In der Falle der Geschichte

Sayed Kashua, arabischer Israeli, erzählt in bedrückender Weise von einer hierzulande nur oberflächlich bekannten Konfliktkultur

Von Marius HulpeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marius Hulpe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang ist alles hybride. Ein kleines Volk, das am Rande Israels in kleinen Dörfern lebt, gehört politisch zu Israel, ist jedoch arabischer Konfession. Und unterscheidet sich somit grundlegend von den im Gaza-Streifen und im Westjordanland lebenden Palästinensern. Von diesen werden sie als Kollaborateure der Israelis abgestempelt. Aber auch in den Augen vieler Juden, denen sie formal gleichgestellt sind, drückt sich die tiefe Ablehnung und Fremdheit aus; ja wenn man es präziser sagen möchte: Sie empfinden sie als eine Art Krebsgeschwür.

Diese Grundsituation ist es, aus der Sayed Kashua in seinem zweiten Roman "Da ward es Morgen" eine düstere Vision der Post-Intifada entwickelt, die gerade deswegen so verstörend wirkt, weil sie so gesättigt ist mit Fakten. Auch, wenn letztlich alles im Fiktionalen verbleibt.

Zu Beginn kehrt der Ich-Erzähler, ein Journalist, entmutigt aus Jerusalem in besagtes Dorf zurück, das ihm wie ein Fluchtpunkt vor den Anfeindungen in der Stadt erscheint, wo man seinesgleichen lieber heute als morgen vertreiben möchte.

Doch auch im Dorf ist die Welt längst nicht mehr in Ordnung, es herrscht das Bandenwesen; Schutzgeld, Schießereien und Entführungen sind an der Tagesordnung. Eines nachts aber gerät die bereits schiefe Welt vollends aus den Fugen. Das israelische Militär riegelt das Dorf hermetisch ab, alle in Israel Arbeitenden werden von Grenzpolizisten dorthin zurückgebracht, und eine Nachrichtensperre wird verhängt. Wasser und Strom werden gekappt, das Chaos bricht aus.

Vielleicht hat es etwas mit dieser völligen Neuaufarbeitung eines altbekannten Szenarios zu tun, dass dieser Roman trotz, oder gerade wegen seiner Spannung auch soziologisch so interessant ist. Wie schon in Camus "Die Pest" oder Goldings "Herr der Fliegen" lässt sich von nun an sehr genau beobachten, wie sich der Zusammenbruch gewohnter Strukturen und Regelsysteme auf das Funktionieren einer Gemeinschaft auswirkt. Es entsteht eine Art funktionalistischer Opportunismus, was zur Folge hat, dass das Sozialsystem Dorf nicht völlig zusammenbricht. Der Kampf jeder gegen jeden schafft ein Gleichgewicht, wenn auch ein fatales.

Denn während innen das Chaos tobt, einigen sich die politischen Führer außerhalb auf ein Friedensabkommen und darauf, dass die arabischen Israelis zukünftig als palästinensische Bürger gelten. Der Ich-Erzähler fühlt sich verkauft. Nirgendwo in diesem Buch findet sich der geringste Glaube an die Demokratiefähigkeit der Palästinenser, erst recht nicht anderer arabischer Staaten. Arabisch zu sein, heißt es, sei das Schlimmste, was einem passieren könne.

Es ist vor allem die tiefe innere Zerrissenheit, die Kashua, Jahrgang 1975, in diesem beklemmenden Stück Prosa thematisiert. Wobei es ihm wie in seinem ersten Roman gelingt, den Einzelnen in diesem unmenschlichen Getöse zu betrachten. Dabei ist es überhaupt nicht abträglich, dass eine von grundweg pessimistische Perspektive den Text durchzieht, da die Verankerung der Geschichte in der empirischen Gegenwart kaum eine andere, zudem noch glaubwürdige Stimmung zulässt. So zeichnet Kashua ein vielschichtiges Bild einer von Widersprüchen und Gewalt geprägten Gesellschaft. Dies gelingt durch viele stilistische Feinheiten und eine ab und an stattfindende Annäherung an die Berichtsform. Spannung entsteht, und das in einer Geschichte, die dies auch wirklich ist: spannend.

Auch seinen zweiten Roman hat der Autor auf Hebräisch geschrieben. In einem Interview stellte er die rhetorische Frage, in welchem arabischen Land er bei der herrschenden Zensur schon veröffentlichen könne. Ganz klar, Kashua schreibt für Israelis. Doch davon ist im Roman selbst erst auf den zweiten Blick etwas zu spüren. Durch eine Vielzahl an Figuren mit unterschiedlichen Perspektiven hebt sich die Parteilichkeit ganz von selbst auf. Und so liest sich dieser Roman einerseits als streitbares Diskussionspapier, als Emotionalisierung, anderseits aber auch als Brücke zu einer Minderheitenperspektive, von der der Text im Grunde lebt.

So tritt schließlich eine tiefschürfende und subtile Kritik daran zutage, dass die offizielle Politik im Angesicht der herschenden Zustände für den Einzelnen in Abwege führt, und dass man entgegen den goldenen Worten der Politiker, die die arabischen Israelis als Vermittler zwischen beiden Seiten sehen, die Erfahrung macht, zwischen den Fronten zu stehen - in der Falle der Geschichte.

Doch auch für die eigene Seite wird eine grundlegende Selbstkritik geleistet. Jeder Anflug eines geschönten Blicks wird vermieden, die Illusionen sind verflogen. Die arabischen Israelis stehen nicht in der Opferrolle da. Ihre zynische Haltung wird deutlich, wo zwar eine abstrakte Identifikation und Solidarität mit den Palästinensern im Gaza-Streifen besteht, zugleich aber von einer durchaus konkreten Ausbeutung der illegalen palästinensischen Arbeiter im Dorf gesprochen werden kann.

Hier tritt wieder das Motiv des in sich zerfallenden Systems hervor. In der Krisensituation zeigt sich, dass in der Gemeinschaft der arabischen Israelis eine Mehrzahl von Leuten jedes Gefühl für etwas wie Würde verliert. Die Dorfbewohner werden zu Opportunisten, zu Mittätern, solange sie nur selbst davon profitieren.

Sayed Kashua hat einen beklemmenden und sprachlich dichten Roman geschrieben, der auch den hiesigen Leser mit hineinzuziehen vermag in einen fremden Konflikt. Doch die eigentliche Stärke liegt im Allegorischen. Denn ist die Erfahrung, unter widrigsten Umständen überleben zu müssen, zumindest das beste herausholen zu müssen, eine fremde? Eben nicht, sie ist existenziell. Sie ist Teil der conditio humana, und für sehr viele Menschen gehört sie zur täglichen Wirklichkeit - nicht nur in Israel, nicht nur in Palästina.


Titelbild

Sayed Kashua: Da ward es morgen. Roman.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Berlin Verlag, Berlin 2005.
304 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3827005736

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