Meide die Frau

Matthias Polityckis Umwege zu Marietta

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das ist ja beinahe schon Inzest: Gregor Schattschneider macht sich an Marietta heran, die Frau seines verschollenen Ex-Freundes und Ex- Vorgesetzten Eckart Beinhofer, mit dem er sich um die Urheberschaft des "Weiberromans" streitet: Jenes Romans, dessen Fortsetzung "Ein Mann von vierzig Jahren" (kurz "Marietta") in gewisser Weise darstellt.

Nach Kristina aus Lengerich, Tania aus Wien und Katarina aus Stuttgart nun also Marietta aus Feldafing bei München, wo sie mit ihrem Sohn und Tugendwächter Carlo die Villa Hasenpusch bewohnt und einen Salon unterhält, "um sich einmal pro Monat ihren großen Auftritt zu verschaffen". Gregor Schattschneider ist jedenfalls schon bei seinem Antrittsbesuch hin und weg. Unwohl gekleidet in einen grünlich schimmernden Anzug, vermutlich Cord, läßt er sich von Marietta verzaubern. Dabei ist diese Frau nicht gerade schön, im Gegenteil, sie ist "geradezu unschön, um nicht zu sagen: erschreckend unschön". Ihre Finger sind lang und knochig, das Nagelbett ist abgekaut, die Wangenknochen springen vor, alles wirkt groß, hager und knochig, die Nase ebenso wie der ganze Knochenbau. Marietta kneift die Augen zusammen, als sei sie kurzsichtig, ihre Stimme klingt am Telefon so, "als trüge sie eine Brille". Außerdem raucht sie. Gleichwohl liegen ihr alle zu Füßen, gurren um ihre Aufmerksamkeit. Marietta ist "eine dieser notorischen Mittelpunktsfrauen".

Auch Gregor muß ihr erliegen. Das Schöne an Gregor ist, daß man ihn auf keinen Frauentyp festlegen kann. Nicht auf die blonde Friseuse aus Gelsenkirchen, nicht auf die speckige Taxi-Fahrerin von der Bockenheimer Warte, nicht auf die intellektuelle und nicht auf die exotische Frau. Derzeit hat er eine Fast-Beziehung mit Mascha, einer als Studentin eingeschriebenen, halblegal als Stripperin arbeitenden russischen Seele. Mascha erweist sich als ziemlich ungelenke Kitschnudel, die sich von Gregor die Ehe verspricht - und ein Haus voller Kinder.

Das ist naturgemäß nichts für Gregor Schattschneider. Das Geheimnis seiner Frauengeschichten ist das, was Kant die "Bedingung der Möglichkeit" nannte. Seine Sehnsucht, heißt es an einer Stelle, gelte allein der Bedingung der Möglichkeit, nicht ihrer Realisation. Die Erfüllung der Liebe, die "Verfügbarkeit" der Frau, macht jede Beziehung uninteressant. Deshalb auch ist Gregor kein stürmischer Eroberer. Er ist, das Beispiel Kristina hat es uns bewiesen, ein Zauderer und Verhinderer. Einer, der sich laufend selber Hürden in den Weg stellt. So auch im Falle Mariettas. Schattschneider, im Hauptberuf "Klappentexter", privat ein heimlicher Möchtegern-Autor, der am großen deutschen Roman arbeitet, vermasselt gründlich seinen Auftritt in Mariettas Salon. Im programmatischen Teil dieses Abends soll er eine Kostprobe seiner Klappentexterei abliefern - und vergreift sich im Ton. Gregors frecher Text auf Marietta wird von ihr durch eine schallende Ohrfeige gewürdigt. Aus die Maus.

