Ordnung und Unordnung

Evelyn Grills Roman "Der Sammler" liefert einen Scherenschnitt des Grauens

Von Martin A. HainzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin A. Hainz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Abgründen, die in Text gegossen sind, ist es gerade dann, wenn sie drastisch ausgemalt werden, oftmals eigen, von ihrer Theorie schon eingeholt zu sein. Dagegen operiert Evelyn Grill von Ordnungen ausgehend: "Der Sammler" ist, wie der Titel schon vermuten lässt, da keine Ausnahme. Diese Ordnungen aber werden, indem sie geschlossen sind, plötzlich von tatsächlich unabsehbaren Brüchen und Fugen durchzogen - und so wird in der so eleganten, schönen und geradezu fein ziselierten Stilistik dieser Autorin das Grauen real, ist jeder Beschwichtigung uneinholbar voraus. Hier ist das Schöne also wirklich des Schrecklichen Anfang, so ließe es sich mit Rilke klassisch formulieren.

Mit scharfer Klinge wird da ein Scherenschnitt des Grauens in der Ordnung sichtbar, und zwar zweifach - zum einen steht im Mittelpunkt des Buchs ein Sammler, der in seiner obsessiven Ordnungswut das Chaos der Welt erst recht oszillierend aufscheinen lässt, dann aber ist es auch die Verwertung dieses Querkopfs durch die Normalen um ihn, die die Normalität in ein überaus schiefes Licht rückt.

Der Außenseiter namens Alfred Irgang [sic!] zeichnet sich durch einen sprechenden Namen und manische Sammelleidenschaft aus, wird aber von den vorgeblich Normalen geduldet, weil ein kalkulierbarer Abgrund seinen Charakter bestimmt, harmlos, sogar nützlich, insofern sich nicht nur Dadaisten unter Spießern wohlfühlen, sondern umgekehrt bizarre Existenzen die Normalität der sie Umgebenden ja zu fundieren scheinen. Auch ist die Sorge um den Devianten, der seinem Umfeld nicht so leicht ins soziale Netz geht, eine schöne Rechtfertigung des Daseins - und wird dabei aus dem ausufernden Archiv, das "bis in die Verwaltung der Verwahrlosung" (Daniela Strigl) reicht, auch noch eine Installation, ist das ein feiner Mehrwert, für den der nun schon einzig wie eine einigermaßen geglückte Existenz sich ausnehmende Sonderling auch geopfert würde. Dessen Manie, die darin gipfelt, den Zusammenbruch noch der Ordnung zu inkorporieren - konkret Kakerlaken seines Haushalts mitzuarchivieren -, ist freilich pittoresk geschildert:

"Kakerlaken, die so schnell in den Ritzen verschwanden, daß er Mühe hatte, die Insekten zu erwischen und ihren harten Panzer zwischen seinen Fingernägeln zu zerdrücken. Heute erjagte er zwei der Tiere. Zerquetschte sie, was ein krachendes Geräusch erzeugte [...], er legte die beiden Leichen in eine leere Streichholzschachtel, versah sie mit dem Datum und stellte sie neben andere, in denen ebenfalls tote Schädlinge lagen."

Die sind so freilich quasi nobilitiert, jedenfalls für Irgang: "Ich habe kein Ungeziefer in der Wohnung." Freilich wollen seine liebenden Mitmenschen "das Gerümpel, den Schmutz und das Ungeziefer" nicht aufgrund solch neuer Kontextualisierung bewahren, weil Sozialarbeiterin Uta Aufbau und auch Kunstgeschichtler Hugo Bosart (trotz seiner Profession) nicht Boris Groys gelesen haben dürften: Man "kann [...] in keinem Augenblick sagen, ob das Profane [...] 'ursprünglich profan' ist", schreibt jener, das gilt auch umgekehrt. So wird eine Ordnung für eine andere, ökonomischere, aber weniger menschliche und letztlich nicht stringentere geopfert, mit ihr: der Archivar, er hat allenfalls die Wahl, in seiner Existenz oder nur in seiner Essenz getilgt zu werden; und die Freundesrunde wie auch darin die von Eiseskälte umgebene Schriftstellerin Dora Stein wollen und protokollieren dies, wobei die Schärfe der kalten Beobachtung die Autorin als selbstironisches Porträt Evelyn Grills erkennen lässt - und sie zur Komplizin und zugleich Verräterin der mörderischen Sorge um Irgang macht.

So werden nicht nur Artischockenherzen kunstsinnig aufgespießt, "Mortalitätsrate 25 bis 45 Prozent" meint eine Sepsis, könnte aber auch die Menschenfreundlichkeit des Personals bezeichnen, eine gutbürgerliche Inhumanität herrscht hier, wovon sich dann eben auch die Eleganz der Schrift nicht ausnimmt, die nur die Feinheit der Grausamkeit steigert, jedenfalls prima vista: "Je besser der Schriftsteller als Mensch, desto schlechter seine Bücher, sagte Dora", jene Figur, die am ehesten die Poetik Grills formulieren darf... Dann aber ist evident, dass sich mit der Dosis auch die Qualität ändert, so in der Offenlegung der Bigotterie, die mit ihren Urteilen doch mörderisch ist, während tödlich die Pointen und Wendungen dieses Textes nur sind, wenn die Aggressivität des Bloßgestellten nun auf dieses und also sich zurückschlägt.

Aporien werden hier zu Durchgängen, Entitäten zu Sprachbewegung und umgekehrt, es ist die gegenläufige Bewegung, die Manfred Sommer in seinem übrigens gleichfalls dem Sammeln gewidmeten philosophischen Versuch von 1999 so skizzierte, dass es für ein Wort nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich sei, "als Metapher anzufangen und in einer DIN-Definition zu enden" - oder eben in der anderen Richtung von der Norm zum Bild sich zu entwickeln. Und in allem lauert die Stille, auch jene der Zeugin, der "ein großer Teil der Zunge entfernt werden" musste, eine raffinierte Konstruktion unter vielen.

Am Ende klafft der Abgrund über allem: transzendentale Obdachlosigkeit und ein Stil, der diese in jeder Abschattung ahnen lässt. Verstörung vom Feinsten: Evelyn Grill ist eine Autorin, die unbedingt zu empfehlen ist.


Titelbild

Evelyn Grill: Der Sammler. Roman.
Residenz Verlag, Salzburg 2006.
235 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3701714428
ISBN-13: 9783701714421

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