Verloren im Dschungel des Lebens

Javier Salinas' Roman "E"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?" Um diese einleitenden Fragen aus Ernst Blochs Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung" kreist der neue, spielerische Roman des Spaniers Javier Salinas, der hierzulande bereits mit seinem Roman "Die Kinder der Massai" (2004) aufhorchen ließ.

Der in Madrid und Köln lebende Autor inszeniert ein assoziatives, biografisches Verwirrspiel, in dem der Erzähler in diverse Figuren schlüpft, aus verschiedensten Epochen und von höchst unterschiedlichen Schauplätzen berichtet. Über allem schwebt "E", der narrative Übervater, eine Figur ohne greifbare biografische Wurzeln, die sich mit viel Esprit Fragmente einer Biografie zusammenfantasiert.

Das liest sich schon zu Beginn herrlich amüsant: "Nichts in diesem Buch wäre gewesen, wenn ich der wäre, der ich bin. Wenn ich E wäre. Aber der bin ich nicht." Wenig später taucht vor uns ein russischer Musiker namens Trigorin Gajew auf (der Name deutet auf eine Mischung aus zwei Tschechow-Figuren hin), der in den letzten Kriegstagen zur Welt kam und von dessen Vater behauptet wird, dass er ein "hervorragender Pianist" gewesen sei. Gesehen hat er ihn nie, wie überhaupt väterlose Figuren beim 34-jährigen Spanier eine ganz zentrale Rolle spielen.

Die Abwesenheit der Familienoberhäupter fungiert als Symbol für die Risse in den Biografien der zumeist tieftraurigen Figuren. Doch diese liebenswürdigen Melancholiker, entwurzelten Sonderlinge und nonkonformistischen Tagträumer (auf der letzten Seite wird gar Iwan Gontscharows "Oblomow" erwähnt) faszinieren immer wieder mit humorvollen und (auf den zweiten Blick) auch tiefgründigen Aperçus. Über ein Treffen junger Leute in Bukarest heißt es: "Die Party muß wohl gut sein, denn das hier hat keinen Sinn." Ein Schwede möchte in die Haut seines Hundes Otto schlüpfen, eine Irin will zum Buddhismus konvertieren, ein trunksüchtiger Ungar vagabundiert durch Budapest, und alle wirken sie "verloren im Dschungel des Lebens ohne Namen."

Javier Salinas, der in Madrid parallel Jura ("Ich wollte Kenntnisse sammeln. Für einen Autor ist es umso besser, je mehr er weiß.") und Philologie studierte, betreibt nicht nur ein biografisches Puzzle-Spiel um die Chimäre "E", er lotet auch die Grenzen des literarischen Erzählens aus. Assoziativ, frech und witzig breitet er seinen Patchwork-Text vor dem Leser aus, den er oft in direkter Ansprache mit in die Handlung einbezieht. Dieser ungebremste, ausschweifende Erzählstrom erinnert ein klein wenig an den Tonfall seines Landsmannes Javier Marías.

Am Ende ist "E" immer noch so wenig greifbar wie zu Beginn der Handlung. Die Auflösung des "Rätsels" lässt uns nach der Lektüre in einem Zustand tiefster Unruhe zurück. Javier Salinas hat uns eine zeitgenössische Odyssee vorgelegt, die prägnant mit dem letzten Wort des Buches zu beschreiben ist: Genial.


Titelbild

Javier Salinas: E. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.
Ammann Verlag, Zürich 2006.
280 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3250600970

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch