Von Flanken und Fehlpässen

Fußballbücher versuchen die Welt zu erklären

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mag man eigentlich zur Vorbereitung des großen Sportjahrs noch zu mehr Büchern greifen? Und sich der Kunst hingeben, große Gedanken zum trivialen Anlass zu denken: "Was ist Sport?" liest man auf dem Umschlag eines der nachfolgend aufgeführten Bücher, wo sich das "o" im Sport verdoppelt. Dehnt sich da schon etwas ins Unvermeidliche? Richtig, es reicht langsam mit dem klug tuenden Gerede und Geschreibe, das - wie Klaus Theweleit in seinem Buch "Tor zur Welt" (vgl. literaturkritik.de 7/2004) bemerkte - sehr oft als eine Art Ersatz für die verstummten großen politischen Diskurse daherkommt. Aber gibt der Fußball wirklich soviel her, wie es die Zahl der Fußballbücher vermuten lässt? Hat man nicht eher das Gefühl, alles in mittlerweile dutzenden Varianten bereits einmal gelesen oder gehört zu haben?

In so einer Situation ist es nützlich, wenn zumindest die Idee für ein neues Buch pfiffig ist. So wie bei Herbert Perls Buch über die "verhinderten Weltmeister": da gibt es doch eine Reihe herausragender Fußballer, die aber aus ganz unterschiedlichen Gründen nie den ganz großen Titel, den Weltmeistertitel, erringen konnten. Also stellt Perl eine Mannschaft auf: "22 Spieler. Zwei Teams sollten es werden: elf Spieler, die nie an einer Weltmeisterschaft teilnahmen, gegen elf Spieler, die an einem Turnier teilnahmen, aber nie Weltmeister wurden." Dazu ein "Nachwort" betitelter Text, in dem Klaus Theweleit auf die Herausgeberfrage "Was erinnern Sie von den einzelnen WMs?" antwortet. Theweleits Text ist dann mit Abstand der längste dieses Bands: Anregend und amüsant zu lesen, aber wer sein Buch "Tor zur Welt" kennt, wird merken, dass der Text eine kluge Resteverwertung darstellt.

Trotzdem ist er gut genug, um im Reigen der versammelten Texte mithalten zu können. Die stammen durchweg von denen, von denen sie immer stammen. Will sagen: entweder sind die Autoren selber schon mit Fußballbüchern hervorgetreten, wie Ronald Reng, der über Ryan Giggs schreibt, oder Jürgen Roth (über Mehmet Scholl); schreiben sie als Zulieferer der überregionalen Sportredaktionen mehr oder weniger regelmäßig über Fußball und sein Umfeld, so wie Birgit Schönau (über Roberto Baggio), Ralf Sotschek (über George Best), Matti Lieske (über Bernd Schuster), Holger Gertz (über Manuel Rui Costa), oder sind anderweitig dem Feld verbunden wie Fritz Eckenga (über Johan Cruyff). Sie verstehen ihr Handwerk und können also auch auf die Schnelle einen Text über einen "verhinderten Weltmeister" ihrer Wahl produzieren. Am besten gefallen die Texte, denen es gelingt, das Flair und die Umstände aufzugreifen, das die Spieler prägte, ihre spezifische Bedeutung mitbestimmte. Da passen dann manchmal auch die ansonsten bemüht anmutenden poetischen Beschreibungen fußballerischer Momente, für die die Protagonisten verantwortlich waren. Doch hätte man insgesamt dem Band etwas mehr Raum und Tiefe gewünscht.

