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Literatur und Literaturgeschichte auf CD-ROM

Von Alexandra HildebrandtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Hildebrandt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Hypertext, der Text als Gewebe oder Textur versteht, an der ständig weitergeflochten wird, tieft den Primärtext durch beliebig zu öffnende Fenster nach allen Seiten hin aus. Einzelne Texteinheiten werden innerhalb und außerhalb eines Dokumentes auf assoziative (nicht-sequentielle) Weise miteinander verknüpft. Ein Hypertext-System stellt einen Bedeutungsraum (Hyperraum) dar, den der Nutzer unterschiedlich erschließen kann. Er erhält durch dieses "lernende" System größere Souveränität, d. h. die Möglichkeit, selbst zu entscheiden, was er wann und in welcher Reihenfolge liest ("springendes Lesen") und die Nutzung des Systems seinen Bedürfnissen anzupassen. Ich fasse mit Frank Thissen zusammen (Screen-Design-Handbuch, Berlin, Heidelberg, New York 2000, S. 192): "Mit Hypertext bezeichnet man die Vernetzung von modularisierten Informationseinheiten, die auf dem Bildschirm dargestellt werden. Die Erweiterung des rein textuellen Hypertextes ist Hypermedia, ein Hypertext-System, dessen Informationsmodule neben Text auch noch Bilder, Filme, Animationen und Töne enthalten. Ein wesentliches Merkmal von Hypertext bzw. Hypermedia ist die Möglichkeit der Interaktivität." Hypertext kann nur am Computer gelesen werden, auf Papier verliert sich die Interaktivität der Wahl, d. h. die Möglichkeit, über Mausklick im Hypertext hin und her zu springen. Er besteht aus mehreren Bestandteilen. Der Teil, der Texte u. a. beinhaltet oder repräsentiert, wird als "Knoten" (nodes) oder "Dokument" bezeichnet. Ein Knoten ist eine autonome, abgeschlossene Einheit, die eine bestimmte Information mit Hilfe verschiedener Medien präsentiert.

Typische "Werkzeuge" von Hypertext-Systemen sind graphische Browser (Browsing von urspr. engl. "Grasen von Vieh") zur Unterstützung der Navigation (Bewegung von Knoten zu Knoten) im Hypertext. Sie stellen den Hypertext oder Teile von ihm graphisch dar, zeigen z. B. den Knoten an, den der Benutzer gerade gelesen hat.

Die expliziten Beziehungen (markierte Anschlüsse) zwischen zwei Informationseinheiten (Knoten) werden Bezüge und Verweise, Kanten oder Links genannt. Intelligente Links müssen einen verbindlichen Gesamtzusammenhang ergeben. Links (auch "hotwords" oder "words that yield"), welche die einzelnen Textabschnitte in Relation zueinander setzen, wobei es dem Leser zufällt, die Verbindungen herzustellen, bestehen aus den eigentlichen Links und den "link anchors", den Ankern. Der Benutzer erkennt sie an ihrer symbolischen Visualisierung oder an ihrer typographischen oder farbigen Kennzeichnung. Anker sind die hervorgehobenen Stellen eines Knotendokuments, welche die Verbindung zu einem anderen Knoten markieren, von denen also eine Kante ausgeht. Die Eigenschaft der Anker ist es, die Verweise an der Benutzeroberfläche kenntlich zu machen. Dies kann durch die zur Oberflächenstruktur gehörenden Buttons, eine Spezialform interaktiver (symbolischer) Zeichen, aber auch durch farbige Markierungen (mark-up text) der Hyperwörter geschehen. In einigen Hypertext-Systemen verändert sich der Cursor oder der Mauszeiger, wenn man über die Schaltfläche eines Ankers fährt. Je nach Charakter der Verknüpfung kann er eine unterschiedliche Gestalt annehmen.

