Nach der Orgie ist vor der Orgie

Auch in Matias Faldbakkens Misanthropie bleibt alles beim alten

Von Fabian KettnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Kettner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"What are you doing after the orgy?", so kolportiert Jean Baudrillard in "cool memories", raune ein Mann einer Frau während der Orgie ins Ohr. Was soll nach der Orgie noch kommen, wenn die Orgie die absolute Phantasie, der höchste Exzess ist? Was soll man noch machen, nachdem man alles durchgespielt hat? Baudrillards goutierende Beobachtungen von Gleichgültigkeit, Bedeutungslosigkeit und anything goes stammen aus den 80ern, deren Stimmung Bret Easton Ellis in seinen Romanen stilisierte. Kann es überhaupt noch eine Gegenwart geben, über zwanzig Jahre nach dem Moment, in dem alles am Ende schien? "Macht und Rebel" ist die Beschreibung dieser Gegenwart, des Zeitpunkts nach dem Danach.

Rebel ist an solch einem scheinbaren Endpunkt. Er ist allem überdrüssig: Sex in allen Spielarten, Tabus, Subversion, Distinktion genauso in Politik wie im Style. Wer nichts hat, an das er sich halten kann, der will wenigstens etwas, was ihn in Aufruhr versetzt. "Alles, was mir kein schlechtes Gewissen macht, erscheint mir sinnlos." Aber es gibt auch nichts Schlimmes mehr - meint er. Er hat alle Phantasien, auch die schlimmsten, längst durchgespielt. Nichts berührt oder bewegt ihn noch, er hasst alles und jeden, inklusive sich selbst - und kann auch aus dieser Lage keine exklusive Pose machen, weil er weiß, dass dies bei allen so ist. Der alles Hassende, der Soziopath ist kein Außenseiter, der die Gesellschaft unterliefe. Seine hoffnungslose Lage ist eine allgemeine, in einer Gesellschaft gleichgültiger Toleranz.

Rebel kommt aus dem linken politisch-kulturellen Underground, von dem man schon lange weiß, dass er nicht die Gegenwelt ist, die seine Bewohner in ihm sehen wollen. Seine Kritik wird "durch Umarmung entschärft", seine revolutionären Impulse werden vom Business als neue Trends frühzeitig gepflückt. Die Macher des Undergrounds sind hiervon nicht einfach die Opfer. Diese Szene, die "keine Kompetenz [verlangt], nur den Willen zum Stinkefinger", so dass man in ihr lernt, sich kreativ und improvisierend mit schmalem Budget durchzusetzen, ist deswegen "ein gutes Sprungbrett in Sachen Karriere." Dieser Underground, so Rebel, hat "es verdient, dass ein Haufen Geldsäcke [...] ihn am Arsch kriegt." Rebel arbeitet für einen der Macher, Fatty, einen Nischen-Karrieristen, dessen politische Praxis und nichtkommerzielle Einnahmequelle in der Gegenwart adbusting-Projekte sind, T-Shirts, die bekannte Marken-Logos imitieren und verulken: aus "adidas" wird "badass", aus "PS - PlayStation" wird "SS - SlayStation" usf., alles gesetzt im original Design. Diesem Underground von Style-, Musik- und Trendbewussten, Antonio Negri und Naomi Klein lesenden, theoretisch also dilettierenden no global-Aktivisten möchte Rebel entkommen. Aber wie? Starthilfe gibt ihm die sexuelle Beziehung zu einer seelisch und emotional stumpfen gerade eben Vierzehnjährigen und die Lektüre von "Mein Kampf".

Unter dessen Eindruck verfasst er faschistoide Reden, und einige dieser Reden bekommt zufällig Macht zu lesen, der davon begeistert ist. Macht ist eine der Schnittstellen zwischen Underground und Business, ein ebenso perfektes wie krudes Wesen, das kommunikative Kompetenzen und Anpassungsfähigkeit einerseits mit einer zynischen Distanz zu seiner Klientel (in seinen Worten "die Kulturärsche, Aktivistenärsche, die neoradikalen Bastarde, kritischen Theorie-Penner, die Slumkönige der progressiven Musik, die Bewohner des Sinnstiftungs-Ghettos, des großen Zigeunerlagers von Textproduzenten und Gegenkultur-Ratten") vereint. Auf die Unterarme hat er "Erster Weltkrieg" und "Zweiter Weltkrieg" und auf die Unterschenkel "North Tower" und "South Tower" tätowiert. Er identifiziert sich mit Tod und Zerstörung. Man sieht: Macht ist wirklich heftig. Schließlich entdeckt auch er den Reiz Minderjähriger und nimmt sich die noch jüngere Schwester von Rebels Freundin zur Brust. Zusammen nutzen Macht und Rebel den Auftrag eines Konzerns, das Image der Konkurrenz zu ruinieren, um gleichzeitig Fatty zu vernichten. In einer Schlacht zwischen no global-Aktivisten, von Macht und Rebel instrumentalisierten Immigranten und der Polizei kommt es zu einem gewaltigen, symbolisch total überdeterminierten und verworrenen Showdown.

Wie immer soll man nicht den Autor mit dem Werk identifizieren, die im Buch ausgetragene Misanthropie, den Zynismus, den verbotenen Sex, den Antisemitismus und den Flirt mit dem Faschismus nicht zur Aussage des Autors machen. Bleiben wir bei der Handlung und ihrer inneren Logik.