Raum und Tiefe sind beim Band "Poetik des Fußballs" von Gunter Gebauer zu erwarten, will doch der Verfasser als Philosoph in schwerdenkerischer Tradition gewichtige Themen abhandeln. So analysiert er beispielsweise Muster, die eine spezifische Identität als Fußballnation ausmachen. Gibt es also eine "soziale Motorik" im Fußball, die die so genannten klassischen Tugenden der deutschen Fußballnation kennzeichnet? Wenn ja, muss sie dann aber nicht gerade als Ausdruck einer fußballerischen Rückständigkeit angesehen werden, weil es versäumt wurde, einen internationalen Austausch einzuleiten, der den nationalen Fußball global konkurrenzfähig hätte machen können? In diesem Falle wäre die "soziale Motorik" lediglich noch eine Erinnerung an bessere Zeiten - oder: anrührende Folklore. Sie würde dann aber nicht mehr zur allgemeinen "Teilhabe an der sozialen Motorik" taugen, durch die Spieler und Zuschauer verbunden sind - mittels eines "exemplarischen Körpergedächtnisses", an das angeschlossen werden kann und das Identität schafft. Aus fußballfachlicher Sicht, so möchte man hinzufügen, wäre es allerhöchste Zeit für derartige Entwicklungen und man möchte es dem Bundestrainer Klinsmann wünschen, dass seine Einsichten in die globalen Notwendigkeiten der Fußballtrainingslehre endlich auch in Deutschland Standard würden. Auch wenn typisch "deutsche Tugenden" dabei verloren gingen - ein moderner Fußball à la Barcelona 2006 verzückt auf internationaler Ebene.

Eine andere Form der Identitätssuche im nationalen Kontext, die Gebauer anführt, ist die "epische Erzählung". Dass das "Wunder von Bern" als Filmerzählung mehr als fünfzig Jahre nach dem Ereignis erfolgreich ist, belegt die Bedeutung des Ereignisses im kollektiven Gedächtnis. Der Film von Sönke Wörtmann zeigt aber auch, wie 'normal' heute der Umgang mit dieser Erinnerung ist. In dieser Form der "epischen Erzählung" wird der Mythos des "Wir-sind-wieder-wer" zum dramaturgischen Stilmittel. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Die Realität des Fußballs stört auch im Jahre 2006 die Existenz der Hooligans. Sind sie, so fragt Gebauer, die "dunkle Seite" des Sports? Gebauer will die Gewalt der Hools entzaubern, die von einem gewissen "romantisierenden" Aspekt profitieren, der sich aus der schauerlichen Vorstellung des "fleischgewordenen Bösen in der wirklichen Gestalt der Hooligans" nährt. In dieser Form ist der Hooliganismus Teil des Medien- und Sportpektakels: "Mit ihrer Gewalt faszinieren die Hooligans die Öffentlichkeit und erhalten Macht über die Medien - ihr Wunsch nach Gewalt verbindet sich mit der "Geilheit" nach der Vermehrung ihrer Bilder um die ganze Welt." Diese Teil der Medienrealität aber verkennt die "banale Wirklichkeit": Hooligans seien vor allem junge Männer, "die sich von der Zivilisation verabschieden wollen."

Wie weit das Medien-und Sportspektakel von den einstigen Ursprüngen entfernt ist, hinterfragt Gebauer bei der Betrachtung von Spielregeln. Sie sind, so Gebauer, zum Bestandteil des "Kampfes von spielenden Geschäftsleuten" geworden. "Man fragt im Fußball nicht mehr: Was soll ich tun, um die Regel zu erfüllen?, sondern man denkt darüber nach, wie es möglich ist, diese für seine Interessen einzusetzen."

Sind an solchen Stellen die Betrachtungen durchaus anregend, so bleiben andere Themenbereiche nur pflichtschuldig erledigt. Etwas verklemmt wirkt das Kapitel über Frauen und Fußball: da ist von einer symbolischen Verteidigung des Tors die Rede, "rein halten" müsse man es...

Auch das Kapitel "Über das Heilige im Fußball" fasst letztlich nur zusammen, was anderwärts viel schon über den religiösen Gehalt des Fantums gesagt wurde - nichts Neues, zügig rekapituliert.

So ist das Buch insgesamt eine aus gegebenem Anlass verfertigte Aktualisierung sportwissenschaftlicher Erkenntnisse, die zwar seit Langem bekannt sind, indes zumeist nur als ernstferner Akademikerdiskurs wahrgenommen werden.

