Von den Toten auferstanden, in einem Stuttgarter Café gestrandet

Sibylle Lewitscharoff erzählt in "Consummatus" von einem Wiedergänger

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es ist vollbracht." Nach sechs Wodkas stolpert Ralph Zimmermann aus dem Stuttgarter Café Rösler in das Schneegestöber. Vollbracht hat er aber nicht nur die Wodkas, sondern auch eine Todesfahrt, die nur wenige gemacht haben, und die noch viel weniger lebend überstanden haben. Er ist wie Orpheus in das Totenreich gegangen, hat dort seine Eurydike gefunden, seine Eltern und viele andere Tote. Er hat Jesus lachen hören, er hat an der Schraube gedreht, die zu Ihm führt. Und er ist wieder zurückgekommen, aber ohne Eurydike. Die nämlich war tot und blieb tot.

Dennoch hat sie ihn begleitet. Als Ralph Zimmermann am Samstag, den 3. April 2004, von 10.01 Uhr bis 14.16 Uhr Kaffee und Kuchen und eben auch seine Wodkas zu sich nimmt, ist die Tote, seine Geliebte Joey, bei ihm. Nicht allein. Joey war Sängerin, wie die deutsche Sängerin Nico, die eigentlich Christa Päffgen hieß. Genau: das Fotomodell, das von Warhol in die Band "Velvet Underground" geholt wurde und dann nie wieder richtig erfolgreich war, bis sie nach Alkohol-, Heroin- und Methadon-Missbrauch 1988 auf Ibiza tödlich verunglückte. Und Jim Morrison, der legendäre Sänger der Rockgruppe "The Doors", 1971 gestorben. Und Andy Warhol, 1987 gestorben. Außerdem noch Edie Sedgwick, ebenfalls 1971 gestorben, das "poor little rich girl" aus Warhols Filmen. Sie alle schwirren um Ralph herum, reden auf ihn ein und schweben wieder weg. Auch seine Eltern sind da, die vor 20 Jahren bei einem Serengeti-Urlaub abgestürzt waren. Sie alle leben noch weiter, in irgendeiner Form. Ralph hört sie nicht, er fühlt sie manchmal ein bisschen, aber wir, die Leser, wir können sie hören.

Sibylle Lewitscharoff hat mit dieser Geschichte einen seltsamen Roman geschrieben: "Consummatus" (von "Consummatum est": es ist vollbracht). Es passiert überhaupt nichts, außer dass Ralph an seinem Tisch sitzt und sich erinnert und vor sich hin monologisiert, und die Toten sich immer wieder einmischen. Er erzählt von seiner seltsamen Lebensreise, die beginnt, als er sich 1981 aus Langeweile ein Jahr unbezahlten Urlaub geben lässt und nach Spanien fährt. Er begegnet Joey (mit bürgerlichem Namen Johanna Skrodzki), lässt sich von ihr faszinieren und mitziehen und fährt den Tourbus durch ganz Europa. Bis er sie aus Versehen totfährt.

Lewitscharoff erzählt fabulierlustig von diesem Versager und Säufer, macht sich geradezu lustig über ihn, über seinen Totenernst, über seine aufrichtige Schwabenseele und seine solide Bildung: Keinen Satz kann er sagen, ohne Stefan George oder Luther zu zitieren, oder Bob Dylan und Jesus, die beiden anderen Zimmermänner. Dylan (mit bürgerlichem Namen Robert Zimmermann), der 1966 für Nico seine "Visions of Johanna" schrieb ("And these visions of Johanna are now all that remains"), kommt häufig vor, bis zum Schluss. Immer wieder wird sein Song "Desolation Row" zitiert: "To her death is quite romantic", heißt es.

So ist das Buch voller Zitate, eine kleine gelehrte Sammlung von Totensprüchen und Todesphilosophien und Todesahnungen. Selbst Ralphs eigener Tod per Blutsturz ist ein Zitat, ein Tod in Venedig. Aber hinter, neben und durch diesen Sprachwitzschwall erzählt Lewitscharoff von der allgegenwärtigen Popkultur und den letzten Dingen, vom Tod und den zarten Botschaften der Erinnerung, von Selbsttäuschung und Selbsterkenntnis. Augenzwinkernd heiter lässt sie einen gebildeten Dummkopf schwadronieren und hält dem Leser damit einen geistreichen Spiegel vor.

Ihr Buch ist gleichzeitig ein schwäbisch-theologisches Traktat und ein Ausschnitt aus der deutschen Popmusikgeschichte, existenzieller Fragenkatalog und lustvolles Zeitgefühl. Was ist der Tod? Ist er wirklich nur die Erinnerung an diejenigen, die ihn hinter sich haben? Arno Schmidt hat in seinem Capriccio "Tina oder über die Unsterblichkeit" damit gespielt: Da können die Toten erst verschwinden, wenn man sie endlich vergessen hat. Und das ist eine Erlösung für sie. Oder bleibt doch noch mehr, eine Energie, eine geistige Kraft, der Wille, ein körperloses Gewese, eine Seele? Das ist dann ein Fall für die Esoteriker. Oder Philosophen. Oder Theologen. Von allem steckt etwas in Lewitscharoffs Totenuntersuchung, alle Bereiche spricht sie an und spielt mit ihnen.

Sogar die Kabbala kommt vor, ganz prominent und gleichzeitig spielerisch: Die 16 Kapitel sind numeriert, über jedem steht ein Zahlenquadrat, in dem jede Zeile, waagerecht oder senkrecht addiert, die Zahl 34 ergibt. Siehe da: 34 Jahre alt soll Jesus gewesen sein, als er starb, und am 3. April spielt die Geschichte. Auch das ist eine Spielerei, hinter der sich ein Ernst verbirgt. Oder jedenfalls verbergen könnte. Nur welcher, das lässt Lewitscharoff natürlich offen. Sie schreibt ja auch kein Traktat, keinen Aufsatz, sondern einen Roman. Und da muss so manches in der Schwebe bleiben.

Aber es macht Spaß, dieses nicht zusammengehörige Sammelsurium zu lesen, das immer wieder auch in Situationskomik abgleitet, immer wieder unterbrochen von Korrekturen der Toten. Am Schluss löst es sich sogar typografisch in Schneegestöber auf. Die Perspektiven vermischen und verwischen sich, und am Ende ist nur noch eines klar, als Ralph Zimmermann über seine eigene, ganz private "Desolation Row", in die sich die Königsallee verwandelt hat, ins Weinhaus Fröhlich läuft: "Jungejunge, es ist vollbracht".


Titelbild

Sibylle Lewitscharoff: Consummatus. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
236 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3421055963

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