Und Wittgenstein lächelt

Harry G. Frankfurt denkt über Bullshit nach

Von Jan FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt erste Sätze, die strotzen vor Magie, vor Einfühlungsvermögen, vor Energie, vor Versprechen. Da könnte man einen Proust anführen: "Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen". Oder einen Kafka: "Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt." Oder wie wär's mit Wittgenstein: "Die Welt ist alles, was der Fall ist". Das rockt. Das knallt. Das ist so gut, da möchte man mit dem Fuß mitwippen.

Harry G. Frankfurt hat für seinen Aufsatz "Bullshit" einen ähnlich ins Stammhirn fetzenden Einleitungsatz geschrieben: "Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört, dass es so viel Bullshit gibt". Jawoll. So isses. Viel mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ein Satz wie vom Himmel gefallen. Trifft einen Nerv. Die "Sunday Times" ließ sich sogar zu der Ankündigung hinreißen: "Dieses Buch wird ihr Leben verändern".

Frankfurt hatte seinen Aufsatz "On Bullshit" zwar schon 1986 mit mäßigem Erfolg in einer Literaturzeitschrift publiziert. Die amerikanische 2006er Neuauflage von "On Bullshit" aber machte den 77-jährigen Philosophieprofessor Frankfurt zum Medienliebling und Bestsellerautor. Er wurde ein beliebter Interviewpartner zu Themen, hinter denen ein großes Maß an Bullshit vermutet wurde, meist politische Themen. John Kerry hat die Wahl nur verloren, weil er der weniger begabte Bullshitter ist. Die Gründe für die Invasion der USA in den Irak waren ein Musterbeispiel für Bullshitting. Und überhaupt: "Alle Politiker reden Bullshit". Das ist Frankfurt in Reinkultur.

Eigentlich sollte "Bullshit" nur eine Begriffsdefinition sein, eine Sondierung. Der Aufsatz solle als ein erster Stein für ein ganzes Forschungsgebäude dienen: "Schließlich sind in Bezug auf Bullshit selbst die elementarsten Fragen bislang nicht nur unbeantwortet geblieben, sondern noch nicht einmal gestellt worden". Was ist Bullshit? Wie lässt er sich erkennen? Wie von der Lüge abgrenzen? Was kann man dagegen tun? Das sind die elementaren Fragen, die Frankfurt beantworten will. Die Lüge sei fokussierter, schreibt Frankfurt, mehr an der Wahrheit ausgerichtet. "Wer lügt, kennt die Wahrheit". Für Bullshit sei das nicht notwendig. "Wer sich hingegen mit Bullshit durchmogeln möchte, ist deutlich freier", er könne bei Bedarf auch den Kontext fälschen. Folglich sei Bullshitting kreativer als Lügen, allerdings auch ein größerer Feind für die Wahrheit. Für den Bullshitter spielt die Wahrheit keine Rolle mehr, "es ist ihm gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus, oder legt sie sich so zurecht, dass sie seiner Zielsetzung entsprechen". Nicht ganz Wahrheit, nicht ganz Lüge - eine verführerische Mogelpackung ohne Inhalt, das versteht Frankfurt unter Bullshit.

Bullshitting ist, folgt man dem Philosophen, kaum zu vermeiden in einer (demokratischen) Gesellschaft, die von ihren Individuen (in noch höherem Maße von ihren Journalisten und Politikern) verlangt, dass sie zu allem eine Meinung haben oder zumindest darüber informiert sind. Das ist nun leider unmöglich, aber eine Meinung muss trotzdem her. Und die muss den Anschein von Wahrheit erwecken. Schon haben wir den schönsten Bullshit.

Wenn aber nun Richtigkeit oder eine objektive Wahrheit nicht mehr erkennbar seien und das Alternativideal, die Aufrichtigkeit zumindest gegen einen selbst, auch nichts weiter als Bullshit, weil Menschen nun einmal so schwer zu fassende Wesen sind, bliebe, nach Frankfurt, kaum eine andere Wahl als Bullshitting.

Das ist eine Breitseite gegen jegliche Art von Moralismus, der sich irgendeiner höheren Wahrheit verpflichtet sieht. Eine Breitseite gegen Individuen, die sich verpflichtet fühlen, über Themen zu sprechen, mit denen sie sich eigentlich nicht auskennen. Gegen das, was neuerdings web 2.0. genannt wird, dieser ganze relevant-irrelevante Blog- und Konsumentenbeteiligungskram. Übrigens auch gegen diese Rezension, aber das ist nur eine weitere Marginalität, nur ein kleines Stückchen Bullshit. Frankfurt denkt da sehr viel größer. Wer in der Bullshitsphäre lebt, verliert die Wahrheit, das ist Frankfurts große Sorge.

Dabei ist der Aufsatz direkt flapsig, sogar unterhaltsam, was für eine philosophische Abhandlung nicht selbstverständlich ist. Ein wenig ausschweifend manchmal, aber es sind unterhaltsame Exkurse, und bei bloß 70 groß bedruckten Seiten fällt das auch kaum ins Gewicht.

Der leichte Stil täuscht anfangs darüber hinweg, wie weitreichend das Phänomen "Bullshitting" nach Frankfurt ist. Aber dann, aber dann: Kurz und gekonnt differenziert Frankfurt Begriffe wie Lüge, Bluff, Humbug und eben Bullshit aus, grenzt sie gegen die Wahrheit ab. Er entwickelt ein richtiggehendes Begriffskontinuum, aus dem er sich seine Kommunikationskritik strickt, die selbst nach 20 Jahren erstaunlich aktuell und treffend ist, möglicherweise noch treffender als zur Zeit ihrer Niederschrift. Damals, bevor die Möglichkeit bestand, Bullshit relativ günstig und in Echtzeit quer über den Globus zu schicken oder frei zugänglich für den Rest der Welt zu speichern. Mehr denn je sind wir heute umgeben von Bullshit, dem kleinen harmlosen und dem großen schlimmen.

Die Verkaufszahlen von "On Bullshit" belegen, dass das Bedürfnis besteht, ihn zu erkennen. Eine Gebrauchsanweisung ist "Bullshit" also, zum Erkennen und Vermeiden von Bullshitting. Ein Plädoyer für wenigstens ein bisschen Wahrhaftigkeit. Für ein bisschen Schweigen. Denn hinter den Zeilen lächelt Wittgenstein: "Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schweigen".


Titelbild

Harry G. Frankfurt: Bullshit.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
73 Seiten, 8,00 EUR.
ISBN-10: 3518584502

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