Freud als Sprachschöpfer

Der Prozess seines Schreibens

Von Walter SchönauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Schönau

Im Vorwort seiner maßgebenden Freud-Biografie (1989) schreibt Peter Gay, dass man in Europa, mehr noch in Amerika, Freuds Gegenwart spüre. Sein Denken sei, so Gay, "in die eigentliche Textur der modernen Kultur verwoben". "Wir alle 'sprechen' Freud, ob korrekt oder nicht". Ein paar Seiten weiter lesen wir: "Es ist ein Gemeinplatz, daß wir alle heute Freud 'sprechen', ob es uns bewußt wird oder nicht". Wir alle sprechen Freud, was das bedeutet und inwiefern das stimmt, darüber möchte ich hier einige Einfälle und Assoziationen vorbringen.

Freud sprechen - vielleicht kann folgende Geschichte von Robert Gernhardt uns zeigen, was das bedeutet. "Zu Sigmund Freud kam einst ein Mann, der ihm einen seltsamen Traum erzählte. Sein Es habe - im Traum - Triebansprüche geäußert, das Über-Ich habe sie zu unterdrücken versucht, das Ich habe sie daraufhin sublimiert. 'Haben Sie das wirklich ge träumt?' fragte Freud. 'Ja', entgegnete der Mann. Freud überlegte einen Moment und sagte: 'Die Erklärung des Traums ist einfach. Ihr Es wird vom Über-Ich unterdrückt und äußert Triebansprüche, die vom Ich...' 'Das ist aber keine Erklärung, das ist mein Traum', unterbrach ihn der Mann. 'Wenn Sie nicht wollen, daß ich Ihnen Ihre Träume erkläre, brauchen Sie es nur zu sagen', antwortete Freud schroff und entließ den Mann, den von Stund an ein schrecklicher Minderwertigkeitskomplex befiel."

Zugegeben, dies ist ein etwas ausgefallenes Beispiel, aber vielleicht doch illustrativ für unsere Frage, zugleich auch für die Rückwirkung der Theorie auf ihren Gegenstand, die man hier beobachten kann, träumt der Mann ja schon auf der Theorie-Ebene der Metapsychologie.

Aber Spaß beiseite, Freud sprechen - das heißt doch wohl in erster Linie eine Sprache, seine Sprache sprechen, nicht in dem Sinne, dass wir alle seinen meisterhaften Stil beherrschten, sondern dass einzelne von ihm geprägte Vokabeln, psychoanalytische Termini, in unsere Alltagssprache Eingang gefunden haben. Tatsächlich gehören, abgesehen von den schon erwähnten 'Es', 'Ich' und 'Über-Ich', Wörter wie 'Fehlleistung', 'Libido', 'Neurose', 'Ödipuskomplex', 'Projektion', 'Sublimierung', 'Trauma', 'Unbewusst' (oft auch inkorrekt 'Unterbewusst'), 'Urszene', 'Verdrängung' oder 'Widerstand' mehr oder weniger zum allgemeinen Sprachgebrauch, wenn von seelischen Angelegenheiten die Rede ist. Sie sind jedenfalls weit über die engere Berufssprache hinaus verbreitet. Aber fast immer liegen dabei Missverständnisse auf der Lauer, wie etwa die geläufige Rede von der 'Freud'schen Fehlleistung' ('freudian slip') zeigt, setzt sie doch stillschweigend voraus, dass es auch andere, nicht-Freud'sche Fehlleistungen gäbe.

Der Amsterdamer Soziologe Abraham de Swaan hat das Phänomen, dass der Patient, der sich beim Berufstherapeuten meldet, kein Laie mehr ist, sondern die psychologischen Konzepte und Termini bis zu einem gewissen Grade beherrscht oder jedenfalls zu beherrschen scheint, als Proto-Professionalisierung bezeichnet. Es ist ein Aspekt der allgemeinen Psychologisierung unserer Kultur, welche heute von psychischen oder von Beziehungs-Problemen redet, wo man früher von Dämonen, Sünden, üblen Säften oder Schicksal zu sprechen pflegte. Gewiss, Freuds Tiefenpsychologie war nicht die einzige Triebkraft dieser Entwicklung, aber sie wurde gewissermaßen zu ihrem Emblem, wie Gernhardts Freud-Anekdote uns deutlich macht.