Gebauers Ausführungen stützen sich auf solide sportsoziologische und -psychologische Erkenntnisse. Das ist bei Wolfram Eilenbergers "Lob des Tores" nicht der Fall. Seine "40 Flanken in Fußballphilosophie" landen im Nichts. Wo hätten sie hingehen sollen? Am besten als Vorlage zu einer klugen Vollendung - jedenfalls soll es, so erläutert uns Marcel Reif in einem kurzen pflichtbewussten Vorwort, eine "zweite Ebene im Spiel" geben, die demjenigen, der "das Spiel liebt und auch das Spiel des Geistes" - ja nun: "das Leben erklärt." Als Beispiel führt Marcel Reif den ehemaligen argentinischen Nationaltrainer Cesar Luis Menotti an, der Spielweisen analysierte und sie ebenso mutig wie plausibel politisch interpretierte: da gab es einen politisch linken Fußball, "das ist der sinnenfrohe, der wagemutige, der grenzüberschreitende und konstruktive, und einen politisch rechten, das ist der ergebnisorienierte, vorsichtige, bewahrende und destruktive." Er tut dem Autor indes mit diesem Vergleich keinen Gefallen. Denn in keiner seiner "spielerischen Versuche" kommt Eilenberger über Belanglosigkeiten hinaus. Statt dessen verhebt er sich, wenn er etwa die rational-effektive Spielweise einer Mannschaft wie Chelsea London und die euphorisch-komplexe Spielweise Arsenals nicht mehr wie einstmals Menotti politisch interpretieren möchte, sondern sie mit Claude Lévi-Strauss als "kalte" bzw. "heiße" Spielkultur bezeichnet. So what? Das wirkt nachgeahmt und aufgewärmt.

Ebenfalls tief will Rainer Moritz schürfen. Doch ist sein Buch "Vorne fallen die Tore" von der Anlage her ein ganz 'anderes' Buch. Moritz betätigt sich als Herausgeber von ausgesuchten Textstellen, die er unter der Überschrift "Von 2697 v. C. bis 2006 n. CH." zusammenstellt und mit kommentierenden Bemerkungen verbindet. Es entsteht ein üppiges Lesebuch. Um einen Anhaltspunkt dazu zu geben, was einen erwartet, sei hier zwar auszugsweise, aber dennoch umfangreich aus dem Quellenverzeichnis zitiert: Da finden sich Textnachweise von Franz Beckenbauer, Oliver Bierhoff, Norbert Blüm, Karl-Heinz Bohrer, Sepp Herberger, Pierre Luigi Collina, Sammy Drechsel, Fritz Eckenga, Per Olof Enquist, Jörg Fauser, Edi Finger und Armin Huaffe, Gunter Gebauer, Roberto Giardina, Günter Grass, René Goscinny, Peter Handke, Klaus Hansen, Ludwig Harig, Eckard Henscheid, Nick Hornby, Bernd Hölzenbein, Franz Kafka, Lothar Matthäus, Bernhard Minetti, Gerd Müller, Vladimir Nabokov, Gianna Nannini Otto Nerz, Albert Ostermaier, Rainer Maria Rilke, Jean Paul Sartre, Toni Schumacher, Friedrich Torberg, Manuel Vásquez Montalbán, Bernward Vesper, Fritz Walter und Ror Wolf...

Nun darf man also stöbern! Und soviel ist gewiss: viel schiefgehen kann da nicht, wenn der Herausgeber mit launigen Kommentaren Jahr für Jahr von Thema zu Thema schwingt: So wie "1976. Wäre Deutschland beinahe Fußball-Europameister geworden... hätte es Ulli Hoeneß nur verabsäumt, beim entscheidenden Elfmeterschießen anzutreten." Und es folgt eine "aparte Reimvariante", die Annemarie Schimmel und Rienhard Umbach einfiel: "Inmitten gewalt'gen Gestöhnes / verschoß den Elfmeter der Hoeneß. Das Spiel ist verloren... / Mit hängenden Ohren/ betrachtet der Trainer, Herr Schön, es!"

So sei zum Ende dieser Rundschau auf das kleine vom herausgebenden Verlag sorgsam schön gestaltete Büchlein "Was ist Sport?" verwiesen. Es versammelt drei Texte des 1980 verstorbenen französischen Philosophen und Schriftstellers Roland Barthes aus einer Zeit, da Sport noch nicht zum selbstverständlichen Sujet der Denkanstrengungen gehörte. So musste auch der kanadische Filmemacher Hubert Aquin Barthes mühsam überreden, für seinen 1961 ausgestrahlten Film "Der Sport und die Männer" den Text zu liefern. Er ist mit Standbildern aus dem Film hier abgedruckt. 1956 und 1957 erschienen die beiden Texte "Die Welt in der man catcht" und "Die Tour de France als Epos". In die deutsche Ausgabe der "Mythen des Alltags", die 1964 erschien, schafften es beide Texte bezeichnenderweise nicht. Erst Mitte der 80er Jahre wurden sie in dem von Gunter Gebauer und Gert Hartleber herausgegebenen Band "Sport - Eros - Tod" aufgenommen.