Anscheinend hat Rebel doch noch nicht alles durchgespielt; offensichtlich ist er doch nicht von allem angenervt und gelangweilt. Was er braucht, ist erstaunlich konventionell: Lolitas und Nazis. Sein Ausbruch ist sehr traditionell; seine neuen Kicks sind die alten; was nach dem Endpunkt kommt, ist die Restitution eines alten Projekts. Der, der rigoros aufräumt, ist gleichzeitig nur der, der sich über sich selbst betrügt. Rebel ist gar nicht indifferent, er hat ein ausgeprägtes autoritäres Bedürfnis. "Ich weigere mich, mir 'eine Meinung zu bilden' oder 'selbständig zu denken' oder 'hinter einer Sache zu stehen'. Ich habe diese Meinungsfreiheitskultur so scheiß über. Ich bitte und bettele darum, gefesselt und geknebelt zu werden." Es ist in der Tat richtig, dass man "nicht noch eine Meinungen absondernde Seele [braucht], die die Leute mit noch mehr Kitsch über Menschenrechte oder Menschenwürde und was noch alles quält." Aber die altbekannte Reaktionsbildung, dass aus der Wut darauf, dass Freiheit misslang und dass diese gerade von denen ad absurdum geführt wurde, die sie sich auf ihre Fahnen geschrieben haben, die Wut auf die Freiheit wird und nicht auf ihre Verhinderung - diese Logik muss man nicht nachvollziehen können. Man wird ihre Konsequenz nur bekämpfen können und müssen.

Heutzutage haben wir die "Zerstörung der Vernunft" (Lukács) schon hinter uns. Rebel vollzieht ihre Stadien im Zeitraffer nach: wie Nietzsche beklagt er, dass die eigentlich Schwachen sich mit Schliche gegen die eigentlich Starken durchsetzen, und er fordert die Anerkennung von angeblicher naturgegebener Ungleichheit ein. An sich selbst kann er nur noch "die letzten Zuckungen der weißen Rasse" feststellen, "kein[en] Stolz, kein Ehrgefühl" mehr. Genau dies meint er bei jugendlichen Immigranten zu finden, die ihn faszinieren wie dunkel gefärbte "blonde Bestien" Nietzsches: "eine Kombi guter Eigenschaften: Hass gegen Autoritäten, sprachliche Freiheit, Mut, natürlichen Oppositionsgeist, physische Überlegenheit und nicht zuletzt aggressive Sexualität." So viele Projektionen brauchen eine große Leinwand. Und genau dazu, im wörtlichen Sinne, macht er ihre Körper.

"Wenn alles am rechten Platz ist, hat man doch keine andere Wahl mehr, als auf das Böse zu harren." Dies ist der Fehlschluss. Denn das Böse, dessen man da harrt, ist allgemein begehrt. Wer der Sympathie für das Böse nachgibt, der spricht der Mehrheit, gegen die zu stehen er meint, aus dem Herzen. Der Tabubruch, sich und seine Immigranten-Gang mit großen, flächigen NS-Symbolen und -Losungen vollzutätowieren ist genau der, der die Mehrheit fasziniert. "Das Hakenkreuz ist wie ein Nike-Logo, das nie aus der Mode kommt [...]. Auf das Hakenkreuz kann man sich verlassen. Es ist und bleibt unbeliebt" - wie wenig das stimmt, das kann Rebel sogar seine tumbe, namenlose Freundin - die nach ihrem aufreizendsten Kleidungsstück einfach nur "Thong" genannt wird - mit Verweis auf ihre Mutter sagen. "Wenn ihr wirklich gehasst werden wollt, müsst ihr mit mir einen auf Nazi machen" - Rebel würde sich wundern; und noch viel mehr, wie sehr und von wie vielen er "wirklich" gehasst würde, machte er einen auf 'Jude'. Wieso er sich überhaupt gegen Fatty und dessen Linke wendet, wenn die mit der Taliban sympathisieren, ebenso antiamerikanisch wie antikommunistisch sind, Israel hassen und mit einer nur leicht geänderten Hitler-Rede zu begeistern sind, das bleibt nicht nur ihm verborgen.

Faldbakken streicht und bürstet all diese Missverständnisse, Verwirrungen und Codierungen sehr amüsant und begabt über- und gegeneinander. Auch wenn ihm der Showdown misslingt, so stellt er immer wieder kleine Wahrheiten her. Wenn er "Gold-Sultan", einer von Rebels Immigranten, tatöwiert mit SS-Runen und "Unsere Ehre heißt Treue", sagen lässt: "Ehre soll heißen, is Gruppe mehr wischtisch als isch, oda ey. [...] Is Gruppe zusammen mehr wert als isch, oda. Will isch wieda Stolz zurück. Is kein Mensch stolz in dies Land. Alles Huren. Is Westen Ort für feige Leute, oda. [...] Ehre is Macht, ey", dann hat er mehr über und gegen die "Toleranzideologie" und den "Vielfaltsfetisch" gesagt als alle Kritiker der political correctness, die sich mit ihren politischen Gegnern in solchen Aussagen treffen.


Titelbild

Matias Faldbakken: Macht und Rebel. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Blumenbar Verlag, München 2005.
351 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3936738165

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