Daraus zu folgern, dass unsere Gesellschaft die Psychoanalyse gänzlich akzeptiert hat, wäre aber naiv und voreilig. Wir wissen, daß die Geschichte der Rezeption der Psychoanalyse bis heute eine Geschichte hartnäckiger Missverständnisse und böswilliger Verzerrungen ist. Das allgemeine Psychoanalyse-Verständnis der breiten Öffentlichkeit, auch unserer Zeitgenossen, kann bestenfalls als Karikatur bezeichnet werden. Die Berichterstattung in den Medien aus Anlass des diesjährigen Freud-Jubiläums bestätigt, bis auf wenige Ausnahmen, diesen Befund.

Freilich, wie könnte es auch anders sein? Der Widerstand gegen die Analyse ist nun einmal unvermeidlich, ob man sie als narzisstische Kränkung erlebt oder nicht; und außerdem, die Verbreitung - das heißt: Popularisierung - jeder Lehre, auch dieser, ist nur um den Preis der Simplifizierung möglich. Als Jung von einer Vortragsreise Freud ein Telegramm schickte: "Psychoanalyse gewaltiger Erfolg in Amerika", kabelte Freud sofort zurück: "Was haben Sie weggelassen?"

Auch eine Karikatur ist aber eine Repräsentation und so fragt sich, wie es zu dieser Verbreitung Freud'scher Begriffe in der Alltagssprache gekommen ist. In erster Instanz scheint sie Freuds Bestreben zu verdanken, in der Prägung seiner Begriffssprache den medizinisch-psychiatrischen Jargon zu vermeiden und deutsche Wörter wie 'Abwehr', 'Besetzung', 'Familienroman', 'Krankheitsgewinn', 'Übertragung', 'Widerstand' oder 'Wiederholungszwang' zu bevorzugen. Es handelt sich dabei immer um Metaphern, welche im psychoanalytischen Kontext ihre prägnante fachspezifische Bedeutung bekommen; sie werden sozusagen analytisch kontextualisiert. Genau diese in der Wissenschaft so seltene Fähigkeit meinte Hugo Ignotus, als er schon 1930 Freuds Gabe rühmte, "sich der Worte und jener syntaktischen Formen, die der noch unabgegriffenen ursprünglichen Bedeutung der Worte angebildet sind, in dieser ursprünglichen Bedeutung zu bedienen, sie damit aus der Ohnmacht der Gemeinplätzlichkeit weckend, ihnen zu neuer Kraft verhelfend".

Schöne Beispiele dafür sind 'Trieb' - "ein Wort", so Freud, "um das uns viele moderne Sprachen beneiden" - oder das einfache Wort 'Arbeit' in neuen Zusammensetzungen wie 'Traumarbeit', 'Trauerarbeit', 'Witzarbeit', verblüffende Neubildungen, die eine lange Erklärung ersetzen. Das gilt auch für das so gar nicht imponierende Wort 'Deckerinnerung', das das Gemeinte aber sehr präzise wiedergibt, oder für die simplen Bezeichnungen 'Ich' und 'Es', "einfache Fürwörter" - so Freud in seiner Erläuterung dazu - "anstatt vollautende griechische Namen", denn "wir lieben es in der Psychoanalyse, im Kontakt mit der populären Denkweise zu bleiben und ziehen es vor, deren Begriffe wissenschaftlich brauchbar zu machen, anstatt sie zu verwerfen. Es ist kein Verdienst daran, wir müssen so vorgehen, weil unsere Lehren von unseren Patienten verstanden werden sollen, die oft sehr intelligent sind, aber nicht immer gelehrt". Und, so möchte ich hinzufügen, die etwas mehr von Melancholie verstehen, wenn Freud ihnen, fast poetisch, erklärt, dass darin der 'Schatten des Objekts' auf das Ich gefallen sei.

