnenkaufkraft und diese makroökonomische Orientierung durch den Ausbau der sozialpolitischen Dimension und wirtschaftlichen Tätigkeit des Staates ("keynesianischer Wohlfahrtsstaat").

Zur Analyse der Entwicklungsformationen des Kapitalismus prägten die Regulationisten ein gewisses Begriffsarsenal, das mittlerweile auch in die sozialwissenschaftliche Fachdiskussionen Einzug gehalten hat. Das Akkumulationsregime fasst die Struktur der ökonomischen Produktions- und Verwertungszyklen und somit die Organisation der gesamtgesellschaftlichen Produktion und Zirkulation. Die Regulationsweise beschreibt das institutionelle Setting, durch das die Stabilität der gesellschaftlichen Voraussetzungen des ökonomischen Verwertungsprozesses gewährleistet wird. Unter diesen Begriff fallen unterschiedliche institutionelle Formen, die die widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse zu regulieren versuchen. Je nach Akzentuierung des Erkenntnisinteresses können hierunter unterschiedliche Phänomenbereiche fokussiert werden: von der Arbeitsmarktpolitik bis hin zur Herstellung einer hegemonialen Struktur durch ideologische Kämpfe und Kompromisse.

Nicht zuletzt durch die Popularität der "Fordismus-These" haben die regulationstheoretischen Begrifflichkeiten, die eine umfassende Analyse der Stabilitätsbedingungen der Reproduktion kapitalistischer Gesellschaftsformationen zu leisten beanspruchen, seit den 80er Jahren verstärkt Einzug erhalten in die Diskussionen der unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Vor allem jenseits des Rheins und in England wurden die regulationstheoretischen Begrifflichkeiten unter einer breiter gefassten, gesellschaftstheoretischen Perspektive diskutiert. Im deutschsprachigen Gebiet erstreckt sich die Beschäftigung mit dem Regulationsansatz mittlerweile auf zahlreiche Disziplinen und Teildisziplinen, unter anderem auf die Soziologie (Industrie- und Arbeitssoziologie), auf die Geografie (Wirtschaftsgeografie), auf die Politikwissenschaften etc.

Das vorliegende Buch von Lars Kohlmorgen thematisiert in seiner Beschäftigung mit der Regulationstheorie vor allem soziologische Fragestellungen, insbesondere die Frage nach Erklärungsmöglichkeiten von Phänomenen gesellschaftlicher Ungleichheit. Das erklärte Ziel seiner Arbeit, die am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Hamburg als Dissertation eingereicht wurde, ist eine Synthese der Regulationstheorie mit soziologischen Ansätzen zur Erklärung gesellschaftlicher Ungleichheit.

Um dieses Vorhaben zu bewältigen, setzt Kohlmorgen zunächst an den gesellschaftstheoretischen Schwächen der Regulationstheorie an, die, vor allem in der bundesdeutschen sozialtheoretischen Diskussion, schon ausgiebig erörtert wurden. Er schlägt schließlich vor, die soziologischen Defizite durch die Integration gewisser soziologischer Ansätze zu beheben. In der Konstruktion der Perspektive auf das Phänomen der "sozialen Ungleichheit" stützt sich Kohlmorgen auf die marxistische Klassentheorie und auf feministische Arbeiten zum "Geschlechterverhältnis". Mit dieser Entscheidung setzt er sich ab von der vorherrschenden Ausrichtung innerhalb der Soziologie, die auf einen systematischen Begriff von sozialer Strukturierung verzichtet und sich eher an Begriffen wie "Individualisierung" und "Pluralisierung von Lebensstilen" orientiert. In seinem Anschluss an den Klassenbegriff möchte er jedoch auch die Verkürzungen der marxistischen Orthodoxie hinter sich lassen.

Sein theoretischer Ausgangspunkt für die Erklärung sozialer Ungleichheit ist schließlich eine reformulierte Klassentheorie, die den Ansatz feministischer Geschlechtertheorien integrieren will. Den Ursprung gesellschaftlicher Ungleichheit verortet Kohlmorgen in marxistischer Tradition auf der Ebene der gesellschaftlichen Produktion. Durch einen von normativen Aufladungen gereinigten Ausbeutungsbegriff gelingt es Kohlmorgen, das Ausbeutungsverhältnis der Lohnarbeit als den Ursprung der Klassenkonstituierung auszumachen. Auch die Quelle der Konstruktion der geschlechterspezifischen Ungleichheit ist im Bereich der Produktion zu finden: Die Spaltung der gesamtgesellschaftlichen Arbeit in Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit und die gleichzeitige Zuweisung der Reproduktionsarbeit an das weibliche Geschlecht ist die primäre Ursache der Geschlechterungleichheit. Kohlmorgen verknüpft diese grundlegenden Erkenntnisse mit den regulationstheoretischen Aussagen über die Struktur der ökonomischen Produktion und der gesellschaftlich-politischen Regulation. Für das Theoriedesign der Regulationstheorie hat dies die Konsequenz, dass er die "Haushaltsform", die den Status der unbezahlten Reproduktionsarbeit in einzelnen Haushalten und die dortigen Ungleichheitseffekte thematisiert, als institutionelle Form einführt.

