Rückblick auf ein vornehmes Paradies

Fulco di Verduras Kindheitserinnerungen "Selige Sommerzeit"

Von Andrea NeuhausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andrea Neuhaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Giuseppe Tomasi di Lampedusa beschreibt in "Il Gattopardo", seinem einzigen Roman, die untergehende Welt des sizilianischen Adels. Vielleicht ließ sich Fulco di Verdura, Fürst Lampedusas Cousin, von diesem Klassiker der sizilianischen Literatur inspirieren, als er seine Kindheitserinnerungen niederschrieb. Fulco Santostefano della Cerda, Herzog di Verdura (1899-1978) verbrachte seine Kindheit in der Villa Niscemi, einem prachtvollen Anwesen in der Nähe von Palermo. 1927 lernte er Coco Chanel kennen, entwarf Schmuckstücke für sie, wurde als Juwelier berühmt und lebte in Paris, New York und London. Mit 77 Jahren schrieb er seine Memoiren auf Englisch nieder. Erst durch die französische Übersetzung von Edmonde Charles-Roux wurden sie für den deutschen Markt entdeckt.

Fulco di Verdura entführt uns wie sein Cousin in eine vergangene Epoche, der das bevorstehende Ende einen besonderen Glanz verlieh. Präzise, zuweilen detailverliebt werden die althergekommenen Gepflogenheiten, die exzentrischen Gewohnheiten des palermitanischen Adels beschrieben. Fulco die Verdura schildert die prächtige Ausstattung der Villa Niscemi und der weiteren beiden Wohnsitze der Familie, vornehme Patriziervillen, Opernbesuche, die Speisenfolge bei Tisch, auch eine Aufzählung der Haustiere fehlt nicht, darunter Hunde, Katzen, Pferde, Esel, ein Widder und sogar ein Pavianpärchen "von sehr unbändigen Sitten und außerordentlicher Unanständigkeit." "Warum behielt man diese bösartigen Tiere, die weder das Gefühl ansprachen noch ein Schmuck waren? Eine Frage, die ich heute ebenso wenig zu beantworten vermag wie damals. Ich glaube, daß ich es in meiner Kindheit als selbstverständlich ansah, solche Tiere zu halten. Man mußte in seinem Garten Paviane haben."

Fulco di Verdura lockt uns in eine Welt, in die der Fortschritt noch nicht Einzug gehalten hat. Das erste Auto, von der Großmutter angeschafft, gilt als "Teufelsmaschine" und "anstößiges Ding". Kaum scheint es vorstellbar, dass der Autor tatsächlich das Sizilien um 1900 beschreibt. Die Gesellschaftsklasse, die er schildert, kapselt sich ab. Die Aristokratie konserviert die Traditionen der bourbonischen Ära, auch wenn Italien schon lange geeint, das Königreich zweier Sizilien verschwunden ist.

In der Erinnerung erscheint Fulco di Verdura die Kindheit wie eine "selige Sommerzeit", in der er von den starken Frauen seiner Familie verwöhnt und behütet wird, von der respekteinflößenden Großmutter und der sehr frommen Mutter. Neben seiner selbstbewussten Schwester Maria Felice wirkt der kleine Fulco immer ein wenig verzärtelt. Die glückliche Zeit der Kindheit endet jäh mit dem Tod der Großmutter. Und so scheint über dem Duft der Gärten, der Schönheit sizilianischer Landschaften und der berauschenden Szenerie von Festen immer ein Verlustgefühl zu liegen. Die Welt, die in diesen Memoiren präsentiert wird, gibt es nicht mehr. Mit leiser Melancholie erklärt der Autor: "Ich will nichts erfinden. Ich versuche nur, mich zu erinnern. Ich spüre vergessene Verhaltensweisen auf, ich bemühe mich, die Redeweise und das Gelächter wiederzufinden, die man nicht mehr hören wird."

Fulco di Verdura schöpft aus einer reichen Erinnerung. Sein Bericht ist ein fesselndes Zeugnis einer vergangenen Epoche. Die Lebensweise der sizilianischen Aristokratie wirkt auf den heutigen Leser so fremd wie faszinierend, ebenso das reiche religiöse Leben im Palermo des beginnenden 20. Jahrhunderts, das präzise beschrieben wird: die Feierlichkeit des südeuropäischen Katholizismus, eine leidenschaftliche Frömmigkeit, prunkvolle Feste und Prozessionen und daneben rätselhafte Bräuche und eine auffallende Vertrautheit mit dem Tod. Wo sonst bekommen Kinder nicht an Weihnachten ihre Geschenke, sondern an Allerseelen? "Hier legten 'I Morti' (die Toten) die Geschenke ans Fußende der Kinderbetten, und ihr Besuch fand in der Nacht vom 1. zum 2. November statt. Die Kirche versuchte vergeblich, diesem alten Brauch ein Ende zu machen, den sie für ein Überbleibsel aus heidnischer Zeit hielt. Aber die Insel ließ sich durch die Stimmen vom Kontinent nicht von ihren Sitten abbringen, und noch heute sind die Toten Siziliens die Stellvertreter des Weihnachtsmannes bei den kleinen Kindern."

"Selige Sommerzeit" ist ein Abgesang auf das alte Europa. Seinen Rang gewinnt das Buch aber dadurch, dass es eine untergegangene Welt dem Vergessen entreißt.


Titelbild

Fulco di Verdura: Selige Sommerzeit. Eine sizilianische Kindheit.
nacherzählt von Edmonde Charles-Roux.
Übersetzt aus dem Italienischen von Margaret Carroux.
Kindler Verlag, Berlin 2005.
366 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3463404931

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