Delirierende Realität und erzwungener Wahn

Zu Michel Foucaults Vorlesung über "Die Macht der Psychiatrie"

Von Thilo RissingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thilo Rissing

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Titel "Die Macht der Psychiatrie" liegen inzwischen diejenigen Vorlesungen im Suhrkamp Verlag auf Deutsch vor, die Michel Foucault in den Jahren 1973/1974 am Collège de France gehalten hat. Innerhalb des Gesamtwerks bilden sie eine interessante Übergangsphase zwischen den frühen Schriften "Wahnsinn und Gesellschaft" und "Die Geburt der Klinik", die Foucault als Kenner der Medizin- und Psychiatriegeschichte ausgewiesen haben, und den späteren Arbeiten, die - stärker auf politische Fragen angelegt - mit "Überwachen und Strafen" einsetzen und in die dreibändige Untersuchung zur "Geschichte der Sexualität" einmünden.

Anhand der Entwicklung der französischen Psychiatrie im 19. Jahrhundert zeichnet Foucault in der neu erschienenen Vorlesung die allmähliche Entstehung eines Machtkomplexes nach, der im Umfeld der wissenschaftlich ebenso wie politisch und pädagogisch wirkenden Disziplinen Psychiatrie, Medizin, Strafvollzug und Erziehung seinen Anfang genommen und dann auf andere Gebiete der Gesellschaft übergegriffen hat. Doch statt die Genealogie der psychiatrischen Anstalt lediglich historisch nachzuvollziehen, rückt im Laufe jener Vorlesungen erstmals der Begriff des "Machtdispositivs" ins Zentrum. Dieser Begriff meint ein komplexes Gefüge aus Wahrheitstechnologien, Diskursformen und Erziehungspraktiken, das mit dem Aufkommen der Humanwissenschaften einherging und einen folgenreichen Beitrag zur Herausbildung des modernen Individuums geleistet hat. Am Beispiel dieser Entwicklung innerhalb der Psychiatrie versucht Foucault nun aufzuzeigen, wie sich das moderne Subjekt als dessen "Effekt" allmählich herausgebildet hat. Im psychiatrischen Kontext lässt sich dieser Vorgang besonders gut beobachten, weil seit den protopsychiatrischen Anfängen das Bestreben dahin tendiert, die betroffenen Patienten aus ihrem alltäglichen Umfeld herauszulösen, um sie in einem geschlossenen Bereich eigener Ordnung besser kontrollieren, normieren und von ihrem Wahn befreien zu können.

Im Innern der undurchlässigen Mauern der psychiatrischen Anstalt ereignet sich, so Foucault, ein kontinuierliches Kräftemessen zwischen dem Arzt und seinem Personal auf der einen und den Patienten auf der anderen Seite. Der Wahn des Kranken wird mit dem eisernen Willen des Arztes konfrontiert, der mit Hilfe medizinischer Praktiken, dienstlicher Rituale und schließlich auch durch Gewaltanwendung versucht, die Realität soweit zu verstärken, dass diese über das Wahnsystem des Kranken siegt. Die Disziplinarmacht, die dem Arzt bei diesem Heilungsprozess zur Verfügung steht, dient dazu, auf die Gesten, die Körperhaltung und die Weltwahrnehmung des Kranken dahingehend Einfluss zu nehmen, dass dieser gezwungen wird, die Realität, wie sie ihm der Arzt vermittelt, anzuerkennen. Durch umfassende Kontrollmechanismen, eine bis ins Detail geplante Körperdressur und eine überwachende Disziplinierung jeglichen Verhaltens soll der Wahnsinn im Körper des Kranken gebannt und vertrieben werden.

Ziel ist es, ein Individuum zu bilden, das den gesellschaftlichen Normen entspricht, indem es sich ihrem Vorhandensein beugt. Der Arzt unterzieht den Patienten Prozeduren, die dafür sorgen sollen, dass sich dieser einerseits zu seiner eigenen, zwischenzeitlich verloren gegangenen Identität bekennt und andererseits gesteht, sich über sich selbst und seine Wahrnehmung der Wirklichkeit geirrt zu haben. Um den jeweiligen Zustand geistiger Verwirrung einordnen und den Stand der Dinge zu jeder Zeit überprüfen zu können, bedarf es zudem einer Reihe von Kontrollverfahren, die sich z. B. in der panoptischen Architektur der psychiatrischen Anstalt oder in der zunehmenden dokumentarischen Verwendung pragmatischer Schriftlichkeit manifestieren.

