Verdrängte Verwandte

Eva Weissweilers allzu distanzloser Familienroman der "Freuds"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Sigmund Freuds Schwager Moritz 1920 im Alter von 62 Jahren in Berlin starb, hielt sich die Trauer des Analytikers in Grenzen. Der aus Bukarest stammende ungebildete Ehemann seiner "kindischen" Schwester Mitzi, Händler von Beruf, war für ihn wenig mehr als ein "Halbasiate" gewesen. Lange hatte er ihn sogar im Verdacht, seine Töchter zu missbrauchen.

Die Wahrheit sah anders aus. So waren Moritz und Mitzi große Theaterfreunde, die sich gern verkleideten und im Wohnzimmer für ihre begeisterten Kinder Schiller aufführten. "Freud weiß eigentlich nichts über diese Neffen und Nichten", konstatiert daher die Biografin Eva Weissweiler. Dem Leser geht es mit Freuds Verwandtschaft kaum anders. Denn von Ausnahmen wie Freuds Tochter Anna oder dem Maler Lucian Freud, einem Enkel des Analytikers, abgesehen, gerieten die meisten Angehörigen der weit verzweigten Familie neben dem berühmten Patriarchen in Vergessenheit. Weshalb sich schon 1950 die Schwiegertochter Henny mit einer ungewöhnlichen Bitte an Anna wandte: Sie möge doch daran denken, dereinst ein Foto ihrer Tochter Eva in eine Freud-Biografie einzubringen - damit die auf ihrer Flucht vor den Nazis in Frankreich an den Folgen einer Abtreibung früh Verstorbene wenigstens auf diese Weise "ein winziges Plätzchen neben ihrem unsterblichen Großvater" finde.

Die Kinderanalytikerin und Gralshüterin dachte freilich nicht daran; Annas rigide Nachlasspolitik entsprach ganz dem antibiografischen Affekt ihres vergötterten Papas. Dafür folgt nun Eva Weissweiler Hennys Bitte. Gestützt auf die zahlreichen Erinnerungsbücher und Briefwechsel, von denen viele noch unveröffentlicht in den Archiven in London oder Washington liegen, hat sie eine Art chronologisch-synoptischen Familienroman vorgelegt. Mit den Mitteln der erlebten Rede, des Präsens und nicht zuletzt der Empathie bleibt Weissweiler stets dicht an den Beteiligten und ihrem jeweiligen Bewusstseinsstand. Was mitunter zu Irritationen führt. Bei manchem Urteil bleibt unklar, ob es der gerade perspektivierten Person aufgrund entsprechender Dokumente oder nur qua Einfühlungsvermögen der Biografin in den Mund gelegt wird oder ob hier gar Weissweiler selbst spricht. Denn es wird munter mal in diese, mal in jene Figur gesprungen; wie gut, dass ein Stammbaum hilft, bei all den Namen und raschen Wechseln nicht die Orientierung zu verlieren.

In der Tat birgt das Familienuniversum der aus dem mährischen Freiberg stammenden Freuds und der norddeutschen Bernays, der Familie von Sigmunds Frau Martha, faszinierende Charaktere: Mitzis Tochter Tom Seidmann-Freud etwa, die in den zwanziger Jahren mit ersten interaktiven Werken wie "Das Zauberboot" das Genre des Kinderbuchs revolutionierte und sich nach dem Tod ihres Mannes 1930 das Leben nahm. Oder Freuds Schwester Anna, die als Kind davon träumte, als Missionarin nach China oder Afrika zu gehen, stattdessen aber 1892 ihrem Mann Eli Bernays nach Amerika folgte. Ihr Sohn Edward Bernays avancierte in den USA zum Begründer der Public Relation - dass sein auch auf den massenpsychologischen Einsichten seines Wiener Onkels beruhendes Erfolgsbuch "Propaganda" später von Goebbels eifrig studiert wurde, kann man nur als grausame Ironie der Geschichte bezeichnen.

Es sind zeittypische Erfahrungen, die sich in der Geschichte der aus ärmlichen Verhältnissen stammenden jüdischen Großfamilie widerspiegeln. Den Antisemitismus lernte schon Freuds Vater Jacob kennen: Noch im mährischen Freiberg, kurz vor dem Aufbruch der Familie nach Wien, schlug ihm ein Christ die Pelzmütze mit dem Ruf "Jud, herunter vom Trottoir!" vom Kopf. Dass er sie nur folgsam aufhob und stumm seines Weges ging, war eine demütigende Lehre, die sein Sohn Sigmund nie vergaß. Jahrzehnte später enden drei seiner Schwestern, darunter Mitzi, in den Vernichtungslagern der Nazis; der Rest der Familie kann sich nach Amerika und England retten.

Epochentypisch ist auch das Ringen weiblicher Familienangehöriger um Selbstständigkeit und Bildung; Bedürfnisse, für die dem Familienoberhaupt, mit vielen der üblichen misogynen Vorurteilen ausgestattet, jedes Verständnis fehlt. Schon seine Braut belehrt er, er könne sie sich nur als fürsorgliche Mutter vorstellen, nicht aber als "Konkurrentin". Den Wunsch seiner ältesten Tochter Mathilde, zu studieren, redet Freud ihr mit dem Hinweis auf ihren schlechten Gesundheitszustand aus.

Auch bei Anna, dem Nesthäkchen, dauert es lange, bis Freud akzeptiert, dass sie in seine Fußstapfen tritt. Modernere Beziehungen führen da schon seine Söhne. Martin, der Älteste, heiratet mit Esti Drucker einen aufgeweckten Blaustrumpf, der alle Schriften Freuds gelesen hat; jedoch zerstört er die Ehe mit seinen Seitensprüngen. Ernst, ein talentierter Architekt, nennt sich nach seiner Hochzeit gar Ernst L. Freud - L. wie "Lucie", seine Frau; Freud bewundert die beiden für ihre harmonische Ehe.

Wie harmonisch die Ehe des Analytikers selbst war, darüber streitet die Freud-Forschung seit langem. Für das von C. G. Jung kolportierte Gerücht, Freud habe ein Verhältnis mit seiner Schwägerin Minna unterhalten, konnten sich bislang keine Belege finden, auch nicht in dem jüngst veröffentlichten Briefwechsel der beiden. Weissweiler ist dennoch davon überzeugt. Das wird ihrer in vielem lesenwerten Darstellung ebenso zum Unglück wie die ungleiche Verteilung ihrer Sympathien für ihr Personal. Die "Tante", Minna also, mag sie jedenfalls nicht, wie schon die dauernden Anführungszeichen signalisieren, und den ihr "hörigen", "perversen" Freud eigentlich auch nicht.

Ohne Rücksicht auf Plausibilität behauptet Weissweiler, jeder hätte von dem Verhältnis gewusst und darunter gelitten, nicht zuletzt die Kinder. So wird die Biografin ein Opfer ihrer allzu distanzlosen Darstellung und ihrer solidarischen Identifikation mit Martha und den Töchtern: "Es ist besser, nicht zu viel über die Beziehung zwischen Vater und Tante nachzudenken. Denn sie ist wirklich nur noch unbegreiflich und peinlich." Alles wird Weissweiler zum psychosomatischen Zeichen, nicht zuletzt die Krankengeschichten: Minnas Darmprobleme, für die Biografin die Folge eines von Freud praktizierten Analverkehrs, ebenso wie eine "untypische" Augen-Infektion Marthas ("Sie will nichts mehr sehen."). Die Psychoanalyse, man weiß es, ist ansteckend.


Titelbild

Eva Weissweiler: Die Freuds. Biographie einer Familie.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006.
479 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3462036173

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