Die Simulation der Andersheit

Humboldt, Stoker, Jünger und Genet im postkolonialen Diskurs

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Postkoloniale Theorie boomt. Die deutsche Literatur aber krankt an wenig repräsentativen Texten, die sich zur Analyse anböten. Das man diesen Mangel auch produktiv verstehen kann und Texte in den Blick rückt, sie gegen den Strich liest, die auf den ersten Blick kaum miteinander zu tun haben, erweist sich in Oliver Lubrichs Dissertationsschrift als Stärke. Anhand von vier äußerst dichten Lektüren von Alexander von Humboldts "Relation historique" (1814ff.), Bram Stokers "Dracula" (1897), Ernst Jüngers "In Stahlgewittern" (1920) und Jean Genets "Journal du voleur" (1949) zeichnet Lubrich Alterität in autobiografischen Genres als poetologisches wie thematisches Gestaltungsmoment nach.
Die streng textbezogene Lektüre versteht es vorzüglich, die doch gelegentlich überbordende Eigendynamik der postkolonialen Theorie auf die konkreten Texte anzuwenden. Gerade dieser scheinbar eher fern liegende Bezugspunkt der Alterität erweist sich als konzise Zugriffsfigur, die das jeweils 'Andere'' in einen gelegentlich verblüffenden Zusammenhang zu stellen versteht. Stellvertretend sei das Dracula-Kapitel erwähnt: Lubrich arbeitet heraus, dass der Sieg von Harker und Van Helsing über den Vampir, der als das 'ganz Andere'' zur britischen Lebenswelt fungiert (Transsylvanien, Untoter, Multisexuell etc.) und der durch das Vordringen der Technik, vor allem der immer schneller werdenden Kommunikationsmittel, besiegt werden kann: Der Pfahl, den Van Helsing dem Vampir ins Herz rammt, ist gleichzusetzen mit dem Telegraphenmast, der den anfänglich dominierenden Brief ablöst.
Lubrichs hochreflekierte Lektüre genießt den Vorzug, gängige Denkmodelle der postkolonialen Theorie am konkreten Text belegen zu können. Dennoch verwundert es, wenn in Fragen autobiografischer 'Genera'' plötzlich - trotz Lubrichs offenkundiger Kenntnis der neueren Theorien (de Man, Derrida) - der strukturalistische Ansatz Lejeunes wiederbelebt wird, der doch bei der Analyse solch ambivalenter Texte langsam ausgedient haben sollte. Begrüßenswert hingegen scheint der Ansatz, 'deutsche'' Texte, also auch Humboldts auf Französisch verfasstes Monumentalwerk - Lubrich fungiert auch als Herausgeber des Humboldt''schen "Kosmos" in der Anderen Bibliothek - europäisch zu kontextualisieren.
Das "Schwinden der Differenz" - also die Verflüchtigung einer zunächst in den Texten vermuteten Alterität - erweist sich als sinnfällige wie anschlussfähige Lektüremöglichkeit; der fremde Kontinent, der mythische Vampir, der mechanisierte Weltkrieg und der soziale Außenseiter stellen keine schlüssigen Konzepte von Andersheit zur Verfügung, sondern zeigen das Maß ihrer Konstruiertheit auf. Es sind Motive, die sich im Vollzug der Lektüre selbst dekonstruieren und sich mithin als literarisch simuliert erweisen.


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Oliver Lubrich: Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2004.
365 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3895284548

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