Jene Disziplinarmacht beschränkt sich aber nicht auf den Bereich der psychiatrischen Anstalt, sondern durchwirkt mit der Zeit alle modernen Institutionen, wie beispielsweise auch die Schule, die Polizei oder die Armee, in denen Menschen auf ihre gesellschaftliche Tauglichkeit geprüft und auf ihre beruflichen und sozialen Aufgaben vorbereitet werden. Damit wird in zentralen gesellschaftlichen Funktionsfeldern die bisher vorherrschende Souveränitätsmacht abgelöst. Lediglich die Familie bildet eine letzte Bastion des nun veralteten Machttyps. Ihre funktionalen Mängel führen aber unweigerlich zu einer Zunahme so genannter Disziplin-Institutionen, die als funktionaler Ersatz die Lücke zu schließen haben, die durch das pädagogische Versagen der Familie entstanden ist, wie am Aufkommen der Waisen- und Findelhäuser oder Sozialarbeit-Stationen abzulesen ist.

Ihren eher marginalen Anfang nahm die Disziplinarmacht laut Foucault aber schon Jahrhunderte zuvor in den mittelalterlichen Mönchsorden. Durch die Jesuiten wurde sie demnach erfolgreich auf die Verwaltung von Kolonialvölkern angewandt und gewann so im Laufe der Zeit eine immer stärkere sozioökonomische Bedeutung, z. B. bei der Ausbeutung von Arbeitskraft und im Zeitmanagement.

Um die Familie von der Versorgung geistig kranker oder zurückgebliebener Mitglieder wirtschaftlich zu entlasten, gehen die psychiatrischen Institutionen mit der Zeit auch eine intensivere Vernetzung mit der Familie ein: Während sich die Disziplinarsysteme nach dem Vorbild der Familie umgestalten, gewinnen einige Disziplinartechniken umgekehrt auch zunehmend Einfluss auf den intimen Bereich der Familie. Insbesondere im Austausch mit den Institutionen Schule und Militär werden jetzt verhaltensauffällige Kinder herausgefiltert und der psychiatrischen Anstalt zur Verwahrung und Heilung zugeführt. Diese Jugendlichen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie gegenüber Gleichaltrigen entweder in ihrer geistigen Entwicklung verlangsamt oder in einem kindlichen Stadium ihrer Genese stehen geblieben sind, so dass sie Gefahr laufen, den Status von Erwachsenen nicht erreichen zu können. Indem diese Menschen dem psychiatrischen Apparat zugeführt werden, soll gewährleistet werden, dass sie unter ständiger Aufsicht produktive Tätigkeiten ausüben, weswegen sie wieder in den Körper der Gesellschaft eingegliedert werden können.

Im Laufe der Zeit trennen sich aber die Wege der beiden Disziplinen Medizin und Psychiatrie, wie Foucault demonstriert: Das wichtigste Kriterium dieser gegenseitigen Entfremdung liegt darin, dass die Bedeutung von wissenschaftlicher Diagnose und Pathologie keinen Eingang in die psychiatrische Disziplin und daher auch kein entsprechendes Gewicht bei der Behandlung des Wahnsinns gefunden hat. Im Umgang mit diesem bleibt weiterhin die entscheidende Grundfrage, ob es sich bei dem Patienten wirklich um einen Geisteskranken oder aber lediglich um einen Simulanten handelt. Der Arzt ist darauf angewiesen, dass ihm vom Patienten die entsprechenden realitätsverzerrenden Symptome geliefert werden. Seine Reaktion ist dann stets die eines Realitätsverstärkers, der über Machtdemonstration, den Gebrauch von normierender Sprache, durch die Regelung der Bedürfnisse und Mängel dem Behauptungswillen des Wahns ein Regime der Realität opponiert.

Dieses Herrschaftssystem fungiert unter dem Stichwort "Leitung" und konstituiert den Raum der Klinik, der von Foucault als ein Zusammenspiel von Patienten, leitendem Arzt, Personal und Studenten bezeichnet wird, wobei der Patient wie auf einer Bühne ausgestellt wird. Innerhalb dieses Raums ist der Arzt der "Herr der Wahrheit".

Zugleich stellt sich aber der Eindruck ein, dass die psychiatrische Wahrheit immer mehr zu einem Effekt des sie umgebenden Rituals degeneriert. Um dem zu begegnen, entwickeln sich im Laufe der Zeit neue Methoden, um der Wahrheit des Wahns auf die Spur zu kommen. Vor allem zum Einsatz kommende Drogen erlauben es dem Arzt, sich in das Innere des Wahnsinns hineinzubegeben, wobei die durch die Injektion hervorgerufenen traumhaften Symptome an die des Wahnsinnigen heranreichen.

