Das Bier der bösen Denkungsart

Vorhölle Outback: Kenneth Cooks perfider Roman "In Furcht erwachen"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Keine Wendungen. Keine Finten. Keine Dramatik. Nur ein junger Mann: willensschwach, müde, unsicher. Und ein Ort: Bundanyabba, ein Kaff im australischen Outback, einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Mann ist Grundschullehrer und auf der Durchreise, am Nachmittag hatten die Sommerferien angefangen. Staub. Hitze. Ein Bier in einem schäbigen Bar. Der Zug ans Meer, nach Sydney, fährt erst morgen. Ein weiteres Bier, Gespräche mit Fremden, noch ein Bier. Und dann das Glücksspiel: alles auf Zahl. Kopf gewinnt.

"Der Ruf 'Kopf' hatte zuerst keine Wirkung auf ihn, doch ein oder zwei Augenblicke später traf ihn der dumpfe Schock der Erkenntnis. Er schaute ausdruckslos zu, wie fremde Hände das Geld wegrafften, das er hingelegt hatte. Starrte den leeren Teppich an, dort, wo es gelegen hatte. [...] Er drehte sich um und ging mit leerem Blick aus dem Gebäude, hinaus in die Nacht, steif, wie versteinert vom Ausmaß seines Verlustes. Was der Verlust für ihn bedeutete, war so tragisch, dass er nicht darüber nachdenken konnte."

"Die Leiden des jungen Werthers". "Das Herz aller Dinge". "Adrienne Mesurat". Es gibt Romane, in denen passiert nichts Romanhaftes. Ein Autor greift in die Masse der Menschen. Zieht einen von ihnen heraus. Hält ihn in der hohlen Hand, betrachtet ihn von allen Seiten. Und dann lässt er ihn fallen. Und misst die Zeit. Die Zeit bis zum Aufschlag. Sonst nichts: keine Wendungen, keine Finten, keine Dramatik. Stattdessen Geradlinigkeit. Gnadenlose, unerbittliche Geradlinigkeit.

"Draußen in den Wüsten, hinter dem Dröhnen und Stampfen der alten Lokomotiven, sorgten die banalen Worte und abgedroschenen Melodien des modernen Amerika dafür, dass die Dingos erstaunt ihre Ohren spitzten und damit die Traurigkeit, die das australische Hinterland durchdringt, ins Unermessliche steigerten." Eine hässliche, unwirtliche Welt, zum Verzweifeln schön. Ein Mann, dem binnen weniger Tage jede Spur der Zivilisation vom Leib geschält wird. Stolz, Arroganz, Machismo: alles weg. Die ultimative Demontage.

Der letzte, der das richtig gut konnte, war Hemingway.

Auftritt Kenneth Cook. Sein Roman "In Furcht erwachen" ist schmal und düster. Er kommt schnell zur Sache: Grundschullehrer John Grant strandet ohne Geld in der Wüste. Versucht, die Stadt zu verlassen. Fragt sich, ob er sich Geld leihen soll. Und macht Bekanntschaft mit freundlichen, aber dubiosen Hinterwäldlern. In kargen Sätzen und ohne großen philosophischen Überbau beschreibt Cook John Grants Warten. Seine Passivität. Und die Scherereien, in die er verwickelt wird. Zu Geld kommt er nicht. Aber zu Bier. Immerzu.

Selten wurde in einem Roman so viel getrunken. Und vor allem: so unmotiviert, ohne jeden Genuss. Grant schüttet Bier in sich hinein, in der Hoffnung, dass sich irgendwann ein Ausweg auftut. Stattdessen wird es immer schlimmer. Latent benebelt durchleidet er ein peinliches Dinner bei einer Bergwerksfamilie. Anschließend die Verführungsversuche einer nymphomanen Minderjährigen. Dann eine Kängurujagd. Und schließlich eine schwule Ver... Huh? War das was? Besser nicht drüber nachdenken. Ob ich Bier will? Ähm... Warum nicht? Danke.

