Und abermals krähte der gallische Hahn

Ein Sammelband von Gerhard Höhn und Bernd Füllner untersucht die "Sternstunde" deutsch-französischen Ideentransfers im Vormärz

Von Bernhard WalcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Walcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In französischen Bonmotsammlungen vor allem des 17. Jahrhunderts wird der "Deutsche" bisweilen als roh, ungebildet, esprit- und geschmacklos beschrieben. So verwundert es gar nicht, dass dieses 'Germanenbild' auch fester Bestandteil französischer Redensarten wurde und man der Vermutung, gerade für dumm verkauft worden zu sein, mit der für Deutsche wenig schmeichelhaften rhetorischen Frage "Vous me prenez pour un Allemand" Ausdruck verlieh. In der Tat waren die "bilateralen" Kulturbeziehungen zwischen Deutschen und Franzosen in den vergangenen Jahrhunderten nicht immer von so großer Hochachtung gegenüber der Lebensart und den künstlerischen wie philosophischen Leistungen des Nachbarn jeweils jenseits des Rheins geprägt wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders seit dem "zweiten Krähen des gallischen Hahns" (Heine), also seit der Julirevolution 1830. In dem von Gerhard Höhn und Bernd Füllner herausgegebenen achten Jahrbuch (2002) des "Forum Vormärz Forschung" (FVF) sind insgesamt 12 Beiträge versammelt, die sich mit dieser "Sternstunde" des deutsch-französischen Ideentransfers in der Zeit des Vormärz' befassen.

Das "Forum Vormärz Forschung" gehört heute zu den renommiertesten Publikationsorganen für Beiträge zur Erforschung der Vormärzliteratur. Die Themenschwerpunkte der seit 1996 regelmäßig erscheinenden Jahrbücher des Forums bieten nicht zuletzt auch durch die interdisziplinäre Ausrichtung der einzelnen Beiträge grundlegende und erhellende Einsichten sowohl in epochenrelevante politische Entwicklungen und Tendenzen ("1848 und der deutsche Vormärz", Jahrbuch 3, 1997) und Profilbildungen einzelner Gattungen und Institutionen ("Journalliteratur im Vormärz", Jahrbuch 1, 1995; "Theaterverhältnisse im Vormärz", Jahrbuch 7, 2001) als auch in Schreibhaltungen und Motive ("Literaturkonzepte im Vormärz", Jahrbuch 6, 2000) sowie Rezeptionsformen und -muster von Literatur der "Kunstperiode" ("Goethe im Vormärz", Jahrbuch 9, 2003). Ergänzend dazu erscheinen in unregelmäßigen Abständen Bände der ebenfalls zum "FVF" gehörigen Reihe "Vormärz-Studien", in denen bisher vor allem einzelne Repräsentanten des Vormärz' wie Georg Weerth, Willibald Alexis, Karl Gutzkow und Ludwig Börne, aber auch Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit Klassik, Romantik und 'Nachmärz' behandelt wurden.

In der Einleitung des hier vorliegenden achten Jahrbuchs verbindet Gerhard Höhn eine Typologie der epochenspezifischen Erscheinungsformen deutsch-französischen Ideentransfers seit der Aufklärung, den er als "vernunftbestimmtes Korrektiv zur lauten Staatenpolitik" begreift, mit einer Analyse der politisch-sozialen aber auch literarhistorischen Konstellationen, die als Verständnisgrundlage für jene "Sternstunde des Gedankenaustausches" und "Sonderstellung der Jahre 1830-1848" dienen sollen. Den Namen Johann Christoph Gottsched sucht man in diesem Abriss allerdings vergeblich, obwohl er wie kein anderer die deutsche Literaturszene seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts dominierte und nicht nur als der bedeutendste Apologet des klassischen französischen Dramas eines Corneille und Racine, das er in seinen theaterreformatorischen Schriften zum Vorbild für die deutsche Bühne erhob, sondern auch als Übersetzer Pierre Bayles und mit Alamode-Kritiken literarhistorisch in Erscheinung getreten ist.

Die übergreifende Perspektive des Bands wird noch einmal differenziert, indem die einzelnen Beiträge drei unterschiedlichen thematischen Schwerpunkten zugeordnet sind: 1. "Literarischer Transfer" (sechs Beiträge), 2. "Künstlerischer Transfer" (zwei Beiträge) und 3. "Philosophischer Transfer" (fünf Beiträge). Zwar erscheint diese Gliederung auf den ersten Blick sinnvoll, doch drängt sich die Frage auf, ob die Konzeption der Bereiche tatsächlich als durchdacht bezeichnet werden kann. Nicht allein deswegen, weil die zweite Abteilung ("Künstlerischer Transfer") nur zwei Beiträge enthält.