Es ist sehr zu bedauern, dass der Übersetzer und Herausgeber der englischen Standard Edition (SE), welche nach wie vor das Bild Freuds in der Welt mehr als die deutschen Gesammelten Werke (GW) bestimmt, James Strachey, diesen Hinweis übersehen hat. Statt von 'Ich' und 'Es' spricht die SE nämlich von 'Ego' und 'Id', statt von 'Besetzung' und 'Fehlleistung' von 'Cathexis' und 'Parapraxis', statt von 'Abwehr' und 'Verdrängung' von 'Defense' und 'Repression', statt von 'Schaulust' und 'Wisstrieb' von 'Scopophilia' und 'Epistemophilic instinct', statt von 'Verdichtung' und 'Verschiebung' von 'Condensation' und 'Displacement'. Während Freud Neologismen griechischer oder lateinischer Herkunft, Fremdwörter überhaupt, möglichst vermied, liebte Strachey sie über alles. Freuds 'demokratische' Wortwahl, seine - vom kanadischen Analytiker Patrick Mahony so genannte - Vermeidung lexikalischer 'Apartheid', hat die SE nicht berücksichtigt und im Gegenteil einer intellektualistischen, dogmatischen, ja geradezu 'depersonalisierten' Auffassung der Psychoanalyse Vorschub geleistet. Das hat dann innerhalb der Disziplin zum ungenießbaren Jargon der Fachzeitschriften geführt, zum so genannten 'Psychoanalese', über das nicht nur Theodor Reik sich in einem parodistischen Scherzo lustig gemacht hat. Wie schade, dass die Vermittlung der Freud'schen Gedankenwelt im Ausland geradezu als eine unbewusste Form des Widerstands dagegen gedeutet werden kann! Und welch ein Irrtum zu meinen, dass eine trockene Verwissenschaftlichung die Überzeugungskraft des Textes erhöhen würde!

Diese von Ornston (1982), Bettelheim (1983), Mahony (1989) und anderen vorgetragene Übersetzungskritik erweist sich zugleich als eine Stilanalyse ex negativo. Macht sie uns doch - als Darstellung durch das Gegenteil gewissermaßen - auf jene Qualitäten von Freuds Sprache aufmerksam, die ihre durchaus gewollte Verarbeitung in der 'populären Denkweise' begünstigten. Man fragt sich dann freilich, mit welch größerem Erfolg die Rezeption der Psychoanalyse im Ausland verlaufen wäre, wenn die englische Übersetzung 'hermeneutischer' und humanistischer gewesen wäre als die der SE, welche das Wort 'Geisteswissenschaften' immer als 'mental sciences' statt als 'humanities' übersetzt. Andererseits muss ich zugeben, dass Freud, wie seine frühen, namentlich die voranalytischen Schriften zeigen, die medizinische Fachsprache auch perfekt beherrschte. Ein Blick in den Nachtragsband der GW kann das belegen.

Wegen der Arbeit am Sachregister der neuen niederländischen Freud-Edition lese ich zur Zeit den ganzen Freud in chronologischer Reihenfolge noch einmal durch, eine faszinierende Erfahrung, weil sie die allmähliche Verfertigung seiner Gedanken beim Schreiben sichtbar macht. Man sieht, wie er sich im Lauf der Zeit entwickelt: vom Arzt, der seine Patienten psychisch 'behandelt', zum Analytiker, der gelernt hat, ihnen mit gleichschwebender Aufmerksamkeit zuzuhören, vom Facharzt für Nervenkrankheiten zum Begründer einer neuen psychologischen, anthropologischen und kulturanalytischen Lehre. Seine Leistung ist mit derjenigen von Marx in der Sozialwirtschaft oder derjenigen Darwins in der Biologie vergleichbar. Alle drei schufen sie eine modellhafte Denkmethode, die es ihren Nachfolgern ermöglichte, marxistische, darwinistische oder psychoanalytische Texte zu schreiben, in den Denkbahnungen der Meister weiter zu reflektieren und ihre Gedankengänge fortzuführen. Selbstbewusst wie er war, verglich Freud den von ihm herbeigeführten Paradigmenwechsel mit denjenigen des Kopernikus und des Begründers der Evolutionslehre. Zugespitzt formuliert: der Sprachschöpfer wurde durch sein Schreiben zum Begründer eines neuen Diskurses über die Seele. Seine Wirkung, seine Präsenz, seine Aktualität beruhen auf seinen Schriften, ob man sie nun richtig versteht oder nicht. Dass die Nachrichten von seinem Tode immer noch reichlich übertrieben sind, hängt damit zusammen, dass er sich als ein Meister der deutschen Sprache erwiesen hat. Viele werden heute Kurt Eissler beipflichten, als er 1969 schrieb, dass Freuds Schriften "ein großartiges Kunstwerk darstellen" und nur das große Kunstwerk bleibe durch den sogenannten Fortschritt unberührt.

