Dimitroff kommt nicht vor

Robert O. Paxton misst den Faschismus an seinen Taten

Von Wolfgang WippermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Wippermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Früher war zwar nicht alles besser, aber vieles einfacher. Früher war der Faschismus die "offene terroristische Diktatur der am meisten chauvinistischen und reaktionärsten Elemente des Finanzkapitals". In Erwägung gezogen wurde allenfalls, ob der Faschismus neben dieser prokapitalistischen sozialen Funktion nicht auch über eine nicht-kapitalistische soziale Basis verfüge, weshalb er sich in der Situation eines "Gleichgewichts der Klassenkräfte" auch "verselbständigen" könne.

Der emeritierte Geschichtsprofessor an der New Yorker Columbia University Robert O. Paxton hat für diese marxistischen Faschismusdefinitionen nichts übrig. Dimitroff, dem die zitierte rein instrumentalistische Bestimmung zugeschrieben wird, kommt bei ihm nicht vor. Ebenso scharf lehnt Paxton jedoch auch alle Erklärungsversuche "bürgerlicher" Wissenschaftler ab. Die Modernisierungs- und Totalitarismustheorien ebenso wie die Versuche, Faschismus auf ein idealtypisches und meist ideologisches "Minimum" zu reduzieren. Zurückgewiesen wird schließlich auch die bei uns vorherrschende Ablehnung eines allgemeinen, d. h. nicht allein auf Italien bezogenen Faschismusbegriffs.

Paxton misst und definiert den Faschismus an seinen Taten und Handlungen. Zu diesem Zweck hat er seine Entwicklung in fünf "Stadien" eingeteilt. Nämlich 1. "Entstehung", 2. "Verwurzelung im politischen System", 3. "Griff nach der Macht", 4. "Machtausübung" und 5. "Radikalisierung oder Niedergang". In jedem dieser "Stadien" beschreibt und vergleicht er die Geschichte der verschiedenen faschistischen Bewegungen und Regime. Dies hört sich ziemlich kompliziert an - und ist es auch. Man muss sich schon ziemlich gut in der Geschichte dieser faschistischen Bewegungen und Regime auskennen, um zu erkennen, wann und warum ihre Geschichte in den einzelnen "Stadien" erzählt und verglichen wird. Die vielen Vor- und Rückverweise stören zudem den Erzählfluss und machen die Lektüre ziemlich schwierig. Doch lohnend ist sie allemal. Die Darstellung ist sehr informativ und die Beschreibung packend und spannend. Paxton kommt auf relativ knappen Raum immer wieder auf den Punkt, und es gelingen ihm viele vorzügliche Formulierungen.

Wirklich neu und tatsächlich innovativ ist seine bewusst nicht an den Anfang gestellte, sondern erst im Schluss zu findende Definition. Danach ist "Faschismus eine Form des politischen Verhaltens, das gekennzeichnet ist durch eine obsessive Beschäftigung mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft und durch kompensatorische Kulte der Einheit, Stärke und Reinheit, wobei eine massenbasierte Partei von entschlossenen nationalistischen Aktivisten in unbequemer aber effektiver Zusammenarbeit mit traditionellen Eliten demokratische Freiheiten aufgibt und mittels einer als erlösend verklärten Gewalt und ohne ethische oder gesetzliche Beschränkungen Ziele der inneren Säuberung und äußeren Expansion verfolgt."

Auch diese Definition ist ziemlich kompliziert und man muss sie wie das gesamte Buch zwei Mal lesen. Ich möchte sie kurz erläutern, kommentieren und kritisieren. Paxton definiert zwar Faschismus als "Form des politischen Verhaltens", doch dieses "Verhalten" ist durch Ideologie geprägt. Diese faschistische Ideologie reduziert Paxton ähnlich wie Payne, aber nicht ganz so minimalistisch wie Griffin auf ein "faschistisches Minimum". Doch anders als Griffin, Payne, Eatwell und andere neuere Faschismusforscher weist Paxton auf die besonderen gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen und Umstände hin, die die Wirkungsweise der faschistischen Ideologie potenzieren oder minimieren. Im Unterschied zu den genannten angelsächsischen Faschismusforschern betont Paxton ferner, dass der Faschismus nur "in Zusammenarbeit", ja in einem formellen und informellen Bündnis mit den "traditionellen Eliten" zur Macht gekommen ist. Schließlich und vor allem ist Faschismus für Paxton keineswegs nur Geschichte, sondern Gegenwart und mögliche Zukunft. All dies wird "bürgerliche" Wissenschaftler nicht erfreuen und hat unter ihnen auch bereits für einigen Unmut gesorgt.

Marxistische Faschismusforscher könnten (wenn es sie denn noch gibt) kritisieren, dass Paxton wie selbstverständlich davon ausgeht, dass Faschismus als Partei entsteht, aufsteigt und dann gegebenenfalls an die Macht kommt. War dies immer so und muss dies immer so sein? Hat und kann es Faschismus nur "von unten" geben? Was ist mit "Faschismus von oben"? Anders gefragt: Waren die Regime in den baltischen Staaten, Österreich und die Slowakei, die so genannten Königsdikaturen auf dem Balkan, Vichy-Frankreich, Spanien unter Franco, Portugal unter Salazar, Argentinien unter Perón, Japan der Kriegszeit etc. 'nur' autoritär oder nicht auch faschistisch? Paxton verneint dies alles. Stimmt das? Waren diese Regime nicht faschistisch, nur weil hier keine originär faschistische Partei an die Macht gekommen ist?

Paxtons Buch provoziert diese kritischen und weiterführenden Fragen. Doch dies ist auch ein Verdienst. Noch verdienstvoller ist, dass Paxton der bei uns schon totgesagten Faschismusdiskussion einen neuen und geradezu innovativen Anstoß gegeben hat. Dimitroff muss man vielleicht nicht mehr kennen und zitieren. Doch wer künftig über Faschismus redet und schreibt, muss Paxtons Buch kennen und zitieren.


Titelbild

Robert O. Paxton: Anatomie des Faschismus.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Dietmar Zimmer.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
448 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3421059136

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