Die Studie von Michael Werner ("Deutsch-französische Verflechtungen im Pariser Musikleben der Julimonarchie") liefert eine knappe Sozialgeschichte des Musikers seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, konzentriert sich aber hauptsächlich auf die Analyse und Interpretation des Anteils, den die "Verdeutschung" der Pariser Musikszene - also die in Paris lebenden und wirkenden deutschen Musiker - auf den von Werner diagnostizierten "Strukturwandel" des musikalischen Lebens seit der Julirevolution hatte, als dessen Hauptmerkmal er die mit der Verehrung und 'Heroisierung? Beethovens und Bachs einhergehende "Verschiebung der Gattungshierarchie" bezeichnet.

Den zweiten Beitrag in dieser Rubrik von Elisabeth Décultot ("Die französische Rezeption deutscher Ästhetik, 1830-1848") liest man mit großem Interesse. Allerdings muss die Frage erlaubt sein, warum dieser Aufsatz denn nicht unter den "Philosophischen Transfer" fällt. Die Frage stellt sich umso mehr, als Décultot gerade auch die Widerstände gegen und Parteinahmen für eine Anerkennung des um 1750 von Baumgarten eingeführten Begriffs als philosophischer Kategorie darstellt. In Frankreich wurde er zwar als direkte Übersetzung aus dem Deutschen ("Esthétique") in den Wörterbüchern vermerkt, fand aber bezeichnenderweise keine Aufnahme in Diderots und d'Alemberts "Encyclopédie" und wurde verstärkt erst um 1830 rezipiert. Décultot legt diese Rezeptionsstränge auseinander, deren Anfangspunkt die französischen Übersetzungen von Hegels "Vorlesungen zur Ästhetik" nach der Hotho-Ausgabe (1835-38) durch den Philosophen und Cousin-Schüler Charles Bénard markieren. Übertragungen der "Kritik der Urteilskraft" ebenfalls von einem Schüler Victor Cousins, Jules Barni, und von Schelling'schen Texten folgten.

Die Verspätung der Rezeption scheint indessen mit Hinweisen auf die in Frankreich 'theoriemächtige' Institution der Akademie und teils 'national' geprägte Abwehrmechanismen gegen einen als "urdeutsch" empfundenen Begriff nicht hinreichend erklärt. Entscheidender für die dann im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einsetzende Rezeption ist wohl der persönliche Kontakt der französischen Vermittler mit den deutschen Philosophen und Dichtern vor dem Horizont im Kern ähnlicher, wenn auch bei den praktischen Umsetzungvorstellungen differerierender politisch-liberaler Zielsetzungen. Insofern liest sich der Beitrag von Michel Espagne ("Von der Philologie zur Naturphilosophie. Victor Cousins deutscher Bekanntenkreis") als hervorragende Ergänzung zu den Überlegungen Décultots und verleiht der Thematik einen zusätzlichen, an eine Person gebundenen Rezeptionsstrang deutscher Philosophie in Frankreich. Es ist kein Zufall, dass alle oben genannten Philosophen und Übersetzer von Hauptwerken deutscher 'Kunstphilosophie' Schüler Victor Cousins waren. Der spätere Pair von Frankreich war seit 1830 als Staatsrat, Professor an der Sorbonne und Direktor der Ecole normale eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des intellektuellen und institutionellen Lebens in Frankreich. Ausschlaggebend für seine Rolle als Initiator für die Rezeption deutscher (idealistischer) Philosophie und Ästhetik war seine Deutschlandreise im Jahr 1817, auf der er in Heidelberg Hegel - der ihn zehn Jahre später in Paris besuchen sollte -, in München Schelling und Jacobi und in Weimar schließlich auch Goethe kennenlernte.

Neben den großen Namen wie Heine, die sich gemeinhin mit dem Thema deutsch-französische Beziehungen verbinden und dem gleich zwei Beiträge gewidmet sind (Joseph A. Kruse: "Deutsch-französische Erfahrungen und / oder Erfindungen. Heines Besucher in Paris von 1831 bis 1848"; Madleen Podewski: "Das Subjekt zwischen zwei Nationen. Figurationen von Interkulturalität in Heinrich Heines 'Ueber die französische Bühne'"), begegnet man auch unbekannten 'Germanophilen' wie etwa in Ingo Fellraths Studie der Goethe-Übersetzerin Baronin Carlowitz.