Dies ist der Beginn einer Beziehung, über deren Laufrichtung hier nichts verraten werden soll. Sich selbst im Weg zu stehen, sich die Tour zu vermasseln, kein Fettnäpfchen auszulassen ist ein Spezialität von Polityckis Figuren. Der Weg ist das Ziel, und auf diesem Weg ist jedes retardierende Moment recht. Auch das Erzählen selbst ist geprägt von solchen Strategien der Verzögerung, Verlangsamung, ja Verhinderung. Sie sind mit ursächlich für die unerhörten Manierismen dieser Prosa, die sich ziert und windet, die wie eine Springprozession ewig nicht vorankommen will. Und das ist, merkwürdigerweise, durchaus spannend. Spannend, weil das Ziel und die vielen kleinen Zwischenziele immer schon vorgegeben sind und erahnt werden können. Der Leser ist beteiligt, weil er gut geführt wird.

Wie schon Polityckis "Weiberroman" (1997) wird auch "Marietta" von einem (fiktiven) Herausgeber betreut und kommentiert. Bewunderung, Konkurrenz, Anmaßung kennzeichnet das Verhältnis des Herausgebers zum Autor. Die "Anmerkungen zu Marietta" bestehen aus Invektiven und Retourkutschen gegen Schattschneider, aus mehr oder weniger hilfreichen, mehr oder weniger irreführenden Ergänzungen und Erläuterungen, aus Korrekturen von und Kommentaren zu Gregors Blick auf die Welt, aus halb versteckten und halb offenbaren Referenzen an den (realen) Literaturbetrieb. Matthias Politycki baut eine Fiktion auf, um sie laufend zu durchbrechen. Schon die erste Seite läßt sich als Zitat verstehen, als Hommage an die späten Typoskript-Bücher von Arno Schmidt. Zwar fehlen ihr die Kolumnen, aber ein schwarzer Balken ist da, wo ursprünglich Text stand. Die Platzierung (neuerdings mit ›tz‹) der Satzzeichen erfolgt eigenwillig, das "und" ist gelegentlich und regelwidrig durch das Et- Zeichen ersetzt ("Hin & Her"), Eigenwilligkeiten in der Rechtschreibung tendieren zum ikonischen Zeichen - nicht unbedingt schon auf dem ersten Blatt, aber auf den sich anschließenden 380 Seiten bis zum Schluß. Wie Arno Schmidt hat Matthias Politycki als experimenteller Autor ("AusFälle", München 1987) angefangen, wie dieser arbeitet er nach dem Zettelkasten-Prinzip, nur spricht er von "Romanschnipseln".

Zwei Begabungen des Schriftstellers werden hier erneut sichtbar. Zum einen das Talent für die Wiedergabe (oder Erfindung) von Dialekten. Eine schwierige Kunst, bei der Autoren leicht baden gehen. Im "Weiberroman" war es das Wienerische, in "Marietta" ist es das Münchnerische, das vom Autor überzeugend nachempfunden wird. Davon profitiert seine Kunst, Dialoge zu bauen. Die andere Begabung betrifft das Gespür des Verfassers für Zeitgeistiges. Wer dereinst etwas über die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts erfahren möchte, der wird bei Politycki fündig werden. Was wird er finden? Zum Beispiel die Unsitte, in "Big Brother"-Tagen tritt sie hervor, sich den Körper mit Tattoos zu verschandeln; bei Politycki heißt das schmuddelige Tattoo-Studio im Souterrain "Pleasure & Pain". Sodann die exponentielle Vermehrung der Rucksäcke, die plötzlich auch noch Tierform annehmen. Ferner die Tamagotchi- und die Handy-Mode, E-mailing und Internet. Schließlich die "Themenabende" in den Kneipen, das Marianne Rosenberg-Special, die Schlager der Sechziger oder Bob Dylan´s Night. Manchmal wird es fast ein bißchen viel, aber ich will hier nicht meckern, getreu dem (fast) letzten Satz: "Weis wuaschd is!"

Titelbild

Matthias Politycki: Ein Mann von vierzig Jahren.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000.
464 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3630870635

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