Je umfangreicher das Hypertext-System ist, desto größer ist die Gefahr, daß der Benutzer die Übersicht verliert, weil die Bezugsgröße, der Ausgangspunkt der Links, für ihn unüberschaubar ist. Die Einbindung zu vieler Informationen in eine Einheit zerstört gerade die Möglichkeit, Informationen zu gewinnen, wie sich auch im folgenden anhand einiger ausgewählter Beispiele literaturwissenschaftlicher CD-ROMs zeigen läßt. Um dem Gefühl des lost in hyperspace (das Gefühl, im Geflecht des Hypertext-Systems mit seiner Fülle an Links und Navigationsmöglichkeiten verloren zu sein) vorzubeugen, hat man eine Reihe von Werkzeugen entwickelt. Die einfachsten Formen, dem Benutzer anzuzeigen, wo er sich befindet und ihm Informationen über den Aufbau des Hypertext-Systems zu geben, sind hierarchisch strukturierte Inhaltsverzeichnisse und Indizes.

Das Argument, daß ein Kommentar wegen Materialfülle immer nur exemplarisch angelegt werden könne, wird durch Hypertext-Systeme aufgehoben. Der literaturwissenschaftlichen Forschung und Lehre eröffnen sie völlig neue Möglichkeiten, unterschiedliche Themenkomplexe miteinander zu verbinden. Für elektronische Bücher spricht auch die Tatsache, daß man aus Kosten- und Raumgründen kaum so viel visuelle Information in Büchern präsentieren kann wie in elektronischen Büchern.

Das relativ billige Trägermedium CD-ROM soll den Zugang zu immer mehr schriftlich fixierten Lebensäußerungen eröffnen, den Unterricht "revolutionieren" und gerade dem Schüler, Studenten und Laien die Chance geben, sich persönlich Weltliteratur zu leisten - mehr Klassiker, als er in Buchform je erwerben könnte. Den größten Anteil haben Texte aus Klassik und Moderne (kanonisch den Lehrplänen der Schule entsprechend). Da Literatur-CD-ROMs zum Typ der Hypermedia-Programme gehören, wird vom Lernenden erwartet, daß er - seinen individuellen Bedürfnissen entsprechend - frei durch das Themengebiet der CD-ROM navigiert, ohne Rückmeldung über Erfolg oder Mißerfolg seines selbstgewählten Weges zu erhalten.

Die im Verlag X-libris 1996 erschienene CD-ROM "Johann Wolfgang Goethe - Die Leiden des jungen Werthers. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Die Wahlverwandtschaften. Götz von Berlichingen. Egmont Iphigenie auf Tauris. Torquato Tasso. Faust I und II. Lyrik in Auswahl" enthält neben den Hauptwerken Goethes eine ausgewählte Bibliographie mit Verweisen zur Sekundärliteratur, Bildmaterial und Selbstaussagen. Darüber hinaus werden eine Zitat-Galerie mit einer Sammlung philologisch recherchierter Urteile berühmter Schriftstellerkollegen geboten sowie Einführungen zu seinen Werken nebst Kurzinhalten und eine 70minütige Rezitation von Rolf Günter. Teilweise lehnt sich das System an der Buchmetapher an. Im Buch können gelesene Bereiche markiert ("breadcrumps") und mit eigenem Kommentar versehen werden. Neben solchen Features besteht jederzeit die Möglichkeit, Textpassagen beliebiger Länge in das integrierte kleine Textprogramm zu kopieren und in eigene Programme zu exportieren (die bibliographischen Angaben werden automatisch generiert). Leider verfügt das Programm noch nicht einmal über eine die Lektüre am Computer erleichternde Benutzerschnittstelle. Außerdem fehlt die Suchmöglichkeit nach Begriffen oder Motiven.

Das didaktisch orientierte Programm ist also weder für die wissenschaftliche Arbeit noch für die unterhaltende Lektüre am Computer brauchbar.

Die Taschenbuch-Reihe der Reclam Universalbibliothek wird seit 1995 auch als CD-ROM-Reihe mit umfangreichem Leistungsprofil im Niedrigpreissegment von 14, 90 DM und 16, 90 DM in Einzeltiteln publiziert. Das Programm kann hier auch ohne Installation gestartet werden. (Die Anbieter haben inzwischen sehr genaue Anleitungen zur Installation der Software entwickelt, die keinerlei technisches Vorwissen voraussetzen.)

