Die 'hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums'

Gabriele Wolffs Oberkommissarin Weber

Von Joachim LinderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joachim Linder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 1. Mai, der auch noch ein Sonntag ist, steht die Kriminaloberkommissarin Weber an der schönen Leiche eines jungen Mannes und lacht laut auf bei dem Gedanken, dass es immer dann Leichen gibt, wenn sie Sonntagsbereitschaft hat. Folglich müsste das Morden ein Ende haben, wenn nur noch die Kollegen zum Bereitschaftsdienst eingeteilt würden.

Am Montag, dem 2. Mai, wird Frau Weber aus ihrem angestammten Kommissariat für Tötungsfälle in das Kommissariat für Sexualdelikte abgeordnet. Das kann, wie der Leser erfährt, für drei Monate auch gegen ihren Willen geschehen und ohne Zustimmung des Personalrats. "Der erste Fall im neuen Amt" (um J. D. H. Temme, dem Urvater des deutschen Beamten-Krimis die Ehre zu geben) ist die Anzeige eines Mädchens, das behauptet, dass ihr Stiefvater sie sexuell mißbraucht habe. Zwei Fälle, die gleichzeitig zu bearbeiten sind, aber auf den ersten Blick keinerlei Verbindung haben: Das ist ein beliebtes Konstruktionsschema. Am 12. Mai, mit der Lösung beider Fälle, ist klar, dass der eine ohne den anderen nicht zu denken war. Der Roman folgt der Mode, den Verlauf der Zeit in den Überschriften der Kapitel anzuzeigen, als würde ein Tätigkeitsprotokoll vorgelegt, an dessen Ende die geheimen Beziehungen der beiden Fälle offengelegt werden.

Die personale Erzählsituation ist ebenfalls krimi-üblich: Frau Weber ist fünfundvierzig Jahre alt und hat ihr bisheriges Berufsleben im Polizeidienst verbracht. Sie gehört zu der Mehrzahl der Polizistinnen und Polizisten, die nie von der Waffe Gebrauch machen mussten; sie liest Akten und verfasst Aktenvermerke, sie verhört, sie berät sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen, unter denen ihr manche mehr und manche weniger sympathisch sind. Sie hat einen direkten Vorgesetzten, der zu ihr hält und den sie verehrt, gleichzeitig muss sie Kämpfe mit dem jungen Karrieristen ausfechten, der über den Personaleinsatz zu entscheiden hat. Ältere Leserinnen und Leser werden Frau Weber gewiss als eine 'patente Frau' wahrnehmen: tatkräftig, selbstbewusst, teamorientiert, aber nicht ohne Selbstkritik.

Frau Webers wichtigste Bezugspersonen sind die Oberstaatsanwältin Wittkopf, die Weisungen gibt und Fachwissen vermittelt, und der kurz vor der Pensionierung stehende Deutschlehrer, den sie Wolf nennt und mit dem sie eine höchst glückliche Liebesbeziehung verbindet, deren Dauer freilich ungewiss ist, denn schon der große Altersunterschied birgt Gefahren für die 'romantische Liebe'. Man nimmt dankbar zur Kenntnis, dass Frau Weber keine Neigung zur psychologisierenden Reflexion zeigt; es bleibt Leserinnen und Lesern überlassen, diese Konstellation zu deuten: Da Wittkopf und Wolf der Elterngeneration zuzurechnen sind, scheint Frau Weber altersuntypisch in eine künstliche Familie integriert zu sein, in der an der Elternstelle die Geschlechterrollen zudem noch vertauscht sind. Oberstaatsanwältin Wittkopf sorgt für berufliche Orientierung, während der Lehrer und Schriftsteller rekreative Dienste erbringt und (literarhistorisches) Reflexionswissen vermittelt. Doch mit der betonten sexuellen Aktivität des Lehrers erhält diese Vorstellung eine Schlagseite zur Devianz. Das 'Greisenalter' wird körperlich und sozial hinausgeschoben, mit der Pensionierung ist das aktive Leben nicht beendet, die 'Mutterrolle' verbindet sich mit der des Liebhabers. Weber ist Mitglied der Generation, die traditionell die Hauptlast von Erwerb und Orientierungsvermittlung zu tragen hatte, die sich nun aber als Durchgangsstadium zwischen Adoleszenz und Altersaktivität erweist. Gegenüber der Vieldeutigkeit und der potenziellen Dynamik des privaten Bereichs fällt die Statik des 'gehobenen Dienstes' auf, in dem die Aufstiegsmöglichkeiten frühzeitig gekappt werden, während auf der Leitungsebene (dem 'höheren' Polizeidienst) jüngere Akademiker das Sagen haben. So erschließt sich die Kriminalliteratur Konfliktressourcen aus dem Beamtenrecht.