Die Tatsache, dass die Psychoanalyse in der angelsächsischen Kultur (und übrigens auch in Südamerika) noch vor Hitler eine Zeitlang populärer war als in Deutschland und in ihrer Heimat Österreich, trotz der nachdrücklich antipopulären, betont szientifischen englischen Übersetzung, erinnert uns nun aber auch daran, dass der psychoanalytische Diskurs zwar eine Sprachpraxis, aber nicht nur eine Angelegenheit einzelner glücklich gewählter Worte sein kann. 'Freud sprechen' muss also doch noch mehr bedeuten als ein paar Ausdrücke korrekt oder inkorrekt verwenden. Es heißt auch: 'Freud denken', oder wenigstens tendenziell so denken wie er gedacht hat, wenn auch als Zwerg auf den Schultern des Riesen. Es ist jedoch schwer, die Prägung des Alltags- und des Wissenschaftsdiskurses durch die Psychoanalyse nachzuweisen, weil sie oft unbewusst, unerkannt ist (wie Peter Gay schon bemerkte), gerne verleugnet wird, sodass oft nur ein Sachverständiger darin Freuds Spuren zu erkennen vermag. John Forrester verglich diesen Sachverhalt mit dem elektrischen Licht, an das wir uns so gewöhnt haben, dass wir uns die dunklere Welt der Vergangenheit kaum noch vorstellen können. Wer denkt, wenn er das Licht anknipst, noch an Maxwell oder Edison? "Amerika heißt nicht nach Kolumbus" heißt es lapidar bei Freud. Der englische Dichter Auden deutete dies in seinem Gedicht zum Gedächtnis von Sigmund Freud (1939) an mit den vielzitierten Zeilen "to us he is no more a person / now but a whole climate of opinion". Diesem Meinungsklima verdanken wir das Ernstnehmen der psychischen Realität, den Respekt vor der psychischen Tatsache.

Vor kurzem sagte mir ein Bekannter, Ärzte hätten ihren Beruf wohl gewählt, um ihre Angst vor Krankheit zu bewältigen. Als ich ihm sagte, diese Annahme unbewusster Beweggründe für eine kontrafobische Reaktionsbildung sei ein typisch psychoanalytischer Gedanke, wehrte er entrüstet ab. Mit dieser völlig veralteten Lehre habe er nichts am Hut. Solche tagtäglich zu machenden Erfahrungen lehren uns, dass Freud den modernen Diskurs über die Seele zwar begründet hat, dass die meisten der daran Beteiligten das aber nicht wissen. So wie Monsieur Jourdain bei Molière erstaunt feststellte, er habe, ohne sich dessen bewusst zu sein, immer Prosa gesprochen, so können wir manchem Zeitgenossen versichern, er spreche Freud ohne es zu wissen und, wichtiger noch, ohne es zu wollen. Sogar viele Kritiker ahnen nicht, wieviel Spuren Freud'schen Denkens ihre Angriffe enthalten.

Freud als Diskursbegründer ist ohne Freud als Sprachschöpfer nicht vorzustellen. Schauen wir uns also seine sprachliche Begabung einmal genauer an. Dass er selbst (1930) den Goethe-Preis erhielt und daß der alljährlich (seit 1964) von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung vergebene Preis für wissenschaftliche Prosa Sigmund-Freud-Preis heißt, ist schon Grund genug. Dass sein Sprachtalent sich manchmal in reiner Funktionslust äußerte, davon zeugen solche federnd leichten Texte wie der novellistisch erzählte "Katharina"-Casus in den "Studien über Hysterie", natürlich die "Vorlesungen", die "Gradiva"-Studie oder die eleganten Essays über "Deckerinnerungen" und "Über Vergänglichkeit".

Das Thema 'Freud als Schriftsteller' ist seit dem wegweisenden Aufsatz von Walter Muschg (1930) oft, auch von mir, gewürdigt worden; es stellt geradezu einen Topos der Freud-Literatur dar. Ich kann und will daher heute nicht ausführlich darauf eingehen - bis auf einen Aspekt, auf den Autoren wie Patrick Mahony (1987, 1989), Klaus Thonack (1997) und andere hingewiesen haben. Während ich anno 68 als Germanist noch, in Übereinstimmung mit Freuds Selbstverständnis, zwischen dem Wissenschaftler und dem Schriftsteller einen Unterschied machte, bestreiten Mahony und andere diesen Unterschied. Sie sind der Auffassung, es handle sich bei dieser Zweiteilung um ein Selbstmissverständnis. Freuds Sprachtalent sei nicht das Vehikel, sondern eben das Instrument seines Denkens. Mit anderen Worten: Freuds Schreibprozess stelle sein Denken nicht dar, sondern stelle es her, ja, das Unbewusste wurde von ihm nicht zuerst erkannt und danach formuliert, nein, es bringe sich in seinen Schriften selbst zur Sprache.

