Schnittstellen des digitalen Kommunismus

Multimedia, Internet und Kritische Theorie

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unlängst wartete Ed Zander, der Geschäftsführer der Firma Sun Microsystems, mit der Vision auf, in naher Zukunft kehrten jene Wissenschaftler, die über einen zugkräftigen Namen im akademischen Betrieb verfügten, den traditionellen Bildungseinrichtungen den Rücken. Sie würden sich über das Internet als "Rockstars der Bildung und Wissenschaft" vermarkten und ihr Wissen in virtuellen Seminaren an zahlungskräftige Studenten vermitteln. Das Marktvolumen solcher "Web-Universitäten" liege in drei Jahren bei 5,5 Milliarden Dollar, prognostizierte Zander. Schon früher gab es Dozenten, die dem Gedränge der "Massenuniversität" entflohen, indem sie einer auserwählten studentischen Gefolgschaft ihre Seminare an einem klandestinen Ort anboten, wo sie nicht mit dem "Mob" konfrontiert wurden. Das Zeitalter des Cyberspace bietet nun die Möglichkeit, ganz körperlos den Studenten und Studentinnen gegenüberzutreten, den Seminar- Obolus per Kreditkarte abzubuchen und als virtueller Professor in den Kaschemmen der digitalen Welt, den Chat-Rooms, mit der einen oder anderen geschliffenen Sentenz zu brillieren.

Solche Entwicklung hin zum amorphen "Edutainment" und "Infotainment" mag man bedauern, doch ist es nur das folgerichtige Resultat eines gesellschaftlichen Prozesses, an dessen Ende Bildung zur bloßen Ware verkommen ist, Studenten als Störmasse im universitären Betrieb der Gremien, Stiftungen und Rackets begriffen werden, akademische Stars und Sternchen vor allem ihren Marktwert zu mehren suchen und Discount-Lehre an die Masse des weniger zahlungskräftigen Publikums verhökert wird.

Stumpfes Weitermachen Bereits im geschichtsträchtigen Jahr 1968 graute es Max Horkheimer vor dem "Roboter-teacher", der statt Bildung Information vermittelt und die Studenten wie ein Doktor Mabuse in beliebig auswechselbare Automaten verwandelt. Mittlerweile ist die "Informationsgesellschaft" heraufgezogen, einhergehend mit einer boomenden "Informationstechnologie". Hier kommt es weniger auf die Inhalte oder die Reflexion an, als auf die rasche Produktion und Distribution von Information und Wissen innerhalb von vernetzten, globalen Unternehmen. Die Apologeten des "Knowledge-Managements" nennen das "intellektuelles Kapital". Ob über Multimedia-CD-ROMs oder Web-Seiten des Internets vertrieben, Information wird zum Selbstzweck, zur Reklame für die jeweils aktuellen Produkte aus den Software-Schmieden des digitalen Massenbetriebs. Dieser schätzt die virtuelle Funktion (in der Fachsprache als virtual void deklariert, die nichts zurückgibt), aber nicht das Denken, das über das Bestehende hinaus weisen könnte: wie seit je kreist alle Aktivität um "das stumpfe Weitermachen", das Horkheimer und Adorno als Grundphänomen der "Massenkultur" zu Beginn der vierziger Jahre des letzten Jahrhunders analysierten.

Bleistift und Radiergummi mögen dem Gedanken mehr nützen als eine Web-Domain mit zahllosen Links auf die Informationsbestände des World Wide Web, ließe sich ein Satz Adornos ins Cyberspace transponieren. Doch die Zeiten sind endgültig vorbei, da Literaturwissenschaftler zwar eloquent über die Epiphanien bei Joyce referieren konnten, aber außer Stande waren, ein technisches Teufelswerk wie einen Overhead-Projektor zu bedienen.

Angesichts der globalen Proliferation von Daten, der Unübersichtlichkeit gigantischer Informationsrepositorien und einer Vielzahl ineinandergreifender Medienformen und hybrider Typen elektronischer Dateien stehen all jene, die früher einmal als Intellektuelle bezeichnet wurden, vor neuen Herausforderungen. Der Wust von täglich wachsenden Datenmengen erfordert neue Kompetenzen in der Selektion, Sichtung und Analyse, die mit tradierten Mitteln kaum zu bewältigen sind. Information wird nicht länger allein über Text und Grafik vermittelt, sondern es spielen auch Tabellen, Diagramme, Datenbanken, Videos, Animationen, Tonaufnahmen, Notizen und Glossen eine Rolle. Doch während an den Rezipienten höhere Anforderungen in Bezug auf die Vielfalt der Medienformen gestellt werden, wird er auf die Rolle des tumb mit seiner Maus klickenden Users reduziert. In den Software-Schmieden wird dieser nicht selten als DAU verhöhnt, als "dümmster anzunehmender User", der mit seinen gröbsten Fehlern die diffizilsten Behandlungsroutinen in der Software erfordert.

