Ohne Zwangsjacke

Eine umsichtige Geschichte der Psychiatrie

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da ist zum Beispiel der schwäbische Arzt und Dichter Justinus Kerner (1786 - 1862). Als Lyriker und Erzähler rechnet man ihn der spätromantischen "schwäbischen Dichterschule" zu. Als Mediziner und Psychiater zählt ihn die Geschichtsschreibung der Psychiatrie, soweit sie sich am positivistischen Wissenschaftsverständnis und am Fortschrittsmodell orientiert, zu den rückwärtsgewandten okkulten und spiritistischen Geistern - ein Gegenaufklärer, wie er in ihrem Buche steht. Und in der Tat fehlt es nicht an Belegen für diese Sicht. Nicht nur als Literat, auch als Mediziner war Kerner eine Art "Spökenkieker". Seine "Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere", unter dem Titel "Die Seherin von Prevorst" 1829 erstmals, dann in zahlreichen weiteren Ausgaben erschienen, ist so etwas wie eine Bibel des Okkultismus geworden. Alexander von Humboldts sarkastischer Kommentar zum Tischerücken ("Der Klügere gibt nach") war nicht die parapsychologische Lesart Kerners. Einem Verdikt wie dem Theodor W. Adornos, Okkultismus sei die "Metaphysik der dummen Kerls", hätte er nichts abgewinnen können.

Sieht man freilich genauer hin, so macht man überraschende Entdeckungen. In methodischer Hinsicht hat Kerner in seinen Krankengeschichten genau zwischen Beobachtung und Interpretation unterschieden: etwas, das nicht jeder vermeintliche Nur-Positivist zustande bringt. Modellvorstellungen der gegenwärtigen Psychologie von der "multiplen Persönlichkeit" finden sich schon bei ihm. Kerners "Kleksographien" sind eine Vorstufe des Rorschachtests. Die von Kerner aufopferungsvoll gepflegte Gruppentherapie mit integriertem Familienanschluss psychisch Kranker ist so revolutionär gewesen, dass sie erst die Anti-Psychiatrie der 60er Jahre wiederentdeckt hat. Die weithin praktizierte Degradierung der "Wahnsinnigen" fand bei ihm, der als angehender Tübinger Mediziner den kranken Hölderlin betreut hat, keine Grundlage. Kurz: Die übliche Entgegensetzung von "aufgeklärter" und "romantischer" Medizin ist bei ihm gegenstandslos. Die Bewegung des "Mesmerismus", deren Anhänger Kerner war, unterläuft diese allzu schematische Entgegensetzung prinzipiell.

Das Beispiel ist gut geeignet, die Verdienste einer Geschichte der Psychiatrie zu umreißen, die jetzt von dem ehemaligen Freiburger, jetzt Bonner Medizinhistoriker Heinz Schott und dem Münsteraner Psychiater und Psychotherapeuten Rainer Tölle als Gemeinschaftswerk vorgelegt wird. Wo die heutigen Lehrbücher der Psychiatrie meist geschichtsblind, die historischen Darstellungen gegenwartsfern sind, wird auf wechselseitige Erhellung gesetzt. Die beiden Autoren räumen mit den planen Fortschrittsvorstellungen von einer Psychiatrie auf, die als wissenschaftliche erst mit dem Ende des 18. Jahrhunderts beginnen und im positivistischen 19. Jahrhundert seine erste Blüte erlebt haben soll, die zweite dann in der gegenwärtigen biologischen, pharmakologischen und neurowissenschaftlichen Psychiatrie. So jedenfalls will es Edward Shorters ebenso prominente wie problematische "Geschichte der Psychiatrie" von 1999.

Schott und Tölle setzen dagegen jenseits der vom 19. Jahrhundert aufgerissenen Gegensätze auf die Verbindung von "erklärender" und "verstehender" Wissenschaft. Sie wissen, dass die Psychiatrie der hermeneutischen Deutung und der Fähigkeit zur Empathie bedarf. Sie verleugnen nicht die kulturhistorischen Zusammenhänge. Sie fragen nach Wissenschaftsbegriff und Menschenbild. Sie leuchten in die Nischen: Es gibt nicht nur eine, sondern viele Geschichten der Psychiatrie. Ausgerechnet in der Wissenschaft, die mit ihren schematischen Krankheitsbildern und Typenlehren wie kaum eine andere dem Ungeist der Rubrizierung und Klassifikation gefrönt hat, lassen sie die produktiven Querköpfe wie Kerner gelten.

Das schließt nicht aus, dass Schott und Tölle der alten Leidenschaft ihres Faches soweit folgen, dass auch sie gerne rubrizieren. Sie schreiben Psychiatriegeschichte in thematischen Querschnitten. Die Folge ist, dass die dargestellten Forscher und Ärzte in unterschiedlichen Zusammenhängen wiederauftauchen und der systematische Zugriff gelegentlich den historischen Zugang dominiert. Aber Schott und Tölle verstehen die Geschichte der Psychiatrie nicht als Prokrustesbett, wo man die Forscher nicht anders als ihre "irren" Objekte in die Zwangsjacke der Kategorien und Klassifikationen einspannt. Insofern handelt es sich um eine gleichsam selbsttherapeutische Geschichte der Psychiatrie.


Titelbild

Heinz Schott / Rainer Tölle (Hg.): Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen.
Verlag C.H.Beck, München 2006.
688 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3406535550

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