Hase und Igel laufen immer noch

Christoph Türckes Rehabilitierung des Heimatbegriffs erfindet das Rad mit einem Plattfuß neu

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder wagt es einer. Immer wieder meint einer, er sei mutig und dabei nur der Wahrheit verpflichtet, wenn und weil er sich mit Gegenständen beschäftigt, von denen andere lieber die Finger lassen. Dass 'man es nicht tut', das will der unbefangene Wagemutige zu recht nicht gelten lassen; dass es auch gute Gründe dafür gibt, jenseits den Konventionen einer politisch korrekten Moral, das entgeht ihm.

Christoph Türcke traut sich gerne, in den letzten Jahren vor allem immer wieder gerne mit den großen, breiten Strömen der gesellschaftlichen Meinung, zu denen er sich nach wie vor in Opposition sieht. Diesmal geht es ihm um Heimat. Türcke weiß, wie heikel das wieder wird! Er wägt ab und gibt zu, das Wort sei "schwer belastet mit Geschichte", sei aber "mißbraucht und verhunzt" worden, wenngleich selbst daran nicht unschuldig. Dieser Missbrauch habe das Wort "Heimat" aber nicht vollkommen zerstören können. Türcke möchte es rehabilitieren, so der Untertitel seines Essays in Büchleinform, und zu einem "verantwortungsvollen Gebrauch" anleiten. Denn "Heimat zu tabuisieren, um allen Anfängen eines wiederkehrenden Nationalismus zu wehren, ist ebenso fragwürdig wie das Gegenstück." Türcke inthronisiert sich als der Gegensätze aufhebende Philosoph, der den dritten Weg jenseits von pro und contra Heimat kenne. Worin der "geheime Konsens" besteht, der dieser "Frontstellung" zugrunde liegen soll, das weist er allerdings nicht aus.

Den Grund der Heimat findet Türcke im Mutterleib, dem Urbild von Heimat: ein wohliger Zustand, der nicht mehr ist und den man nur deswegen schätzt, weil er nicht mehr ist - denn so lange man noch in ihm war, wusste man nicht, was einem mal fehlen könnte. Aus der Kindheit nehme ein jeder Mensch eine Vorstellung von verlorener Geborgenheit und von verlorenem Glück mit, welches es so heil, wie es retrospektiv verklärt wird, zwar nie gegeben hatte, das als Bild eines seligen Zustandes aber bewahrenswert sei. Dies sei der Urgrund der Vorstellung von Heimat. Die Kindheit sei eine "Zeit eines Erlebens, das so tief ging, daß es aller weiteren Erfahrung den Weg gebahnt hat und ihr insofern uneinholbar voraus liegt." Aus den hier gesammelten Erfahrungen sind auch für Türcke freilich nicht die negativen zu streichen: sein Begriff von in der Kindheit konstituierter Heimat ist ein reflektierter, keiner, der bloß verherrlicht und bei dem deswegen auf der Hand läge, dass er das Negative nur übermalt. Angenehme Bilder, die man aus seiner Kindheit hat, bilden die Vergangenheit nicht so ab, wie sie tatsächlich war. Darum geht es auch nicht. Es war keine heile Welt; das Bild, das man von ihr behält, repräsentiert sie aber, so Adorno gegen Ende der "Negativen Dialektik", und kann als Leitbild dienen für eine bessere, die in der Gegenwart noch zu errichten ist.

Der Begriff Heimat sei aber, so Türcke weiter, in den letzten Jahrhunderten diskreditiert worden, weil er eng an völkische Weltanschauung und Nationalismus gekoppelt war. Aber seit dem Nationalsozialismus ("Gipfel erreicht - und überschritten") und gerade jetzt, in Zeiten der Globalisierung, sei es damit vorbei. Türckes mit Eric Hobsbawm belegter Befund, der Nationalstaat werde vom transnationalen Kapital ausgehöhlt, ist bereits umstritten. Sein Beleg für die allgemeine Internationalisierung des ehemals Nationalen: die multinationale, gar -ethnische Zusammensetzung von Fußballteams, rutscht über die Willkürlichkeit des empirischen Anhalts bereits ins Lächerliche. Aber er braucht diese Befunde, um den Nachweis zu führen, dass "die emotionale Anziehungskraft der Nation" nachgelassen habe.

Türcke unterstellt offensichtlich, dass Nationalismus sich nur an starken Nationen entzünde - als unterhalte der Nationalismus nicht ein ganz eigenes Verhältnis zur Realität und als wäre er nicht von jeher die Kompensation einer Schwäche und eines Mangels, nicht nur im national empfindenden Individuum, sondern auch im Konstrukt "Nation" selbst gewesen. Wieder mit Hobsbawm konstatiert Türcke, der Nationalismus befinde "sich im Rückwärtsgang", weil Nationalismus in der Gegenwart vornehmlich separatistisch sei und nicht mehr die Begleitmusik zur Zusammenfassung mehrer kleinerer Länder zu einem großen. Damit meint Türcke, die gegenwärtigen Nationalismen verniedlichen zu können - als separatistischer aber wird der Nationalismus nicht weniger virulent und mörderisch.

