Yorick in Russland

Neil Stewarts Studie über die Sterne-Rezeption in der russischen Literatur im frühen 19. Jahrhundert

Von Nikolas ImmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolas Immer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt sich verstärkt das Bedürfnis, literarische hobby-horses zu reiten. Denn mit Laurence Sternes "The Life and the Opinions of Tristram Shandy, Gentleman" und seiner "Sentimental Journey" breitet sich eine wirkungsmächtige Modewelle aus, die schon bald den europäischen Raum erfasst.

Bisher hat die Rezeptionsforschung vorrangig von den Entwicklungslinien auf englischem, französischem und deutschem Gebiet Kenntnis genommen. Dieser Blick wird jetzt von Neil Stewart erweitert, indem er auch die russische Sterne-Rezeption für die Zeit von 1790 bis 1840 in einer anregenden und detaillierten Studie beschreibt.

Die Arbeit, die in fünf große thematische Abschnitte unterteilt ist, widmet sich zunächst der Poetik Sternes selbst. Einschlägige Forschungsmeinungen werden kritisch referiert, wobei Stewart auf eine konkrete Zielrichtung hin argumentiert. Sie besteht darin, die aporetischen Züge jeder 'feststellenden' Sterne-Interpretation aufzuzeigen. Dagegen sei vielmehr - in Anlehnung an eine Bemerkung Friedrich Nietzsches - von einer "Poetik der Schwebe" auszugehen, die aus dem "Antagonismus explorativer und spielerischer Züge" resultiere.

Nach der poetologischen Einordnung Sternes werden zwei exemplarische Reiseromane vorgestellt, die sich an der "Sentimental Journey" orientieren. Der Gehalt dieser Werke zeitigt jedoch völlig verschiedene Ergebnisse: Während Aleksandr Radišcevs sozialkritischer Roman seinem Autor die Empörung Katharinas II. und schließlich die Verbannung nach Sibirien einbringt, erwirbt sich Nikolaj Karamzin den Titel eines "russischen Sterne".

Auf der einen Seite entwirft Radišcev eher ein "politisches Traktat", das "fiktionale und belletristische Elemente aus rhetorischem Kalkül verwendet". Auf der anderen Seite exponiert Karamzin deutlich die Nähe zur "Sentimental Journey". Er verwebt die Lektüreerfahrung mit literarischen Reisemodellen - wie z. B. der russischen Tradition des religiösen Pilgerns - und eigenen Reiseerfahrungen. Überdies ist Karamzin daran gelegen, die Sterne'schen Eigenheiten auch auf stilistischer Ebene im Russischen zu etablieren.

Die Jahre von 1796 bis 1825, die im Anschluss dargestellt werden, spannen einen Bogen von anfänglicher "Stagnation" bis zur versuchten "Revolution" der Dekabristen. Die "süßlich-sentimentalen" Romanwerke der Sterne-Epigonen um 1800 charakterisiert Stewart mit einem Zitat Michail Kajsarovs, der das "Unglück" bedauert, jedes Jahr aufs neue etliche Sternisierende "Kapitel Über Hündchen, Über den toten Esel, Über Kaffee" usw. lesen zu müssen.

Ein Vierteljahrhundert später ist die öffentliche Situation nach dem gescheiterten Aufstand der Dekabristen jedoch entscheidend politisiert. Sterne und der damit verbundene Sentimentalismus werden jetzt abfällig dem "allgemeinen Übel" zugeschlagen. Denn Ironie und Humor vertragen sich nicht mit dem ernsthaften Idealismus des Revolutionärs.

Die zwei letzten großen Abschnitte gelten den Dichtern Aleksandr Puškin und Nikolaj Gogol. In Russland ist Puškin der erste, der - wie schon der bekannte russische Formalist Viktor Šklovskij gezeigt hat - den "Tristram Shandy" "wegen seiner strukturellen Qualitäten zu schätzen wußte". In Fortführung der Untersuchung Šklovskijs geht Stewart vor allem auf die formale Nähe von Puškins "Evgenij Onegin" ("Eugen Onegin") zum "Tristram Shandy" ein.

Bei Gogol hingegen liegen "gewisse Affinitäten" zu Sterne "gleichsam offen zutage", so dass es nicht verwundert, dass sich Karamzins Titel eines "russischen Sterne" schon bald auf Gogol überträgt. Vor allem die Erzählung "Nos" ("Die Nase") deutet auf den körperlich lädierten Titelhelden des "Tristram Shandy" sowie auf das darin behandelte Traktat des Hafen Slawkenbergius hin. Stewart betont aber zu Recht, dass das verbreitete Motiv gleichwohl im Kontext der in den 1830er Jahren "grassierenden Nasomanie" gesehen werden muss. Sternes Werk wird für Gogol zu einem literarischen Raum, der ihm Themen und Techniken bereitstellt, um romantische "Reinszenierungen mit grotesken und absurden Effekten" auszustatten.

Die produktive Auseinandersetzung mit dem angelsächsischen Autor im frühen 19. Jahrhundert sorgt dafür, dass Sternes dichterisches Universum im literarischen Bewusstsein Russlands unvergessen bleibt. 1852 notiert Lev Tolstoj: "Sterne gelesen. Hinreißend". Über die Studie Stewarts möchte man im Grunde das Gleiche sagen.


Titelbild

Neil Stewart: "Glimmerings of Wit". Laurence Sterne und die russische Literatur von 1790 bis 1840.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005.
411 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-10: 3825350703

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