Kohlmorgen bringt somit zur Analyse gesellschaftlicher Ungleichheit eine integrale Gesellschaftstheorie in Anschlag, die Klassen- und Geschlechterverhältnisse einbeziehen will.

Den Fokus auf die soziale Ungleichheit sichert Kohlmorgen neben der Integration von Klassen- und Geschlechtertheorie außerdem noch ab durch eine sozialtheoretische Erweiterung des im engeren Sinne ökonomisch dominierten regulationstheoretischen Begriffsarsenals. Er greift hierbei zurück auf die Diskussionen innerhalb der deutschen kritischen Gesellschaftstheorie seit den 90er Jahren. Die zentralen theoretischen Impulse, die er in seiner sozialtheoretischen Erweiterung und Fundierung der Regulationstheorie anführt, sind die Ausführung von Anthony Giddens zum Verhältnis von Struktur und Handlung, der Habitus-Begriff von Pierre Bourdieu und die Überlegungen zur Hegemonie von Antonio Gramsci bzw. die hegemonietheoretische Rezeption seines Werks. Ausgehend von dieser Erweiterung des engen politökonomischen Horizonts des Regulationsansatzes liefert Kohlmorgen auf Basis der eben erwähnten Analyseinstrumente eine überzeugende empirische Beschreibung des fordistischen Akkumulationsregimes im Nachkriegsdeutschland und der sozialstrukturellen Auswirkungen desselben.

Am empirischen Beispiel Deutschlands zeigt er die Leistungsfähigkeit der von ihm vorgenommenen Synthese von Regulations- wie von Klassen- und Geschlechterverhältnistheorie auf. Er durchleuchtet die historische Phase des bundesdeutschen Fordismus nach 1945 auf seine Sozialstruktur ab und zeigt auf, wie sich Phänomene sozialer Ungleichheit unter dem keynesianisch-fordistischen Klassenkompromiss einstellen konnten. Es gelingt ihm zu zeigen, welche gesellschaftlichen Teilbereiche entlang von Klassen- und Geschlechtergrenzen nicht von dem "maskulinistischen" Klassenkompromiss des Fordismus profitieren konnten. Zwar konnte durch materielle Zugeständnisse an die Klasse der Lohnabhängigen eine allgemeine Steigerung des Lebensstandards auf breiter Ebene und die Expansion des Wohlfahrtsstaates erreicht werden, doch wurden soziale Ungleichheiten und Ausgrenzungsprozesse nicht überwunden.

Im letzten Teil seiner Arbeit versucht Kohlmorgen schließlich eine Skizze der "postfordistischen Konstellation" zu leisten. Er kann hierbei zurückgreifen auf die breit gestreuten Diskussionen in den Sozialwissenschaften über die Veränderung von Staatlichkeit, von globalen Produktionsnetzen, von transnationalen Governance-Systemen etc. An die zusammenfassende Darstellung der gegenwärtigen Zeitdiagnosen (deren bekannteste Thesen in Stichworten genannt werden sollen: "finanzgetriebenes Akkumulationsregime", "nationaler Wettbewerbsstaat", "Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse", "Mehrebenen-Governance") knüpft Kohlmorgen wiederum die Analyse der sozialstrukturellen Konsequenzen der momentanen Umbruchsprozesse. Welche Auswirkungen haben die Transnationalisierung der Wertschöpfungsketten, die Flexibilisierung der ökonomischen Produktionsvorgänge auf die Sozialstruktur? Durch welche Machtstrategien und Regulationsmechanismen werden die sich verschärfenden sozialen Widersprüche zu stabilisieren versucht? Wie kann die Stabilität des transnational stattfindenden Kapitalverwertungsprozesses gewährleistet werden? Welche Konsequenzen hat die Ausrichtung der Akkumulationsstrategien des international agierenden Kapitals auf den Weltmarkt für staatliches und gewerkschaftliches Handeln?

