Wir gingen täglich einkaufen

Roddy Doyle gibt in "Rory & Ita" seinen Eltern das Wort

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei seinem Auftritt im Hamburger Literaturhaus von einigen Jahren verkündete Roddy Doyle, sein Verlag drucke unbesehen alles, was er abliefere: "Wenn ich denen meine Einkaufszettel geben würde, würden sie auch die noch drucken." Das klingt arrogant, zeigt aber nur, dass Doyle seinen Marktwert kennt - und daß er weiß, er selbst ist die einzige Kontrollinstanz, die bestimmt, was unter seinem Namen erscheint und was nicht. Ob das hinreicht, ist die Frage.

Die Probe aufs Exempel ist "Rory & Ita", ein Buch, auf dem zwar Roddy Doyle draufsteht, in dem er aber nicht selbst erzählt, sondern seinen Eltern das Wort gibt. "Ich wollte die Fragen stellen, ehe es zu spät ist", erläutert er in seiner Vorbemerkung - also hat er sie gestellt, und seine Eltern haben in aller Ausführlichkeit geantwortet. "Rory & Ita" ist eine Collage der Tonbandmitschrift dessen, was dabei herauskam, nur sehr gelegentlich von einem überleitenden Satz des Filius unterbrochen, der sich ansonsten auf ein Fußnotendasein beschränkt. Wer erwartet, in "Rory & Ita" etwas von der in ihren besten Momenten durchaus virtuosen Erzählkunst Roddy Doyles zu finden, ist deswegen an der vollkommen falschen Adresse.

Wenn Memoiren lesenswert sind, dann kann das dreierlei Ursache haben. Erstens kann das Leben, an das sich jemand erinnert, spannend oder anrührend oder sonst von besonderem Interesse sein. Zweitens mag die Person, die sich erinnert, so bedeutend sein, dass wir alles über sie wissen wollen, und sei es noch so nebensächlich. Drittens lässt sich selbst das langweiligste Leben der unbedeutendsten Menschen lesenswert machen, nämlich durch stilistische Finessen und erzählerische Suggestivität - durch Überführung in Literatur.

"Rory & Ita" fällt leider in keine dieser drei Kategorien; das Geld für dieses Buch kann man sich eigentlich sparen, indem man ins nächste Altersheim geht oder sich in der Bahn neben eine alleinreisende ältere Dame setzt.

Material zum Erzählen kann bekanntlich alles werden: "Der Bodenbelag war aus einem Material, das Congoleum hieß." (Eine Fußnote klärt uns darüber auf, was das nun wieder ist - Wissen, das die Welt nicht braucht.) Namen sind Schall und Rauch, aber im Zweifelsfall unvergessen: "Der Mädchenname seiner Mutter Catherine (Katie) war Mullally." Und jeder hat so seine Qualitäten: "Bessie war berühmt für die beste Butter weit und breit." Menschen werden geboren, verheiraten sich und sterben, Freundes- und Kollegenkreise sind groß, irische Familien sogar noch größer, und zu jeder Person muss erläutert werden, aus welchem Dorf sie stammt (die Fußnote reicht unweigerlich auch die Grafschaft nach) und was der Beitrag der Familie zur irischen Unabhängigkeit war. Als Leser finden wir es durchaus erholsam, einmal auf jemanden zu treffen, von dem es kurz und bündig heißt: "Ob Nichten oder Neffen da waren, weiß ich nicht."

Erspart bleibt uns wenig. Wir erfahren nicht nur, an welcher Adresse wer von wann bis wann gewohnt hat, sondern aus den Fußnoten zudem, was am Ort der längst abgerissenen Häuser heute steht. Wenn jemand "leichte Naturwellen" im Haar hat, muss naturgemäß erwähnt werden, ob sie aus dem Erbgut des Vaters oder der Mutter stammen; zu Hochzeiten sind Dutzende Personen eingeladen, die folglich hergezählt werden wollen, und natürlich erfahren wir nicht nur, wer warum nicht hat kommen können, sondern auch, wer was geschenkt hat und wie gekleidet war.

