Von Peinlichkeit zu Peinlichkeit

In "Helle Tage" schleicht sich "The Hours"-Autor Michael Cunningham erneut ins Werk eines Weltliteraten

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Cunningham ist ein mutiger Mann. Er hat keine Angst vor großen Themen, schwimmt absichtlich im Fahrwasser großer Namen, und gerät dabei nicht ins Hintertreffen. In seinem Bestseller "Die Stunden" (1998) verrührte er Leben und Werk Virginia Woolfs zu einer Meditation über Alter, Depression, sexueller Ambivalenz und weiblicher Befindlichkeit. Anstrengende Frauen-Frauen mussten hilflos zusehen, wie Cunningham eine ihrer Säulenheiligen zum Mittelpunkt hochliterarischer Fanfiction machte. Mit einer Attitüde, viel zu unbescheiden, als dass der Roman noch als bloße Hommage durchgehen konnte.

Frechheit siegte: Am Ende, als Nicole Kidman in der "Hours"-Verfilmung mit struppigem Haar und Nasenprothese ins Wasser ging, hatte auch die übellaunigste Feministin einen Kloß im Hals. Cunningham hatte hoch gepokert - und gewonnen: Pulitzerpreis, Faulkner-Award, ein Oscar für den Kinofilm von 2002. "Kongenial" ist ein hübsches Wort, doch in diesem Fall greift es fast ein wenig zu kurz: Auf der Schulter von Gigantin Woolf stehend, überragte Cunningham die gute Frau noch um ein ganzes Stück. Und genau diesen Trick versucht er mit seinem aktuellen Roman "Helle Tage" noch ein zweites Mal durchzuziehen. Dieses Mal mit Walt Whitman.

Doch die strukturellen Ähnlichkeiten zwischen "Die Stunden" und "Helle Tage" sind noch die harmloseste Dreistigkeit, die sich Cunningham erlaubt. Wieder gibt es drei in sich abgeschlossene Novellen, die um ein großes Werk (dieses Mal: Whitmans Versepos "Grashalme") kreisen, wieder gibt es seltsame Resonanzen, Parallelen und Motivketten, die sich über ganze Jahrzehnte erstrecken. Und wieder gibt es Figuren, die wie Reinkarnationen von früheren Figuren wirken, lebendig gewordene Romanhelden, Echos einer fernen Vergangenheit. Aber anders als in "The Hours" legt sich "Helle Tage" keine Beschränkungen auf, was Figuren und Handlungsmuster angeht. Whitman mag den Anstoß gegeben haben, doch alles andere kommt dieses Mal von Cunningham selbst.

Der Roman spielt im New York des späten neunzehnten, des frühen einundzwanzigsten und des frühen zweiundzwanzigsten Jahrhunderts. Alle drei Episoden spielen Mitte Juni, kurz vor der Sommersonnenwende, und in allen geht es um einen jungen Mann namens Simon, ein missgebildetes Kind namens Lucas (oder Luke), und eine vom Schicksal gebeutelte Frau namens Catherine (oder Cat, oder Katarin). In der ersten Episode, "In der Maschine", sind Catherine und Simon verlobt, doch kurz vor der Hochzeit wird der irischstämmige Immigrant von einer Maschine im Stahlwerk zerquetscht. Um seine Familie zu ernähren, übernimmt Lucas, Simons missgebildeter Bruder, dessen Arbeitsstelle.

Weil Autor Cunningham von diesem Plot schnell gelangweilt zu sein scheint, erweitert er ihn um allerlei Skurrilitäten: Lucas kann Walt Whitmans "Grashalme" auswendig und plappert unfreiwillig mitten im Gespräch ganze Passagen drauflos. Die arme Näherin Catherine ist nicht nur schwanger, das Kind könnte auch von einem Fremden statt von Simon stammen, der sie nur aus Mitleid heiraten wollte. Die Maschine im Werk scheint irgendwie Simons Seele verschluckt zu haben und singt Lucas mit dessen Stimme einen verführerischen Sirenengesang. Lucas' Mutter rührt sich seit Simons Tod nicht mehr von der Stelle, Lucas' Vater ist apathisch und lungenkrank, Armut und Elend sind mit einem derart dickem Pinsel aufgetragen, dass das Szenario zusehends in Richtung 'paranormal verbrämte Sozialgroteske' kippt. Spätestens, als Walt Whitman dem verzweifelten Jungen am Broadway begegnet und die beiden Worte wechseln, die sich selbst Autoren von Disney-Filmen verbitten: "Ich muss wissen, wohin ich gehen soll", fragt Lucas. - "Geh, wohin dein Herz dich führt", antwortet Onkel Walt.

Teil zwei, "Der Kinderkreuzzug", häuft weitere Irritationsmomente an. Er handelt von Cat, einer schwarzen Polizeitelefonistin, die eine Gruppe Halbwüchsiger davon abhalten will, Passanten auf offener Straße mit Rohrbomben in die Luft zu sprengen. Dabei stößt sie auf eine Verschwörung fanatischer Whitman-Leser, und dieses hard-boiled Detektivabenteuer liest sich- nach der zu dick aufgetragenen Gaslicht-Romantik der ersten Geschichte - wie typisch-banale US-Spannungsliteratur. Wieder gibt es ein missgebildetes Kind, das immerzu "Grashalme" zitiert. Wieder einen etwas verdreht wirkenden Konflikt, der in einer noch viel verdrehteren Auflösung gipfelt. Und wieder stellt sich die Frage: Was soll das denn bitte alles?