Diese sehr umfangreiche Zusammenfassung der zeitdiagnostischen Thesen über die "postfordistische Konstellation" endet in zugespitzten Bemerkungen über die politische Bedeutung der mit der postfordistisch-neoliberalen Transformation einhergehenden sozialen Spaltungsprozesse. Trotz der Polarisierungstendenzen sind politische Konsequenzen im Sinne einer verstärkten Solidarisierung und einer Wahrnehmung von kollektiven Interessen seitens der Lohnabhängigen nicht wahrzunehmen: "Unter den Bedingungen der kompetitiven Regulation und des Individualisierungprozesses bleibt die Klasse der Lohnabhängigen in ihrer politischen Formierung fragmentiert, so dass sich trotz des Fehlens eines stabilen und integrativen Klassenkompromisses keine massiven offenen Konflikte ergeben".

Die Ausführungen von Kohlmorgen zeigen auf, was kritische Gesellschaftstheorie heutzutage noch zu leisten vermag. Er macht durch seine politökonomischen Ausführungen klar, welche Beachtung eine kritische Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationsprozesse den ökonomischen und politischen Wechselbeziehung beimessen muss. Eingebettet in eine gesellschaftstheoretische Fundierung stellt die Regulationstheorie ein sehr wichtiges Instrument zur Diagnose und Erklärung sozialer Ungleichheit dar. Die theoriepolitische Bedeutung der Arbeit Kohlmorgens besteht darin, dass er an dem Anspruch kritischer Gesellschaftstheorie festhält, den Zusammenhang von kapitalistischer Akkumulationsdynamik und gesellschaftlichen Strukturierungsprozessen zu fassen. Hinzu kommt, dass er seine Analyse der Phänomene sozialer Ungleichheit keineswegs auf ökonomische Prozesse reduziert, sondern eine gesellschaftstheoretisch informierte politökonomische Erklärung vorlegt. Die begrifflichen Vorarbeiten und die empirische Anwendung überzeugen und stellen eine erfrischende Aufarbeitung der vielversprechendsten Ansätze kritischer Gesellschaftstheorie dar. Es gelingt ihm schließlich in seinem zeitdiagnostischen Teil, den Zusammenhang zwischen den Transformationsprozessen, denen die Ebenen der Ökonomie und Politik unter den Vorzeichen der neoliberalen Globalisierung unterliegen, und den damit einhergehenden sozialen Erosions- und Umverteilungsprozessen klar hervorzuheben.

Kohlmorgen legt mit seiner Arbeit über die Regulationstheorie ein Werk vor, das die Fruchtbarkeit der politökonomischen Analyse in der Diagnostik der konkreten gesellschaftlichen Realität aufzeigt. Er scheut sich hierbei nicht davor aufzuzeigen, wie die Interessen und Akkumulationsstrategien bestimmter politischer und ökonomischer Akteure das Projekt des neoliberalen, globalisierten Kapitalismus vorantreiben. Dieser Versuch erscheint nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sozialtheoretischen Vernebelung durch die neuere kritische Gesellschaftstheorie des Frankfurter Instituts für Sozialforschung lobenswert. Letztere schließt sich der Sprachlosigkeit der neueren Soziologie in der Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus an und zieht es vor, die neuere Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften unter dem Begriff der "Paradoxie" zu begreifen. Will das Frankfurter Institut seine Arbeit künftig auf das Thema "Paradoxien kapitalistischer Modernisierung" ausrichten, hierbei auf die Begrifflichkeit von "Krise" und "Widerspruch" verzichten und von einer schwerpunktmäßigen Beschäftigung mit der Prozessen gesellschaftlicher Produktion absehen, kann mit Kohlmorgens Arbeit gerade in diesen beiden letzten Punkten widersprochen werden. Sie zeigt zum einen, dass eine Begrifflichkeit von Krise und Widerspruch unverzichtbar ist für das Verständnis der gegenwärtig sich vollziehenden Umbruchsprozesse in der global vernetzten kapitalistischen Ökonomie. Auch können die Prozesse der sozialen Desintegration und die Veränderung der Rahmenbedingungen nationalstaatlicher Politik in der Regulation sozialer Widersprüche nicht verstanden werden ohne eine Analyse der Transformationen in der ökonomischen Struktur. Kohlmorgens Versuch macht deutlich, dass eine soziologische Beschäftigung mit den gegenwärtigen Transformationen und deren sozialstrukturellen Auswirkungen keineswegs verwundert, sprach- und verständnislos beim Konstatieren irgendwelcher "Paradoxien" stehen bleiben muss.


Titelbild

Lars Kohlmorgen: Regulation, Klasse, Geschlecht. Die Konstituierung der Sozialstruktur im Fordismus und Post-Fordismus.
Westfälisches Dampfboot Verlag, Münster 2004.
358 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-10: 3896915630

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