Nicht nur sonntags kommt die Erinnerung

Astrid Erll zeigt die interdisziplinäre Fachgeschichte der Gedächtnisforschung

Von Berndt TilpRSS-Newsfeed neuer Artikel von Berndt Tilp

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Arno Geigers jüngst erschienenem Roman "Es geht uns gut" erbt Philipp Erlach, ein familiär unambitionierter Mensch, wie er sich selbst bezeichnet, das Haus seiner Großeltern und mit ihm widerwillig die Erinnerung an Lebensgeschichten, Orte und Ereignisse. Da verteidigt ein Vorfahr als 14jähriger in den letzten Kriegswochen 1945 die Wiener Innenstadt vor den herannahenden Alliierten und wird erschossen, da lässt sich ein Minister im Jahr des Staatsvertrags alle Zähne ziehen und durch ein Gebiß ersetzen, da laufen sie alle durch Mödling, Ottakring und Hietzing, durch "ihre" Straßen, an "ihrer" Donau entlang und stolpern gleichzeitig durch Geschichte und Geschichten Österreichs. So sehr es den Figuren des Romans um eine individuelle Geschichte zu tun ist, alle leben sie in der Zeitgenossenschaft einer konstruierten Wirklichkeit, die selbst die Folge einer komplexen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Übereinkunft mit dem Vergangenen ist.

Licht ins Dunkel dieser mannigfaltigen Bezugnahmen des Menschen auf das Vergangene bringt nun das Handbuch "Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen" von Astrid Erll. Um es gleich vorweg zu nehmen: Es ist mit diesem Buch eine hervorragende Einführung in eine zentrale Kategorie kulturwissenschaftlicher Forschung vorgelegt worden. Die Autorin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich "Erinnerungskulturen" an der Universität Gießen, zeigt ungemein kompetent die fachgeschichtliche Entwicklung der Gedächtnisforschung im 20. Jahrhundert, beginnend mit den weitreichenden Impulsen von Maurice Halbwachs' "Mémoire collective" und Aby Warburgs Mnemosyne-Konzept bis hin zu Pierre Noras "Lieux de mémoire" und der Assmann'schen Theorie vom kommunikativen und kulturellen Gedächtnis, seinen Speichern und Funktionen. Die Pluralität von Vergangenheitsbezügen wird in den fachdisziplinären Gedächtniskonzepten der Geschichts-, Sozial- und Politikwissenschaft ebenso wie in der Psychologie und Literaturwissenschaft referiert, nicht ohne dabei allfällige Mängel offen zu legen und als interdisziplinäre Synthese ein semiotisch-kulturwissenschaftliches Modell vorzuschlagen. Bei diesem werden fachdisziplinäre Herangehensweisen zugunsten einer Dreidimensionalität, die gleichermaßen Zeichenbenutzer, "Texte" und Codes berücksichtigt, aufgegeben. Ausführlich werden weiterhin die Medien des Gedächtnisses und hierin Literatur als Medium des kollektiven Gedächtnisses besprochen. Diese wiederum vordergründig fachspezifische Wendung macht den Ertrag des Buchs besonders deutlich, denn heuristisch gewinnbringend sind insbesondere diese Untersuchungen zur Gedächtniserzeugung des Symbolsystems Literatur. Eine solche Untersuchung der Literatur als Mittler von collective und collected memory modifiziert nicht nur die Grundannahmen der Literaturwissenschaft über ihre Konventionen, sondern auch ihr Funktionspotential zwischen Affirmation und Revision von Geschichte(n). Darüber hinaus wird der Rhetorik des kollektiven Gedächtnisses in Texten besondere Aufmerksamkeit geschenkt, was in der Zusammenschau in das Postulat einer erinnerungshistorischen Narrationsforschung mündet.

Die Theorielastigkeit einer fachgeschichtlich-kulturwissenschaftlich angelegten Einführung lässt sich nicht vermeiden, die Lesbarkeit ist aufgrund kompakter Zusammenfassungen am Ende eines jeden Kapitels, passender grafischer Darstellungen und der Hervorhebung zentraler erinnerungskulturwissenschaftlicher Begriffe jedoch gewährleistet. Zudem bieten themen- und fachbezogene Literaturhinweise und eine den Band abschließende aktuelle Auswahlbibliografie zu Handbüchern und Lexika der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung einen erleichterten Zugang zu weiterführender Lektüre. Gleichwohl hätte man sich, wie es in den Kapiteln zur Literatur durchaus geschehen ist, über stichwortartiges Referieren hinausgehende Beispiele zur Auflockerung der Theoriebildung gewünscht. Hinsichtlich der Zielgruppe der Studierenden verschiedenster Disziplinen hätte deshalb auch eine Erweiterung des Beispielreservoirs über 9/11 hinaus der Anschaulichkeit einzelner Thesen zugearbeitet.

Doch trotz aller unvermeidbarer Trockenheit ist Astrid Erlls Publikation für diejenigen, die mehr über die soziokulturelle Dimension des Erinnerns erfahren wollen, eine unbedingte Empfehlung. Es ist ein Handbuch, das dazu beiträgt, Mahnmal- und Museumsdebatten in Deutschland ebenso einordnen zu können wie gerüstet in einschlägige Diskussionen um Waterloo, Wiedervereinigung und Wilkomirski einzutreten. Vor diesem Hintergrund fallen Flüchtigkeitsfehler des Lektorats kaum ins Gewicht, auch wenn so aus dem 11.9. der 9.11. wird. Und ganz nebenbei werden, um auf Arno Geiger zurückzukommen, Handreichungen zur Beantwortung der Frage gegeben, warum für seine Figuren in "Österreich plötzlich (...) Hitler länger als Franz Joseph her war".


Titelbild

Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2005.
207 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-10: 3476018938

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