"Die Tour de France als Epos" ist ein anregender Text, anlässlich der Tour 1955 geschrieben, in dem all das anklingt, dessen sich die Medien alljährlich zu diesem drittgrößten Sportereignis nach Fußball-WM und Olympische Spiele bedienen, wenn sie ihre Inszenierung des großen Dramas vorbereiten. Liest man diesen Text, so erkennt man, aus welchem Fundus die heutigen Berichterstatter über die Tour sich bedienen: die komplette Metaphernsammlung steht hier zur Verfügung. Also die Helden, die Natur, die "homerische Geographie", die dem Ganzen odysseischen Charakter gibt, der berühmte Mont Ventoux, "ein Gott des Bösen, dem man opfern muss". Mit dem "Jump" bezeichnet Barthes jenes "göttliche Geschehen", wenn ein begnadeter Fahrer dem Feld entkommt. Diese, bei den Zuschauern so beliebten wie bewunderten Alleinfahrten, für die Gesamtwertung zumeist unerheblich, werden bis heute von einer Fachjury mit einer speziellen Auszeichnung für den "kämpferischsten Fahrer" bedacht. Von diesem Fahrer unterscheidet sich der dauernde Siegfahrer. Seine Form ist "eher Zustand als ein Elan, privilegiertes Gleichgewicht zwischen den Qualitäten der Muskeln, der Schärfe der Intelligenz und der Willensstärke".

Hier wird ein Erklärungszusammenhang deutlich, der den erfolgreichen Sportler immer auch als Variante des modernen Siegs der Menschheit über die Natur ansieht. In einer Passage des Films "Der Sport und die Männer" über Automobilrennen formuliert Barthes: "Was ein großes Automobilrennen auszeichnet; daß die schnellste Kraft nichts ist als die Summe von Geduld,vom Maß und Subtilität, von unendlich präzisen und anspruchsvollen Handlungen." Es sind die Maßstäbe der rationalisierten Maschinenwelt, die den Sportler zum Sieger machen. Zur Tour de France bemerkt Barthes im Film: "Es ist eine bestimmte Idee des Menschen und der Welt, des Menschen in der Welt, die siegt. Diese Idee ist, daß der Mensch sich voll und ganz durch seine Handlung definiert, und das Handeln des Menschen besteht keinesfalls darin, andere Menschen zu dominieren, sondern die Dingwelt zu beherrschen." Es ist dies allerdings auch die Logik, die in ihrer Konsequenz Doping 'erlaubt' und rechtfertigt.

Schließen wir versöhnlich mit einer Textpassage aus dem Film, die sich dem Fußball widmet: "Schauen ist hier nicht nur leben, atmen, hoffen verstehen, sondern auch und hauptsächlich es sagen, mit der Stimme, der Geste, dem Gesicht; ist die ganze Welt zum Zeugen nehmen: mit einem Wort, ist kommunizieren."


Titelbild

Roland Barthes: Was ist Sport? Der Sport und die Männer.
Übersetzt aus dem Französischen von Hélène Gebauer, Gunter Gebauer und Rike Felka.
Brinkmann & Bose Verlag, Berlin 2005.
100 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3922660932

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Herbert Perl (Hg.): Die verhinderten Weltmeister. Große Unvollendete von Roberto Baggio bis George Weah.
Verlag Antje Kunstmann, München 2006.
240 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3888974305

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Wolfram Eilenberger: Lob des Tores. 40 Flanken in Fußballphilosophie. Mit einem Vorwort von Marcel Reif.
Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 2006.
203 Seiten, 8,90 EUR.
ISBN-10: 3833303611

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Gunter Gebauer: Poetik des Fussballs.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
178 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3593379465

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Rainer Moritz (Hg.): Vorne fallen die Tore. Fußball-Geschichte(n).
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
300 Seiten, 8,95 EUR.
ISBN-10: 3596167426

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