Türcke benötigt aber diese Konstruktion vom Verfall der Nation in Realität und Vorstellung, um dem Begriff "Heimat" vom nationalistischen Makel befreit zu sehen. Nur noch "Lokalpatriotismen und Schrumpfnationalismen" gebe es heutzutage, deren Lächerlichkeit dadurch noch gesteigert werde, dass sie ihr Symbolik-Merchandising von "global players" beziehen. Wer den in alter Schriftart gesetzten Namen seines Heimat-Fleckens auf einem Sweatshirt aus China trägt, der ist für Türcke nicht nur unglaubwürdig, sondern auch Opfer, denn "das internationale Geschäft lebt von einem Herd heimatlicher Emotionen, die es kanalisiert, aufbläht und ausbeutet."

In der durch die Globalisierung vorangetriebenen Entkoppelung von Heimat und Nation soll das Legitime des Heimat-Begriffs, sein Utopisches gar, wieder sichtbar, wenn nicht gar frei werden. In den "Lokalpatriotismen und Schrumpfnationalismen" artikuliere sich "auf schaurige Weise etwas ganz Legitimes: das Bedürfnis nach einer vertrauten, überschaubaren Umgebung, die unter den Imperativen der Mobilität, Flexibilität und Innovation rapide verloren geht." Türcke weiß zwischen dem guten Eigentlichen und der schlechten Oberflächenerscheinung zu unterscheiden: da gibt es das "berechtigte Bedürfnis" einerseits und die "schaurige Äußerung" andererseits. Was die Menschen tun, soll sich nicht gegen sie wenden können. Sie verfügten über "die eigentümliche Fähigkeit", sich mittels "Halluzinationen, Vorstellungen, Begriffe[n]" für das zu entschädigen, was ihnen versperrt ist. Unvorstellbar, dass sie sich mit ihren Vorstellungen das, was ihnen verwehrt ist, nochmal und erst recht verbauen, weil ihnen der Gedanke unerträglich ist, dass die bisherige Versagung unnötig gewesen sein könnte. Unmöglich, dass in der schaurigen Äußerung genau das getan wird, wonach man ein gar nicht berechtigtes Bedürfnis hat.

Die saubere Scheidung in Türckes Definition ist also wichtig, damit die "kritische Heimatkunde" gelingt, "die Heimat und Nation zu scheiden weiß." Wenn "zu ihrer Elementarlehre" aber eine "kollektive Wahrnehmungs- und Gedächtnisarbeit" gehört, dann ist diese Scheidung schon immer unterlaufen. Denn hier ist längst ein Quantensprung vollzogen worden, der allererst zu erklären wäre. Auch wenn Türcke feststellt, dass die Menschen mit einer "staatlich verstandenen Nation" einer "überdehnten, überspannten Heimat" anhängen, redet auch er immer schon im Modus des Kollektivs. Türcke gerät nicht ins Schwärmen über Deutschland, auch ruft er sich nicht als dessen besserer Teil aus. Er ist der Meister des "Sich-nicht-erwischen-Lassens". Immer ist alles bei ihm lauterste begriffliche Spekulation. Zwar macht er sich nie auf die Suche nach nationaler Identität, aber den Deutschen verweigert er andererseits nicht die Sätze, die sie hören wollen. Das imaginierte An sich ist dabei Türckes wichtigstes Werkzeug. An sich sei es in Ordnung, "daß Vertriebene sich in Verbänden zusammentun, um gemeinsam ihr Heimweh zu lindern" - schlimm werde es erst dadurch, "wie" sie es täten. "An sich" sei der Satz "Die Deutschen waren im Nationalsozialismus auch Opfer" richtig - falsch werde er erst dadurch, dass er "so gedreht wird, daß sie vor allem Opfer waren." Auf den Gedanken, dass Vertriebenverbände als NS-Nachfolgeorganisationen gegründet wurden und nicht der Linderung von Heimweh dienen sollten, sondern der Pflege von Ressentiment und Rachegeist; dass die Banalität, dass Deutsche zwischen 1933 und 1945 auch einiges Ungemach in Kauf zu nehmen hatten, nur deswegen ausgebreitet wird, um auch für die Zukunft festzuhalten, dass vor allem Deutsche gelitten hätten - das ist dem undenkbar, für den nur "die Gewichte stimmen" müssen. Deswegen sind Guido Knopps Dokumentationen, in denen ehemalige Flakhelfer und SS-Männer als leibhaftige historische Quelle auftreten dürfen, "zunächst einmal ein unerläßliches Stück kollektiver Gedächtnisarbeit."

Von der Bestandswahrung der gemeinsamen Vergangenheit und Gegenwart spannt Türcke die Klammer des Kollektivs treu bis in die Zukunft, wo man mehr in die Weite streben sollte. "Heimat" ist nach wie vor das "Losungswort zur Vorwärtsverteidigung" (Wolfgang Pohrt). Die "konkrete Heimat", die Türcke wiedergewinnen möchte, bezeichnet er als "einen gemeinsamen Erfahrungsraum, der über nationalstaatliche Grenzen hinweg als gemeinsamer Verantwortungsraum wahrgenommen wird." Dies versucht er an Kants Gedanken "Zum ewigen Frieden" anzulehnen, es ist aber auch eine schöne Formulierung für militärische Interventionen, bei denen das Menschenrecht das Völkerrecht bricht - was es laut Adolf Hitler ja auch zu tun habe. Vielleicht kommt Türckes Essay aus dieser Sicht sogar ein wenig spät: unter Rot-Grün hätte er es zum philosophischen Stichwortgeber bringen können.


Titelbild

Christoph Türcke: Heimat. Eine Rehabilitierung.
zu Klampen Verlag, Springe 2006.
80 Seiten, 9,80 EUR.
ISBN-10: 3934920861

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