Damit hängt engstens zusammen, dass es bei Freud tatsächlich viele Stellen gibt, wo sein Denken in actu erscheint. Denken und Schreiben werden in dieser Methode der pensée pensante dann ununterscheidbar, Primär- und Sekundärprozess feiern ihre mystische Hochzeit. Wir lesen, namentlich in den Texten, die er als 'genetische' von den so genannten 'dogmatischen' Darstellungen zu unterscheiden pflegte, nicht das Produkt seines Überlegens, sondern den Prozess. Wir sehen nicht das fertige Gewebe, sondern blicken in den Webstuhl hinein, wo ein Tritt tausend Fäden regt. Wir partizipieren an der Reflexion in statu nascendi. Namentlich Mahony kommt immer wieder auf diese Prozessualität (ongoingness) des Freud'schen Diskurses zu sprechen und meint - ein höchst origineller Gedanke -, dieses assoziierende Denken erfordere vom Leser seinerseits eine gleichschwebende Aufmerksamkeit bei der Lektüre. Er vermutet, dass Charcots improvisierte Pariser Vorlesungen in der Salpêtrière, die "Leçons du mardi", die Freud übersetzte, als Vorbild gewirkt haben. Ich denke, es waren vor allem Lessings Schriften, die ihm hierin als Modell vorschwebten. Es ist anzunehmen, dass diese Prozessualität mitgeholfen hat, den spezifisch psychoanalytischen Diskurs zu verbreiten. Beweisen kann man so etwas leider nicht, aber das liegt in der Natur der Sache. "Es wäre ebenso unsinnig", so Freud in "Totem und Tabu", "in dieser Materie Exaktheit anzustreben, wie es unbillig wäre, Sicherheiten zu fordern".

Zahlreiche Selbstzeugnisse weisen darauf hin, dass Freud diese Fähigkeit, im Schreiben, besonders in der Phase der inventio, für das Unbewusste offen zu bleiben bewusst einsetzte. Sie wird von seiner Entdeckung und Beherrschung der freien Assoziation, ein genuiner neuer Diskurs-Typus, kräftig beeinflusst sein. An Fließ schrieb er, er wisse am Anfang eines Absatzes oft nicht, wo er landen würde, seine Arbeit sei "ganz dem Unbewußten nachgeschrieben nach dem berühmten Prinzip von Itzig dem Sonntagsreiter: Itzig, wohin reit'st Du? Weiß ich ['s], frag das Pferd". Ein bedeutsames Gleichnis, mit dem er später (in "Das Ich und das Es") sein Strukturmodell der Psyche veranschaulichen wird: "Wie dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft nichts anderes übrig bleibt, als es dahin zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre". Über "Das Unbehagen in der Kultur" bemerkte er gegenüber Sterba: "solche Kompositionen macht man nicht, sie machen sich selbst". Und in einem Interview finden wir das Bekenntnis: "Wenn ich zu arbeiten anfange und meine Feder in die Hand nehme, bin ich immer neugierig, was sich ergibt, und das treibt mich unwiderstehlich zur Arbeit" [meine Übers.]. In den "Vorlesungen" heißt es: "Im Stoff selbst ist oft etwas, wodurch man kommandiert und von seinen ersten Absichten abgelenkt wird. Selbst eine so unscheinbare Leistung wie die Anordnung eines wohlbekannten Materials unterwirft sich nicht ganz der Willkür des Autors; sie gerät, wie sie will, und man kann sich nur nachträglich befragen, warum sie so und nicht anders ausgefallen ist". Ganz ähnlich noch einmal in "Der Mann Moses": "das Werk gerät, wie es kann, und stellt sich dem Verfasser oft wie unabhängig, ja wie fremd, gegenüber". Cromwells Diktum "A man never mounts so high, as when he does not know where he is going" gehörte zu seinen Lieblingszitaten, teilt Sachs uns mit.