Antworten gibt es auch in "Wie Schönheit", dem abschließenden Teil von "Helle Tage", nicht. Stattdessen wird spätestens hier klar, wie grandios vermurkst dieser Roman ist, wie wenig er sich um die Konventionen von Hochliteratur und Lesererwartung sorgt. Und mit welcher Selbstsicherheit Cunningham auch in die schlimmsten Groschenheft-Untiefen vordringt, um seine Motivketten weiterzuspinnen und Whitmans Gedankenwelt wie eine Schablone über ein aus den Fugen geratenes Universum zu legen.

Im 22. Jahrhundert werden die USA von wahnsinnigen Christen regiert, ein nuklearer Holocaust hat den Großteil des Landes unbewohnbar gemacht, und bizarre Echsenwesen vom Planeten Nadia sind auf der Erde gestrandet und bilden die neue Unterklasse. Protagonist von "Wie Schönheit" ist Simon, ein Roboter mit defektem Lyrikchip - er zitiert immerzu Whitman -, der als Gangster-Darsteller im "Alten New York" arbeitet, dem zum Vergnügungspark umgemodelten Manhattan. Als Simons fucking buddy Marcus, ebenfalls ein Androide, unvermittelt von einer Polizeidrohne getötet wird, beschließt Simon, nach Denver zu flüchten, zu seinem Konstrukteur. Katarin, Nadianerin und Nanny der beiden Kleinkinder Tomcruise und Katemoss, begleitet ihn auf seinem Roadtrip durchs postapokalyptische Niemalsland.

Wie gesagt: mutiger Autor, mutige Romane. "Helle Tage" versteht sich selbst als freie Improvisation der Whitman'schen Privatmythologie, und wie unbekümmert Cunningham auch die Handlung aller drei Episoden mit Trivialitäten und Klischees ausstaffiert, Whitmans Themenwelt nimmt er sehr ernst. Es geht um Vergänglichkeit und Metaphysik, es geht um die Seelen der Toten, um Dinge, bis zum Rand gefüllt mit Vergangenheit und Seele. Nichts geht verloren: "Jedes Atom von mir gehört auch dir."

Cunningham verbindet diese Atome zu immer gewagteren - und immer hinrissigeren - Konstruktionen. Doch damit tut er Whitman keinen Gefallen. Um den Kerngedanken von "Grashalme" zu illustrieren, nimmt Cunningham eine Menge psychologisch kaum plausibler Wendungen in Kauf. Von der Idee gepackt, dass der Tod nur eine Rückkehr in den Kreislauf der Dinge darstellt, dass jede menschliche Regung Teil eines beständig changierenden, unfassbar komplexen Mosaiks darstellt, verliert sich das Ensemble aus "Helle Tage" in völliger Beliebigkeit: Alles bedeutet - auf einem höheren, esoterischen Level in der Wahrnehmung der Figuren ebenso wie innerhalb der Logik, mit der Cunningham für den Leser Motivketten knüpft und Themen variiert - immer irgendwie auch gleichzeitig alles andere. Deshalb ist jeder Schritt so sinnvoll wie alle anderen möglichen Schritte. Und eben deshalb macht sich "Helle Tage" keinen Kopf um sein Publikum.

Selten wurde schludrige Narration so schlüssig begründet. Und selten ist Literatur gleichzeitig so ambitioniert und so vollkommen verkorkst. Edeltrash, der auf allen nur denkbaren Ebenen böse klappert: Von den unsympathischen, völlig unmotiviert handelnden Figuren über den jämmerlichen Stil (einmal beschreibt Cunningham das Echsen-Alien Katarin mit "sie war echsenhaft") bis hin zur staksigen Übersetzung, die sich innerhalb eines Satzes die beiden no-gos "Cyberfreak" und "Megatrinkbecher" leistet.

Es braucht eine Menge Bravado, um ein Buch auf die Leserschaft loszulassen, das sich Seite um Seite mit einer derart verbissenen Trotzigkeit selbst unterbietet. Was für atemberaubender, selbstgefälliger, haarsträubender Stuss! "Ich habe mir vor allem bei der Chronologie gewisse Freiheiten herausgenommen und Ereignisse, Menschen, Gebäude und Monumente nebeneinandergestellt, zwischen denen mehr als zwanzig Jahre Zeitabstand gelegen haben mögen", kommentiert (kokettiert!) Cunningham im Nachwort. Dabei ist das noch das geringste Problem.

Frechheit siegt: Michael Cunningham hat schlichtweg jede Regel guten Erzählens außer Kraft gesetzt. Einen Roman geschrieben, der einzig und allein sich selbst verpflichtet ist. Wer zu solcher Kompromisslosigkeit in der Lage ist, für den ist "Helle Tage" allenfalls ein Etappensieg. "Von diesem Autor ist noch eine Menge zu erwarten"? Nein. Von diesem Autor ist künftig ALLES zu erwarten. Bis es soweit ist, bis Cunningham es wagt, nicht nur altbekannte Bögen zu überspannen, sondern gleich völlig neue zu entwerfen, kann man "Helle Tage" getrost ignorieren. Man regt sich doch nur auf. Hut ab vor einem Schriftsteller, der erst gar nicht versucht, eine Antwort darauf zu geben, was er mit seinen verworrenen Ideen überhaupt bezweckt. Die richtige Einstellung zum Weltliteraten hat Cunningham also bereits. Fehlt nur noch alles andere.


Titelbild

Michael Cunningham: Helle Tage. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Georg Schmidt.
Luchterhand Literaturverlag, München 2006.
382 Seiten, 21,95 EUR.
ISBN-10: 3630872255

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