In der "Schönen Neuen Medienwelt" muss sich auch der Intellektuelle den neuen Gegebenheiten anpassen. Nicht länger genügt es, das eine oder andere wissenschaftliche Handwerk zu beherrschen. Vielmehr ist er genötigt, neben der schon selbstverständlichen Handhabung gängiger Textverarbeitungs- und Tabellenkalkulations-Software sich in der Technik auszukennen, die eine oder andere Programmiersprache zumindest in Rudimenten zu verstehen und anzuwenden, Grafik- und Autorenprogramme bedienen und Recherche-Maschinen des Internets effizient nutzen zu können. Dabei muss er stets im Kopf behalten, dass er - altmodisch gesprochen - den Geist an die Formen des Geschäfts und dessen Interessen bindet. "Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch" (Adorno). Die Praxis hat sich verändert: nicht nur wird der Autor zum Produzenten und Entertainer, der sich der totalen Funktionalität des Marktes unterwirft. Auch die Dokumente - früher Texte genannt - unterliegen einer vollständigen Transformation. Alles ist beliebig kopier- und reproduzierbar; die Texte gleichen elektronischen Palimpsesten, deren Manipulation unter den Händen zahlloser Bearbeiter im Web nicht mehr nachvollziehbar ist.

Multi Media Mania Verlief die Diskussion um Multimedia und Internet in den letzten Jahren weitgehend euphorisch und berauschte sich unkritisch an den Wachstumskurven der Branche, so setzt sich der von René Pfammatter, Dozent am Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Fribourg in der Schweiz, herausgegebene Band "Multi Media Mania" ein neues Ziel: die auf dem Kopf stehende Diskussion um digitale Medien auf die Füße zu stellen und das Terrain für eine kritische Reflexion zu bereiten. Abseits des Marketing-Ballyhoos von Medien- Unternehmen und einer willfährigen Wissenschaft wollen "Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler aus den verschiedensten Disziplinen wie der Philosophie, Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Psychologie und Pädagogik und Germanistik sowie Medienpraktiker" die Reflexion über die Grenzen und Möglichkeiten von Multimedia und Internet "in unterschiedlichen Zusammenhängen und unter verschiedenen Perspektiven" ermöglichen. Leider halten die Beiträge kaum, was diese Ankündigung verspricht, was vor allem daran liegt, dass die Reflexion der Praxis hinterher hinkt. Das Manko dieses Buches liegt in seiner Prämisse, dass alle Diskussion um die digitalen Medien an der Fixierung auf technologische Machbarkeit und auf Umsetzbarkeit von effekthascherischen, aber inhaltsarmen Produkten kranke. Diese Kritik ist zwar im Kern richtig, doch lässt dies im Umkehrschluss nicht zu, dass nun alle technologischen Aspekte aus einer kritischen Diskussion eliminiert werden müssten. Wie die Mediengeschichte zeigt, hat die technologische Entwicklung - im Bereich des Films wäre die Schärfentiefe zu nennen - zu neuen Ausdrucksformen geführt. Wird dieser Aspekt aus der Betrachtung vollkommen ausgespart, verliert die avisierte kritische Unternehmung ihre Kontur.

Des weiteren leidet das Buch unter der Aussparung ökonomischer Zusammenhänge und einer naiven Politikvorstellung im Zeitalter multinationaler Konzerne, die über mächtige Herrschaftsstrukturen verfügen, während die ungleichen Möglichkeiten in der Nutzung von digitalen Medien kaum beleuchtet werden. Die Politik (was immer darunter zu verstehen ist) müsse die informationelle Grundversorgung in technischer und inhaltlicher Hinsicht gewährleisten, ist das naive Postulat. "Die Politiker müssen dafür sorgen", schreibt Pfammatter in seiner Einleitung, "dass Kultur und kulturelle Vielfalt in den Neuen Medien unterstützt wird, und dass die neuen Telekommunikationstechniken rasch in Aus- und Weiterbildung integriert werden." Obgleich er die Funktion des Internets als virtuellen Marktplatz der öffentlichen Diskussion in Frage stellt, bleibt doch ein naives Verständnis der ökonomischen Realitäten. Denn der Preis des Zugangs zur Agora wirft die Frage auf, ob sich eine archaische Klassengesellschaft der "Netizens", die auf jede Information via eines Netzzugangs zugreifen können, und der "Know- Nothings", die keinen Zugriff auf die Ressourcen der "Informationsgesellschaft" besitzen, entwickeln wird.