Textgrundlage aller Reclam-CD-ROMs ist die Textausgabe der gedruckten Universalbibliothek inklusive des dort abgedruckten Nachworts bzw. der dort befindlichen Einleitung in Leben und Werk. Zusätzlich zum primären Text befinden sich darin die Wort- und Sacherklärungen der grünen Erläuterungsbändchen nebst Abbildungen. Zusätzlich bringen die CD-ROMs einen Texteditor zum Verfassen kleiner Notizen zu Textstellen, eine Suchmöglichkeit, eine Funktion auf einen gezielten "Sprung" auf eine Seite, die mit der RUB-Buchausgabe identisch ist. Zu den jüngsten CD-ROM-Ausgaben gehören u. a. Goethes Faust I und II (die Textmenge hätte auch bequem auf eine CD-ROM gepaßt), "Götz von Berlichingen", "Iphigenie auf Tauris", Heines "Deutschland. Ein Wintermärchen" und Büchners "Dantons Tod "und Kafkas "Die Verwandlung".

Neben dem Preis besticht das Programm vor allem durch die sehr übersichtliche, leichtverständliche Bildschirmoberfläche (der Einsatz der "Buchmetapher" ist ein sehr effektives Verfahren, um Benutzern die Orientierung und Navigation in einem multimedialen Produkt zu erleichtern). Es ähnelt in seinem Aufbau, seinem Design und seinen Funktionen, die es bietet, Büchern (z.B. Blättern anstelle von scrolling). Auf dem Startbildschirm werden Verzweigungen des Programms in Abbildungsverzeichnis, Arbeitsphasen, Briefzeugnisse, Inhaltsangabe ("menu strategy"), Interpretation, Literaturhinweise, Quellennachweis und Zeittafel angeboten. Die Visualisierung von Inhaltsstrukturen zeigt hier einen engen Bezug zur Darstellung von Metainformationen im gedruckten Buch. Darüber hinaus bieten die Textseiten zusätzliche Möglichkeiten. Die Links sind bidirektional, d. h. der Anwender gelangt von jedem mit Seitenzahlen versehenen Knoten wieder zum Auswahlbildschirm zurück. Die Funktionen erschließen sich dem Anwender relativ problemlos (einen Anfänger wird es hingegen abschrecken, daß der CD-ROM keine Funktionshinweise in gedruckter Form beiliegen).

Neben der Funktion, sich den Text vorlesen lassen zu können (mit den Buttons "Stop" und "Pause"/"Weiter", d. h. Blättern zur nächsten Seite, kann dies im Menü "Werktext" beendet oder unterbrochen werden), kann man auch von hier aus wieder Textstellen suchen und ausdrucken. Aufgrund der hohen Trefferdichte bei der einfachen Suche ist es angebracht, die Begriffe mittels der erweiterten Suche zu spezifizieren. Unterstrichene Stellen weisen Wort- und Sacherklärungen auf, die bei linkem Doppelklick angezeigt werden können. Das Blättern besorgen Pfeile unten rechts. Mittels der ESC-Taste kann im linken oberen Bildbereich ein Popup-Feld oder Popup-Fenster mit nur lesbaren Informationen geöffnet werden (solange, wie die Maustaste gedrückt gehalten wird), das weitere Funktionen anbietet: So kann der Benutzer die ihm wichtig erscheinenden Knoten mit der Maus verschiedenfarbig (Variation bis zu drei Farben) markieren ("breadcrumbs") sowie einen leserdefinierten Fixpunkt bzw. ein Lesezeichen oder bookmark, ein fester Bestandteil der Navigationshilfe, der durch ein "Eselsohr" versinnbildlicht ist, auf die geöffnete Seite setzen. Hier trifft der Benutzer allerdings häufig auf das Problem, die Vielzahl der Lesezeichen zu organisieren und den Überblick zu behalten. Ebenso wie die Markierungen können auch die Notizen (beim Bewegen des Mauszeigers auf ein entsprechendes Feld erscheinen sie leider nicht als Quickinformation) in einem eigenen Menü verwaltet werden. Allerdings ist pro Seite nur eine Notiz, die nicht betitelt werden kann, möglich. Eine gemeinsame Nutzung von Markierungs- und Notizfunktion ist ausgeschlossen. In den meisten Menüpunkten gibt es eine Vielzahl von Hyperwörtern ("Vertiefungswörter"), für die ein separates Fenster geöffnet wird, das Begriffserklärungen, Zitate oder Literaturverweise enthält. Die Abbildungen können über die Schaltflächen "+" und "-" vergrößert und verkleinert werden. Sie lassen sich ebenfalls in eigene Bildbearbeitungsprogramme exportieren.