Diese Synergie von Primär- und Sekundärprozess beim Schreiben bedingt sicherlich die stimulierende Qualität von Freuds Werk. Davon zeugen auch die offenen Schlüsse seiner Aufsätze, die immer recht unvermittelt abbrechen, als ob sie sagen würden: Es ist nicht mein endgültiges Wort zur Sache, es ist ein Denkanstoß oder in seinen eigenen Worten: "Ich will keine Überzeugungen erwecken - ich will Anregungen geben [...]. Sie sollen anhören und auf sich wirken lassen, was ich Ihnen erzähle".

Mahony wird nicht müde, seiner Bewunderung für Freuds Prosa Ausdruck zu verleihen, gerade weil sie "exposition and enactment" des Unbewussten kombiniere. In aphoristischer Zuspitzung charakterisiert er Freuds Stil als witzähnlich, Lacans Stil dagegen als traumähnlich. Das verstehe ich im Hinblick auf den Anteil des Unbewussten am jeweiligen Diskurs so, dass Lacan dem Unbewussten mehr Raum gewährte. Fragt sich nur, wo in der Wissenschaftssprache das Optimum im Verhältnis Bw/Ubw liegt? Witze muss man verstehen, Träume kann man deuten...

Klaus Thonack ist der Meinung, erst Mallarmé, den Freud nicht kannte, habe in seinem literarischen Œuvre die Lösung für das Problem der Darstellung des Unbewussten gefunden. Aber, so möchte ich anmerken, wie durchlässig und unklar die Grenze zwischen Dichtung und Psychoanalyse auch sein mag, wie zutreffend die Beobachtung, dass beide Geschwister sind, hat ihre Geschwisterrivalität nicht auch ihre Berechtigung?

Der Freud'sche Sprachstil verfügt bekanntlich, vergessen wir das nicht, über verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten. Man kann unschwer den Systematiker Freud der "Drei Abhandlungen" vom empathischen Psychologen der Krankengeschichten, den Kulturanalytiker vom politischen Führer einer Bewegung unterscheiden. In den Handbüchern der akademischen Psychologie, die ganz im Geiste der SE mit ihrer medizinalisierenden Tendenz nur den Dogmatiker und Systembauer Freud wahrnehmen, übersehen den empathischen Kliniker, den fantasiereichen Anthropologen, den spekulativen Philosophen. Und doch sind es gerade diese Aspekte, die die eigentliche Quelle seiner Originalität und Kreativität bilden und bis heute wirksam geblieben sind. An Jung schrieb er einmal, seltsam hellsichtig, "daß ich gar nicht für den induktiven Forscher organisiert bin, ganz aufs Intuitive angelegt, und daß ich mir eine außerordentliche Zucht angetan habe, als ich mich an die Feststellung der rein empirischen auffindbaren Psychoanalyse machte".

Man könnte gegen Mahonys These der Prozessualität einwenden, dass jeder geschriebene Text in gewissem Grade vom Primärprozess her gesteuert wird und daran festhalten, dass seine Qualität doch vor allem von der Denkkraft des Autors, also von der Stringenz seines Sekundärprozesses, vom Gelingen der sekundären Bearbeitung abhängt. Und bevor jemand von Ihnen sich jetzt die Frage stellt, ob mit dem Ratschlag, nach dem Vorbild Itzigs des Sonntagsreiters, die Zügel auch beim Schreiben im flow möglichst zu lockern, endlich die via regia zum Erlangen des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa entdeckt ist, möchte ich daran erinnern, dass man auf einem planlosen Ritt ohne Zielvorstellung manches Neue entdecken, sich aber auch hoffnungslos verirren kann. Wenn der Sonntagsreiter dann auch noch zum Sonntagsjäger wird, schießt er erfahrungsgemäß auch leicht einen Bock. Da mit berühren wir aber die altehrwürdige Frage nach dem Genie, vor der mein Pferd jetzt scheut. Gedenken wir also lieber jenes Ur-Sonntagsreiters, Don Quijote, von dem Cervantes uns im 2. Kapitel seines Romans erzählt: "er setzte seinen Weg fort, ohne einen andern einzuschlagen, als den sein Pferd wollte; denn er meinte, gerade darin bestünde das rechte Wesen der Abenteuer".

Anmerkung der Redaktion: Eine überarbeitete Fassung dieses Vortrags, der zuerst am 28. Januar in Freiburg gehalten wurde, erscheint im Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Freuds Aktualität, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. Wir danken dem Verfasser für die Publikationsgenehmigung.

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