Nichtsdestotrotz hat der Band seinen Wert vor allem für Autoren, die sich mit dem Übergang vom traditionellen linearen Schreiben, wie es seit Jahrzehnten in Schulen und Universitäten vermittelt wird, in die Strukturen des Hypertextes beschäftigen wollen, der alte Schreib- und Denkgewohnheiten aufbricht und neues Denken vom Autor fordert. Bereits 1965 von Theodor Holm Nelson geprägt, bezeichnet dieser Begriff eine Sammlung von Dokumenten ("nodes" oder Knoten), die Querverweise ("links") enthalten, über die die Leser mittels eines interaktiven Browsers von einem Dokument zum anderen springen können. In einem gerafften Abriss der historischen Entwicklung nicht-linearer Medien zeigt Pfammatter auf, wie mittels von Hypertexten und Hypermedien (die Grafiken, Töne, Musik, Videos und andere Dateiformen enthalten können) scheinbar übermächtige Informationsmengen aufgearbeitet und adäquat organisiert werden können. Über Indizes, Guides und Agents werden die "User" durch die zerklüfteten Informationslandschaften geführt und erhalten Einblick in Zusammenhänge, die an der Oberfläche zersplittert erscheinen.

In dieser Einführung in hyptertextuelle Strukturen liegt eine Stärke des Buches. Andererseits bleibt vieles in Platitüden und kritiklos repetierten Schlagworten ("Daten-Super-Highway") stecken, angereichert mit Diagrammen und Tabellen, die mit ihrem blinden Glauben an Statistik und Fakten das erklärte Ziel der kritischen Reflexion konterkarieren. Auch wenn sich die Autoren kritisch gerieren (etwa mit der Ansicht, dass das Internet die Dekonstruktion des Journalismus betreibe), sind die Beiträge keine Bausteine zu einer kritischen Theorie im Cyberspace. Sie bleiben dem jeweils abgezirkelten Territorium der Fachdisziplin verhaftet, in der niemand über den Graben hinauszuschauen vermag.

Cyber-Marx Eine weitaus aufregendere und stimulierendere Kartographie des Cyberspace liefert Nick Dyer- Witheford, Dozent an der University of Western Ontario in Kanada, mit seiner überaus lesenswerten Studie "Cyber-Marx". Anders als die Autoren aus der Schweiz unterzieht er die "Informationsgesellschaft" einer kritischen Analyse aus der Perspektive eines "autonomistischen Marxismus" in der Tradition der italienischen Theoretiker Antonio Negri und Mario Tronti. In seinen Augen hat die globale Restrukturierung des Kapitalismus keineswegs die alten Widersprüche zwischen Arbeit und Kapital aufgehoben, sondern vielmehr auf eine neue Ebene gebracht. Im Kreislauf von automatisierten Fabriken, interaktiven Medien, virtuellen Seminaren, gentechnologischen Laboratorien und globalen Netzwerken kaum durchschaubarer Konzernstrukturen hat sich zweierlei gebildet: gigantische Monopole, welche die Herrschaft über ganze Staatengebilde ausüben, als auch subversive Guerilla-Einheiten, die entweder isoliert oder postmodern über das World Wide Web virtuell organisiert gegen die Übermacht der technologischen Kontrolle mittels Sabotage oder Arbeitsverweigerung rebellieren.

In einem aufschlussreichen historischen Abriss legt Dyer-Witheford dar, wie die Idee eines ideologiefreien, computergestützen Diskurses in die wertfreie Technophilie eines Alvin Toffler mündet, der in seiner Euphorie für das Cyberspace eine "Magna Carta für das Wissenszeitalter" veröffentlicht hat.

Vieles in seiner Analyse der Verflechtungen des digitalen Kapitalismus erscheint schlüssig, doch mutet seine Abgrenzung zur "Verzweiflung" von Horkheimer und Adorno in der Betonung der "Sabotage" und des "Widerstandes" gegen die Macht der Herrschaft etwas antiquiert an. Zuweilen erinnert die Rede von der medialen Subversion an die Diskussionen der siebziger Jahre und das Rekurrieren auf das demokratische Potenzial des Internets - das es zweifelsohne besitzt - an Hans Magnus Enzensbergers "Baukasten zu einer Theorie der Medien". Auch wenn sich "Hacktivisten" wie die "Electrohippies" oder das "Electronic Disturbance Theater" als Guerilla im Internet etablieren konnten, ist dies nicht der Beweis für den Beginn eines subversiven Kampfes an den Schnittstellen des digitalen Kapitalismus.

Titelbild

René Pfammatter: Multi Media Mania.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 1998.
350 Seiten, 26,60 EUR.
ISBN-10: 3896692240

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Nick Dyer-Witheford: Cyber-Marx. Cycles and Circuits of Struggle in High-Technology Capitalism.
Verlag?, Urbana/Chicago 1999.
346 Seiten, 20,50 EUR.
ISBN-10: 0252067959

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