Obwohl alle Funktionen dieser benutzerfreundlichen, aber für wissenschaftliche Zwecke nur bedingt brauchbaren CD-ROMs mit ein bis zwei Mausklicks erreichbar sind und die Textverarbeitungsfunktionen verwendbar, bestehen ihre entscheidenden Mängel hauptsächlich in der fehlenden Hypertext-Funktion. Zwar sind neben den reinen Primärtexten immer auch zusätzliche Erläuterungen enthalten, doch fehlt die gemeinsame Verknüpfung der primären und sekundären Texte über Hyperlinks ("aktive Verweisverfolgung"). Stoff- und motivgeschichtliche Analysen, stilistische Untersuchungen in mehreren Texten sind mit diesem Programm ebenso wenig möglich wie der Ausdruck der kopierbaren Interpretationen.

Zu den Vorteilen fast aller elektronischen Editionen gehört, daß verschiedene multimediale Komponenten sinnvoll integriert werden können, die in der Printtechnologie nicht möglich wären (z. B. die Kombination nicht nur zeitunabhängiger Medien wie Bild und Text, sondern auch zeitabhängiger Medien wie Ton und Video). Komplexe Strukturen und Datenbestände lassen sich übersichtlich darstellen. Darüber hinaus können Texte, auf die man sich in gedruckten Editionen wegen des beschränkten Raumes immer nur ausschnitthaft beziehen kann, und die so aus ihrem Kontext gelöst werden müssen, nun in ihrer vollen Länge geboten werden können. Allerdings läßt eine Vielzahl der hier besprochenen CD-ROMs noch Spezialisierung und professionelle Qualität vermissen (z. B. fehlender intertextueller Materialreichtum, fehlende Hypertext-Funktion, mangelnde Link-Semantik), welche die Stärken des neuen Mediums ausnutzen. Das hängt u. a. damit zusammen, daß derzeit kaum eine Zusammenarbeit zwischen den kommerziellen Entwicklern und Fachwissenschaftlern besteht. Positiv hervorzuheben sind lediglich die Initiativen der Verlage Directmedia, Stroemfeld und Insel, neue und alte Medien sinnvoll und angemessen miteinander zu kombinieren. Mit ihrem Angebot verschiedener Hybrideditionen wird besonders deutlich, daß hybride Gebrauchsweisen von gedruckten Texten und digitalen Hypertexten im Zeitalter der neuen Informationstechnologien zu einer entscheidenden Schlüsselqualifikation in der Aneignung digitaler Medienkompetenzen werden.

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Johann Wolfgang von Goethe: CD-ROM Faust I und II.
Reclam Verlag, Stuttgart
15,30 EUR.

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Titelbild

Johann Wolfgang von Goethe: Die Leiden des jungen Werthers. Originaltext, Interpretation, Biographie, Materialien. CD-ROM für PC.
Terzio Verlag, München 1998.
4 h, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3932992407

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Titelbild

Johann Wolfgang von Goethe: Götz von Berlichingen. Text vorgetragen von Achim Hübner. CD-ROM für PC.
Reclam Verlag, Stuttgart 1998.
4 h, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3151000274

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Titelbild

Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris. CD-ROM für PC.
Reclam Verlag, Stuttgart 1998.
8,60 EUR.
ISBN-10: 3151000126

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