Inge Rippmanns Überlegungen zu "Börnes europäischer Vision" stellen nicht nur einen Beitrag zu der in letzter Zeit erfreulicherweise angewachsenen Börne-Forschung dar, sondern heben auch die Sonderstellung Paris' als Stadt deutscher Exilanten hervor. Bevor Walter Benjamin die Metropole an der Seine zur Welthauptstadt der Moderne ausgerufen hat, scheinen in Börnes Bewertung von Paris als dem idealen Ort der Geschichtsbetrachtung ganz andere Qualitäten der Stadt durch, die so gar nichts mit der modernen Parissehnsucht zu tun haben, sondern einem Interesse an geschichtsträchtigen und geschichteschreibenden Orten geschuldet sind. Wenn Börne 1819 über Paris schreibt, die Stadt sei das "Register der Weltgeschichte, Telegraph der Vergangenheit [und] das Mikroskop der Zukunft", so ist das einerseits eine politisch-geschichtsphilosophische Bedeutungsaufwertung und Vision einer Stadt, die ja nach den Karlsbader Beschlüssen und dem Schreib- und Publikationsverbot zahlreicher Autoren nach 1835 für viele Deutschte zur Heimat und damit zum Schmelztiegel liberal gesinnter, nicht nur deutscher Dichter, Philosophen und Politiker wurde.

Andererseits - und das wäre hier anzumerken - findet sich die Betonung einer coincidentia oppositorum als Ausdruck der Wertschätzung auch in Texten, in denen es um die Faszination Roms geht, das im Horizont des aufkommenden Historismus Anfang des 19. Jahrhunderts, vor allem aber nach 1848, in der Forschung gemeinhin als (geistiger) Rückzugsort der resignierten oder resignierenden, ehedem aber doch liberalen Autoren angesehen wird. So haben noch Fanny Lewald und ihr Reisegefährte Adolf Stahr in ihrem 1869 erschienen Reiseerinnerungen "Ein Winter in Rom" diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gerühmt - freilich unter anderen Voraussetzungen und mit anderen Intentionen, als das Börne für Paris getan hat.

Eine Geschichtslandschaft konstituieren auch die unzähligen Dichtungen und Beschreibungen des Rheins, in denen sich wie bei kaum einem anderen Motiv literarische Produktion und politische Agitation vereinen und verdichten, was Bernd Kortländer in seinem eindrucksvollen und quellenreichen Beitrag ("Diesseits und jenseits des Rheins. Das Bild des Rheins in Deutschland und Frankreich") darlegt.

Angesichts des breiten thematischen Spektrums der Beiträge, die ja selbst nur eine Auswahl aus einer enormen Fülle von am philosophischen und literarischen Diskurs der Zeit beteiligten Repräsentanten darstellen, wäre es vermessen, die Frage nach Sinn und Unsinn dieser Auswahl zu stellen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil andere Jahrbücher des FVF diese vielleicht hier auf den ersten Blick fehlenden Namen und Themen durchaus behandeln. So ist es nicht so sehr als Kritik, mehr als Ausdruck eines Gesamteindrucks zu verstehen, wenn hier das Fehlen einer Rubrik oder auch nur eines Beitrags zum umfangreichen historischen Schrifttum der Zeit angemerkt wird. Neben Börne und Heine, die, das ist wenig bekannt, die Absicht hegten, Revolutionsgeschichten zu schreiben - wohlgemerkt der Französischen Revolution von 1789 - seien hier nur die kompendienartigen Großwerke zur Französischen Revolution von Friedrich Christoph Dahlmann (1845) und Wilhelm Wachsmuth (1840-44) genannt, die einen nicht unerheblichen und aussagekräftigen Beitrag zum deutsch-französischen Ideentransfer darstellen.

Noch im Jahre 1904 hat Hermann Rollet die historische Verbundenheit und - beileibe nicht immer bruchlose - Allianz beider Länder, die sich in der historischen Rückschau durchaus als Motor der Geschichte bezeichnen lässt, in jene eingängigen Verse gebracht, mit denen gleichsam eine Transferrichtung zwischen Deutschland und Frankreich abschließend genannt ist, die als Motto des Bands hätten dienen können: "Als in den Julitagen / Paris in Flammen stand, / Da hat der Brand geschlagen / Weit in das deutsche Land".


Titelbild

Gerhard Höhn / Bernd Füllner (Hg.): Deutsch-französischer Ideentransfer im Vormärz. Jahrbuch Forum Vormärz Forschung: Band Bd 8/ 2002.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2003.
486 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3895284068

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