Spannung in der Langsamkeit

Arne Roß beschreibt "Pauls Fall"

Von Carolina SchuttiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Schutti

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Position nehmen Menschen wie Paul in der Gesellschaft ein? Menschen, die Nachmittage verbummeln, kurz angebunden sind, spazieren gehen, essen, grüßen, Grüße aber nicht erwidern? Menschen, deren einzige Aufgabe darin zu bestehen scheint, von ihren Mitmenschen ertragen zu werden? "They also serve who only stand and wait", schrieb John Milton. Besser hätte Arne Roß das Motto für seinen zweiten Roman "Pauls Fall" kaum wählen können.

Auf den knapp zweihundert Seiten geschieht (fast) nichts. Paul, dessen beste Jahre schon hinter ihm liegen, bricht eines Nachmittags mit einem von seiner Frau gebackenen Kuchen auf, er muss "noch ein paar Dinge erledigen". Diese "Dinge" seien "nicht der Rede wert", und das sind sie tatsächlich nicht. Paul stellt fest, dass der Supermarkt geschlossen hat, er unternimmt einen Spaziergang, isst den für einen Bekannten bestimmten Kuchen auf, macht zwei Besuche, kehrt dann pünktlich zum Abendbrot zurück. Pauls Frau heißt G., während die anderen Personen mit ihren Vor- bzw. Familiennamen, teilweise sogar mit akademischem Titel benannt sind. Nur "der Junge" bleibt namenlos. Sie alle, der Protagonist mit eingeschlossen, sind so unscharf gezeichnet, dass jede Figur ein Geheimnis zu haben scheint. Zwischen den Zeilen, im Kopf der Leser ereignet sich letztendlich mehr, als die karge Handlung zunächst vermuten lässt.

Diese berechnende Unschärfe, die kaum erträgliche Ereignislosigkeit wurde bereits vor zwei Jahren gewürdigt, als die ersten beiden Kapitel dieses Romans mit dem "Preis der Jury" bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur 2004 in Klagenfurt ausgezeichnet wurden. Arne Roß, 1966 in Hamburg geboren, Schriftsteller und Leiter von Schreibwerkstätten, wohnhaft in Berlin, war zu diesem Zeitpunkt bereits kein Unbekannter mehr. Sein erster Roman, "Frau Arlette" (1999), erhielt den Preis für das beste deutschsprachige Debüt 1999.

Was zeichnet die Prosa von Arne Roß aus? Warum fällt es so schwer, dieses Buch anders als in einem Zug zu lesen? Leitmotive, die auf etwas Unheimliches hinzudeuten scheinen, umso mehr, als dass sie sich zunehmend verdichten, verschränken, einer geheimen Logik zu folgen scheinen, sind eines der Mittel, die Roß gekonnt einsetzt. Der Keller, bellende, kranke bzw. tote Hunde, Tiefflieger, stechende oder tote Insekten, in der Beweglichkeit eingeschränkte Arme bzw. Hände, schwankendes Gehen, Anspielungen auf ein religiöses Umfeld werden auf diese Weise mit Bedeutung aufgeladen und schaffen zugleich eine Verbindung zwischen den Figuren. Eingeflochten in die Motivketten sind surreal anmutende Begegnungen Pauls, die scheinbar emotionslos hingenommen werden: Er trifft einen getarnten, radiohörenden Soldaten, beobachtet einen Laternenzug, unterhält sich in der Dunkelheit mit einem ,Hundemenschen'.

Ein zweites Moment, das die Geschichte im spannenden Schwebezustand hält, sind die paradox erscheinenden Ortsverhältnisse und Zeitangaben. Obwohl zahlreiche konkrete Angaben zu Pauls Umgebung gemacht werden, Uhrzeit und Datum einen zentralen Stellenwert haben, lässt sich Pauls Umfeld nirgends festmachen. So treiben wir mit ihm durch den Nachmittag, ohne zu wissen, wie die Neubausiedlung, der See, die Herbstmanöver, der Atomunfall miteinander in Einklang zu bringen sind. Wir erschrecken beinahe, wenn wir lesen, dass Paul nach seinem scheinbar unendlich langen Ausflug pünktlich wieder zuhause ist. Wir begleiten Paul nicht entspannt. Sogar die Ameisen, die sich über die Kuchenbrösel hermachen, scheinen eine verborgene Bedeutung zu haben, Bedrohung scheint überall zu lauern, ohne, dass ein Grund dafür auszumachen wäre.

Wird Pauls Verhalten Konsequenzen haben? Dass er den als Geschenk gedachten Kuchen selber isst? Sein Besuch bei Ingeborg, deren Verhältnis zu Paul im Dunkeln bleibt? Der Pilzgenuss? Auf jeden Fall verändert sich die Sicht des Lesers auf den eigenartigen Protagonisten, ein Umstand, dessen man sich erst am Schluss bewusst wird.

Zuweilen fühlt man sich an Beckett erinnert, eventuell auch an Kafka. Alles scheint um etwas Un-fassbares zu kreisen, Motive verweisen mehr aufeinander als auf einen Gegenstand. Mehr Fragen werden aufgeworfen als beantwortet. Eigenartiges passiert in einem an sich ereignislosen, emotionsarmen Umfeld. Ein Beziehungsgeflecht wird angedeutet, doch nicht weiter kommentiert. Psychologische Abgründe scheinen hinter jedem kleinen Detail verborgen, unter der Erzählebene lassen sich bedrückende Geheimnisse vermuten.

Meisterhaft versteht es Arne Roß, in der Langsamkeit und Ereignislosigkeit, dazu in einfacher, schlichter Sprache eine beinahe unerträgliche Spannung aufzubauen. Viel gibt es zu entdecken, vor allem, was die Struktur und die Sprache betrifft. Auch wenn der Protagonist ein alter Mann ist - "Pauls Fall" ist definitiv mehr als ein Roman über das Altern.


Titelbild

Arne Roß: Pauls Fall.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
192 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3895612111

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