Da die traditionellen Altersrollen verschwinden, verlieren auch die Zeichen, die auf sie verweisen, ihre Sicherheit. Missgriffe der Polizei werden verständlich, wenn die Altersphysiognomie nach Belieben verändert werden kann und sich beispielsweise ein dreizehnjähriges Kind als junge Frau darstellen kann, die ihren Freund und Sexualpartner mit der Offenbarung ihres wahren Alters zur Verzweiflung bringt. Er nimmt es allzu ernst, dass Altersmesalliancen bei Kindern einen kriminellen Aspekt haben. Wo Wandel und Unglück herrschen, braucht die Kriminaloberkommissarin nicht auch noch Verbrechen aufdecken. Das ist kein Manko für einen Kriminalroman, denn es ist stets der Anschein des Verbrechens, der die Ermittlungen in Gang setzt. Keine Regel sagt, dass dieser Anschein sich bestätigen muss.

Doch das Unglück, das Frau Weber im Lauf der Ermittlungen sieht, bringt Figuren aus dem Fundus des 19. Jahrhunderts hervor - den Neurastheniker und die Hysterika, die zudem die Literatur und das Leben auf ganz altmodische Weise verwechseln. Beide stammen aus unvollständigen Familien; der junge Mann, an dessen schöner Leiche Frau Weber das Lachen überkommt, suchte Trost bei E. T. A. Hoffmann (im "Goldenen Topf") und an einer literaturwissenschaftlichen Fakultät, wo der letzte Professor, der die Rolle des Ersatzvaters für ihn hätte übernehmen können, vor der Emeritierung steht. Sie wird durch seinen Tod so traumatisiert, dass sie in die Pseudologie flüchtet und eine Notiz im Tagebuch ihrer Mutter zum 'Drehbuch' für die falsche Anschuldigung des Stiefvaters macht. (Dass es generell problematisch ist, der Literatur Orientierungsfunktionen für den Alltag zuzuweisen, wird Frau Weber im häuslichen Milieu anhand der Frauenbilder bei Schopenhauer und Nietzsche nahegebracht.)

Kein Leser entgeht der Information, dass die Autorin dieses Romans im 'Hauptberuf' Oberstaatsanwältin ist. Frau Wolff hat zudem Interviews gegeben und Essays publiziert, in denen sie den Zusammenhang von Literatur und Leben, von Wirklichkeit und Kriminalliteratur thematisiert und den Krimi zum 'Gesellschaftsroman' nobilitiert, in dem sie Wissen und Erfahrung aus der Arbeit der Strafverfolgung verarbeitet. Man wird noch einmal an E. T. A. Hoffmann erinnert - und an seinen loyalen Freund Julius Eduard Hitzig, der zwar kaum Verständnis für die Fantasie des Kammergerichtsrats hatte, aber keine Gelegenheit verstreichen ließ zu bestätigen, dass Hoffmann Literatur und Amt sehr wohl zu trennen wusste. Trotzdem liest man seine amtlichen Schriften bis heute mit Spannung und Gewinn. Man möchte Frau Wolff wünschen, dass sie wenigstens in ihren Krimis die Zügel des Beamtenrechts schießen ließe, auch wenn dann der Beamtenalltag etwas weniger realistisch ins Bild käme.


Titelbild

Gabriele Wolff: Ein dunkles Gefühl. Kriminalroman.
Haymon Verlag, Innsbruck 2006.
250 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3852184983

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