Die Krise der Psychiatrie spitzt sich schließlich an dem Punkt zu, wo das Machtverhältnis zwischen Arzt und Patient immer undurchschaubarer wird. Anders als in der Medizin, wo die Diagnose über wissenschaftliche Methoden zu einer Form der Wahrheit führt, die sich anhand klarer Regeln und Methoden nachvollziehen lässt, verharrt die Psychiatrie in einem Feld der Ereigniswahrheit, wo das Vorhandensein des Wahns anhand von Oberflächenphänomenen nachgewiesen werden muss. Mit Hilfe monokausaler Reiz-Reaktions-Schemata wird ein Wechselspiel zwischen dem behandelnden Arzt und seinem Patienten eröffnet, das sich schließlich als ein reziprokes Abhängigkeitsverhältnis entpuppt. Der Arzt braucht, will er sich in seiner Funktion als behandelnder Mediziner die nötige Geltung verschaffen, die Symptome des Kranken. Diese Forderung nach symptomatischen Krankheitsverläufen führt zum Einsatz bestimmter Patientengruppen, vor allem der Hysterikerinnen, welche die Folie für die Beurteilung von gezeigten Symptomen neuer Patienten bilden und die Funktion von Marionetten einnehmen. Nicht verwunderlich ist dann, dass diese ihre neugewonnene Machtposition dazu benutzen, die Strategien des Arztes durch das Anbieten von sexueller oder epileptischer Pantomime zu unterlaufen.

Infolge dieser Entwicklung gerät die Psychiatrie am Ende des 19. Jahrhunderts unter den schwerwiegenden Verdacht, durch den Einsatz ihrer Prozeduren und undurchsichtigen Methoden Geisteskrankheiten, wie beispielsweise der Hysterie oder der Neurose, überhaupt erst selbst hervorzubringen, um sie anschließend langwierig zu behandeln und wieder zu heilen. Damit trifft die Psychiatrie derselbe Vorwurf, dem sich die Medizin schon einige Zeit eher stellen musste - dass sie nämlich durch Unwissenheit und falsche Methoden weniger zur Heilung, als vielmehr zur Verbreitung von Krankheiten führe. Ganz wie die Erkenntnisse von Pasteur in der Medizin dazu beitrugen, durch die Etablierung eines aseptischen Bereichs und durch die Desinfektion von Arzt und Personal nach jeweiliger Behandlung eines Kranken dafür zu sorgen, dass Krankheiten nicht von einem Patienten zum nächsten übertragen werden konnten, kommt in der Psychiatrie auch die Forderung nach einer Neuorganisation der Behandlungsformen auf. Als Antwort auf die Krise der Psychiatrie bilden sich zwei Strömungen, die schnell erfolgreiche Alternativen abgeben: Zum einen die Anti-Psychiatrie, welche für die Offenlegung und Bekämpfung der Machverhältnisse im psychiatrischen Apparat plädiert, und zum anderen die Psychoanalyse, die parallel für ein neues Verhältnis zwischen Arzt und Patienten steht.

Bei Foucaults Vorlesung handelt es sich nur scheinbar um eine spezielle Untersuchung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Zugleich wird auf einer allgemeineren Ebene immer auch das Verhältnis von Wahrheit und Macht verhandelt. Galt in "Wahnsinn und Gesellschaft" für Foucault der Wahn als ein Phänomen, das seit dem Beginn der Neuzeit vom Diskurs abgetrennt wurde, so dynamisiert sich nun durch die Einführung des Machtdispositivs das Verhältnis zwischen Vernunft und Wahnsinn in ein taktisches Ränkespiel, bei der keine Seite die endgültige Übermacht gewinnt.

Hilfreich ist dieses Buch auch, um nachzuvollziehen, wie Foucault sein Denken weiterentwickelt hat, indem er sich von der reinen Genealogie absetzte und eine "Archäologie des Wissens" begann, in deren Verlauf er Konzepte wie "Wahrheit" und "Individuum" als Effekte soziopolitischer Praktiken und Rituale neu darstellt.


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Michel Foucault: Die Macht der Psychiatrie. Vorlesungen am Collège de France 1973-1974.
Herausgegeben von Jacques Lagrange.
Übersetzt aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann und Jürgen Schröder.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
596 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-10: 3518584456

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