"Das durfte nicht sein, das passierte nicht, nicht mit John Grant, Lehrer und überhaupt. [...] Es hätte nicht geschehen dürfen. Es konnte nicht geschehen sein. Es geschah zweimal." Der Roman überzeugt, beschreibt er doch ein ödes Land aus den Augen einer völlig unreflektierten Person. Zwischen all den Zufällen, Grausamkeiten und Banalitäten ist quälend viel Platz für Subtext. Ein hartes, dreckiges Buch: Hemingway, die Dosenbier-Variante. Oder Oliver Stones' Film "U-Turn", nur ohne J-Lo, ohne Zithermusik. Und ohne Wendemöglichkeit.

Das klingt dann so: "Betrunken zu sein bedeutet Wärme und Geborgenheit, es gibt keinen Schmerz mehr, und es spielt keine Rolle, ob Kängurus erschossen werden, furchterregend atmen und in der Nacht verschwinden; es spielt keine Rolle, ob man kleine Kängurus in Stücke schneidet, bevor sie sterben. Grant tötete viele Kängurus in dieser Nacht; einmal machte er gar den verheerenden Versuch, eines auszunehmen, bevor er sicher sein konnte, dass es tot war: Es zappelte mit heraushängenden Eingeweiden. Alle lachten."

Das Buch wurde bereits 1961 geschrieben. In Australien ist es Schullektüre.

Gegen Ende zeigt sich leider, warum. Cook hat seinem Roman ein Motto vorangestellt: "May you dream the devil and wake in fright" (Cook sagt: alter Fluch. Google sagt: Richard Harris Barham-Zitat). Ganz so, als wolle er seinem Protagonisten Angst machen. Aber es geht um jemand anderen. Es geht um den Leser: "Das Unglaubliche daran war, dass er bei alldem zu rein gar nichts gezwungen worden war. Es war, als hätte er sich absichtlich drangemacht, sich selbst zu zerstören, und dann hatte ein Ereignis zum nächsten geführt. Aber er hätte nichts davon tun müssen", holzhämmert es plötzlich im letzten Kapitel. Dort enttarnt sich der Roman. Als Lehrstück.

"Eins war zum anderen gekommen. Für nichts davon hatte eine Notwendigkeit bestanden, aber jedes Ereignis hatte bereits den Samen für das nächste in sich getragen. [...] In fast jedem Stadium seiner persönlichen kleinen Tragödie konnte er sich an einen Punkt erinnern, wo er sich hätte anders entscheiden können." Diese Erkenntnis verwässert die Handlung zur Parabel, und sie leitet Grants - seltsam abstruse - Erlösung ein. Man sieht sie förmlich vor sich, die Aufgabenblätter im Literaturunterricht: "Was hat John Grant zum Schluss über sich begriffen?" (500 Wörter Minimum, 10 Credit Points)

Hier kommt die Antwort: "Ich kann die Genialität erkennen, die einen Mann unter denselben Umständen entweder erbärmlich oder bedeutend macht. Ich kann erkennen, dass die Dinge, die er tut, wenn er die Erbärmlichkeit wählt, trotzdem einen Sinn ergeben und ihm eine Lehre für die Zukunft sein können, wenn er nur will. Was ich überhaupt nicht erkennen kann: [...] warum mir erlaubt sein sollte, noch am Leben zu sein und all diese Dinge zu wissen... [...] Aber ich spüre, dass ich es irgendwann noch rausfinden werde."

Das ist tatsächlich noch schlimmer als die platte "a man can be destroyed, but not defeated"-Moral von "Der alte Mann und das Meer". Und meilenweit entfernt von guten Hemingway-Romanen. "In Furcht erwachen" kippt am Schluss um. Eine psychologische Tour de Force - subtil erzählt, grandios rhythmisiert - wird zum faden Erbauungs- und Bekehrungsroman. Cook versprach einen knochentrockenen Alptraum, schon im Titel. Doch am Ende steht er im Zimmer. Die eine Hand am Lichtschalter. In der anderen eine Tasse Milch. Und sagt den nassgeschwitzten Lesern: "Alles halb so schlimm. John geht es gut. Schlaft weiter."

Das ist nicht fair. Das ist Konfirmationsunterricht.


Titelbild

Kenneth Cook: In Furcht erwachen.
Übersetzt aus dem Englischen von Hansjörg Schertenleib.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
192 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3406542077

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