Aufmerksame Leser von "Rory & Ita" haben am Ende gelernt, zu welchen Zeiten welche Filme in den Kinos liefen, wie lange das Fahrrad "das wichtigste Kulturgut" war, wann der Hypothekenzins stieg und wessen Apfel-Rhabarber-Kuchen am besten schmeckte. Nur einmal ist ein wichtiger Sachverhalt fraglich, als nämlich Ita Doyle meint, ein debiler Pfarrer habe "ein großes weißes Taschentuch" gehabt, und ihr Mann vehement widerspricht: "Es war rot."

"Ich weiß noch": so beginnen viele Sätze, und das, was folgt, verfügt immer über den Vorzug der Konkretheit, aber auch über den Nachteil der Beliebigkeit. Der Pachtvertrag "von 1600" hätte auch von 1650, Mike Parker aus Kilmuckridge ebensogut ein Paddy Sowieso aus Ballywasweißich, die neue Waschmaschine ein Kühlschrank sein können, ohne an der Qualität von Buch oder Erinnerung etwas zu ändern. Spannender ist es da schon, woran Rory und Ita Doyle sich ausdrücklich nicht erinnern - an das Fabrikat der Waschmaschine etwa, an die Handlung mancher Kinofilme (Sohnemann Roddy reicht sie in seinen Fußnoten nach), auch daran, wo sie den Sarg für einen Sohn, der keine zwei Tage lebte, kauften. Eine Schwangerschaft Itas endet mit einer Fehlgeburt: "Wie sehr ich getrauert habe, weiß ich heute nicht mehr." Auch an die Lebensmittelknappheit im Weltkrieg (der im neutralen Irland nur als "Emergency" stattfand) hat sie "keine Erinnerung [...], demnach habe ich nicht besonders darunter gelitten." Rory hingegen kann sich "nicht erinnern, dass ich mich besonders für Frauen interessiert hätte, ich hatte anderes im Kopf." Was das war, wird uns nicht vorenthalten.

"Alles war schön dort", summiert Ita die liebsten Schauplätze ihrer Kindheit: "Und natürlich hat es nie geregnet - ich kann mich nicht an Regen erinnern." Rory hat das anders erlebt, jedenfalls beim Radfahren: "In meiner Erinnerung hat es fast immer geregnet." Wünschen wollen wir ihnen nachträglich, dass Ita recht hat, denn beide sind sie uns durchaus sympathisch, gehen sie doch pragmatisch und in wohltuender Ferne zu den irischen Fanatismen alkoholischer, konfessioneller, politischer oder folkloristischer Natur durchs Leben. Dass ihr berühmter Sohn ihnen zur goldenen Hochzeit ihre Erinnerungen zu einem Buch gebunden hat, haben sie sicherlich verdient; freilich zählen wir uns nicht zur Familie und bringen deswegen die zum Durchblättern alter Sippenbilder nötige Begeisterung nicht auf. "Wir gingen täglich einkaufen, Supermärkte gab es ja noch nicht", verrät Ita und zählt immer wieder auf, was sie wann wo gekauft hat. "Und wenn ich zurückblicke, gab es wohl gute Zeiten und schlechte Zeiten."

Ach, hätte Roddy Doyle doch aus seinen Einkaufszetteln ein Buch gemacht! Stattdessen präsentiert er uns in "Rory & Ita" gewissermaßen die Einkaufszettel seiner Eltern; er selbst beschränkt sich darauf, ihnen gelegentlich das Einkaufsnetz zu tragen. "Was wir gegessen haben, weiß ich nicht mehr, aber es war ein großer Genuß." Nur nicht für die Leser.


Titelbild

Roddy Doyle: Rory & Ita. Eine irische Geschichte.
Übersetzt aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann.
Carl Hanser Verlag, München 2005.
316 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3446205683

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